Bo Juyi (Bai Juyi) 白居易

Gedicht auf die Ferne durchmessenden Berghäupter im Fenster 窗中列遠岫詩

Übersetzung: 

天靜秋山好,

窗開曉翠通。

遙憐峰窈窕,

不隔竹朦朧。

萬點當虛室,

千重疊遠空。

列檐攢秀氣,

緣隙助清風。

碧愛新晴后,

明宜反照中。

宣城郡齋在,

望與古時同。

Stilles Wetter, herbstlich milde Berge;

Offnes Fenster, smaragdgrün schon frühe.

Weit von hier gefallen mir die Gipfel,

Nicht verstellt durch Bambus in der Nähe:

Unzählbar gleich um die leere Wohnung,

Stuf’ um Stufe in die fernste Höhe!

Unter Traufen sammelt sich die Frische;

Durch den Hag haucht manche kühle Böe.

Türkis, lieblich, mit den ersten Strahlen;

Helle, freundlich, noch im Abendglühen:

Im Gelass der Präfektur von Xuancheng

Gleicht so mein Blick dem derer von Früher.

Kommentar

Schon im Titel begegnet der Leser dem Hinweis auf eine besondere Raumstruktur, die den Versen Momentum verleiht. Das Fenster (chuang) ist nicht ein Ort, an dem das Sprecher-Ich sich zufällig aufhält. Es ist eine Schleuse geistiger Energien, durch die deren Übergang von der Leere des inneren zur Fülle des äußeren Raums und umgekehrt ermöglicht wird. Berge, derer der Fensterblick zunächst gewärtig wird, sind per se Wahrbilder der Fülle. Wolfgang Kubins „durchsichtiger Berg“ (kong shan) ist es umso mehr als er in der Dichtung Wang Weis (699-759) dem gereinigten Bewußtsein, das sich aus menschlichen Versprechungen gelöst hat, allein gegenüber tritt. „Durchsichtig“ sind nur die herbstlichen und winterlichen Berge, deren Wälder kaum oder kein Laub tragen. Die Berge im Fenster Bos erscheinen dennoch „smaragdgrün“ und das wegen der Entfernung, aus der sie sich in den Ausschnitt fügen. In der Nähe umfaßt sie nicht allein der Rahmen der Fensteröffnung, auch der Bambushag, in dem die Behausung liegt und der sie beschattet, öffnet eine Schneise, durch die das entlegene Äußere zum Teil des Innenraums wird, die Welt der „unzählbaren“, vielfach „gestuften“ Fernen in die Leere eines Gelasses ragt.

Dieses „Gelass“ (zhai) benennt die Übersetzung durch ein heute altmodisches, bzw. aus dem Gebrauch gekommenes Wort. Sie meint damit einen Ort, der in der ihm wesentlichen Eigenschaft – seiner Nutzlosigkeit – kaum noch in der heutigen Welt, also auch nicht in der Sprache, aus der diese sich konstituiert, platzfindet. Die heute vertrauter klingenden, alternativen Benennungen „Studio“, „Lesezimmer“ o.ä. lassen unmittelbar an Arbeit, bzw. an zweckdienliche Nutzung denken. Ein Studio oder Lesezimmer als „Freizeitraum“ mitten im Amtsgebäude einer Präfektur wäre wiederum aus heutiger Sicht schwer vorstellbar; man würde dergleichen in Privathäusern vermuten. Die Umschreibung „kleiner, dürftig eingerichteter Raum“, die der Duden für Gelass gibt, trifft mit dem Sinnkern des sinitischen Wortes zhai  齋, das hier sicher eine „Stube“, aber nicht etwa die gute, sondern eben eine für gar nichts gute bezeichnet, eng zusammen. Aus einem solchen Leerraum findet der Blick Gefallen an „Gipfeln“ und „fernsten Höhen“, in ihm läßt der Bambushag ruhig seine Frische einatmen, durch ihn gleiten Glanz und Schatten der Tages- und Nachtzeiten in dauernden Wechselströmen. Es ist ein scheinbar durch Zufall gegebener Ort zeitlicher Entgrenzung, an dem der Augenblick im Metrum „derer von Früher“ steht. Diese Gebirge-und-Gewässer-Landschaft ist ein Zeitgeschehen, in dem sich – buddhistisch inspiriert – das dualistische Weltkonstrukt, in dessen Geist die sprachlichen Formen der klassischen Dichtung fungieren, auflöst.    

Das ist ein Gedanke, der auch die moderne Ökopoetik in Teilen der westlichen, ostasiatisch inspirierten Literatur nachhaltig beschäftigt. So lesen sich etwa ein paar Zeilen aus Gary Snyders 1990 zuerst publizierten, 2024 bei Matthes&Seitz in dem Band „Lektionen der Wildnis“ auf Deutsch erschienen Essay „Blaue Berge wandern“ als Reflexion auf das hier vorliegende Gedicht. Eigentlich denkt Snyder über die Landschaftsideen der 1240 verfassten „Berge und Wasser Sangha“ (Sansui-kyō) des japanischen Zen-Meisters Dogēn nach: "Seine Berge und Wasserläufe sind die Prozesse dieser Erde, die ganze Existenz, Entwicklung, Essenz, Handlung, Abwesenheit; sie wälzen sich dahin, gleichzeitig seiend und nichtseiend. Sie sind, was wir sind, was sie sind. … …

Das, diese So-heit, ist die Natur der Natur der Natur. Das Wilde im Wilden.

Und so wandern die blauen Berge in die Küche und zurück zum Kaufladen, zum Tisch, zum Ofen. Wir sitzen auf der Parkbank und lassen uns vom Regen durchweichen. Die blauen Berge gehen hinüber und werfen eine neue Münze in die Parkuhr, und dann gehen sie ins 7-Eleven Geschäft. Die blauen Berge schreiten aus dem Meer, schultern für eine Weile den Himmel und gleiten zurück ins Wasser."

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