Wang Wei 王維 (699–759)

Am Morgen die Gemarkung Xingyang durchreisend 早入滎陽界

Übersetzung: 

汎舟入滎澤,

茲邑乃雄藩。

河曲閭閻隘,

川中煙火繁。

因人見風俗,

入境聞方言。

秋晚田疇盛,

朝光市井喧。

漁商波上客,

雞犬岸旁村。

前路白雲外,

孤帆安可論。

Mitstroms im Boot durch Xingyangs Gewässer –

Hier ist ein Städtchen jetzt Hauptgarnison.

Gelber Fluß biegt um quirlige Gassen,

Rauch von den Herden quillt über den Strom.

Den Leuten nach sichtbar – heimische Art;

Wohin man kommt hörbar – Wort der Region.

Im Spätherbst stehen Felder und Äcker,

Im Frühlicht lärmen die Marktplätze schon.

Fischer und Kaufleute auf den Wellen;

Durchs Uferdorf jagt der Hund nach dem Huhn.

Ein Weg vor mir, ins Jenseits der Wolken

Verloren segelnd: wen kümmert das nun?

Kommentar

Ein Flußreisegedicht, wohl entstanden im Spätsommer oder Frühherbst des Jahres 721 während der Fahrt des Dichters nach Jizhou in Shandong, wo er, infolge einer Demissionierung aus den Reihen der Hauptstadtbeamten, ein Verwaltungsamt in der Provinz zu versehen hatte. Gleich das erste Verspaar läßt den inneren Widerspruch erkennen, aus dem der Reisende die Welt beurteilt: er ist unterwegs in die Verbannung, die ihn auf ungewisse Dauer, vielleicht auf immer, an niedere Dienste fesseln wird, während das Reich, die Macht des Hofes – auch ohne ihn – sichtlich floriert. Aus der kleinen Stromstadt Xingyang wurde durch deren Erhebung zur Militärgarnison ein wichtiger Warenumschlagplatz am Gelben Fluß, einer Hauptverkehrsarterie des Nordens. Die Macht Chang’ans wirkt über die Diskrepanzen der regionalen und kulturellen Vielfalt des Raumes, über den sie herrscht, hinaus, indem gewaltige Gütermengen, von der Seidenstraße einströmend, durch Märkte und Zollschranken der Weltmetropole über den Gelben Fluß weiter nach Osten geleitet werden. Diese Ausdehnung der Zentralmacht kommt den Menschen in ihren regionalen Lebenswelten zugute. Sie erfreuen sich weitgehender Autonomie, wickeln die Geschäfte des Tages in ihren Heimatsprachen ab, bebauen Felder, die noch bis in den Spätsommer Früchte tragen und treiben schon beim ersten Tageslicht Handel auf den lokalen Märkten. Der Vorbeireisende sieht: hier steht alles zum Besten, Händler und Fischer sind emsig unterwegs, das Dorfleben scheint genügsam in sich zu ruhen, sodaß man sich der Betrachtung eines Hühner jagenden Hofhundes überläßt. Erst indem  das Boot erneut vom Landesteg ablegt scheint dem Reisenden das eigene Ziel „ins Jenseits der Wolken“ als übermäßige Ungewißheit vorzuschweben.

Oder wird nicht der eigene Zustand – „verloren segelnd“ – zum Wahrbild einer wirklichen Leere, um die alle vorigen Bilder bukolischer Betriebsamkeit vor Ort einschließlich der nicht direkt angesprochenen, aber wohl impliziten Vorstellung des eigenen Verbanntseins aus der schon fernen Hauptstadt kreisen? So weiß auch der loyale Diener der weltlichen Ordnung, selbst noch im Zustand persönlicher Demütigung, um die geistige Würde, die das Sein aller Dinge im Licht der Leere, vor der die Welt erscheint, widerstrahlt.

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