Wie schnell aus kleinen Bächen reißende Flüsse werden können, zeigte der Juni 2021. Damals kam es in weiten Teilen Europas und besonders in Deutschland zu einer Flutkatastrophe. In der Folge von Starkregen entstanden in den betroffenen Regionen Sturzfluten und massive Überschwemmungen, die zu Toten und enormen Schäden führten.
Um für solche Fälle besser gewappnet zu sein, arbeiten Forscher/innen um Margreth Keiler am Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Wissenschaften (ÖAW) und am Institut für Geographie der Universität Innsbruck an einem Modell, das möglichst realitätsnah simulieren soll, welche Folgen Überflutungen auf Verkehrsinfrastruktur und Grundversorgung haben. Eine erste Anwendung fand das Modell im Berner Oberland in der Schweiz, wie die Wissenschaftler*innen aktuell in Nature Scientific Reports berichten. Margreth Keiler im Interview.
Modelle für den Katastrophenschutz
Worum geht es in Ihrer Hochwasser-Publikation?
Margreth Keiler: Wir haben eine neue Methode entwickelt, um die Auswirkungen von Hochwasser auf Straßennetze und Grundversorgung zu simulieren. Wir berücksichtigen zum Beispiel die Erreichbarkeit von Spitälern und Ärzt/innen. Bislang gab es theoretische Modelle für die Modellierung der Unterbrechung von Straßen während Hochwasserereignissen, die kaum Aussagen über tatsächliche Einschränkungen der Mobilität durch überschwemmte Straßen erlaubt haben. Wir sehen uns jetzt die Erreichbarkeit von Siedlungen, Supermärkten und Arztpraxen an bei Hochwasser, indem wir auf Basis einer Weiterentwicklung dieser theoretischen Modelle realistische Unterbrechungen im Straßennetz simulieren.
Warum ist das wichtig?
Keiler: Katastrophenschutz und Risikomanagement brauchen solche Modelle, um den Ernstfall vorzubereiten. Sie müssen wissen, ob im Falle einer Überschwemmung genug Lebensmittel, Medikamente und andere Ressourcen verfügbar sind und wie viel Zeit die Bewohner/innen einer betroffenen Region zum Beispiel durch Straßensperren und Umleitungen verlieren. Dafür muss man wissen, welche regionalen Zentren wie viele Personen versorgen.
Wie kann man solche Daten in die Modelle bekommen?
Keiler: Wir haben uns ein Werkzeug von den Physiker/innen ausgeliehen. Wir modellieren Straßen und Orte als Netzwerk aus Knotenpunkten mit Verbindungen und sehen uns dann an, welche Teile betroffen sind, wenn wir das Wasser in einer Simulation steigen lassen. Das Hochwasserereignis wird in einer stündlichen Auflösung modelliert und liefert die Überflutungshöhen für eine sehr gute räumliche Auflösung von 0,5 Metern. Krankenhäuser und Supermärkte sind an zentralen Orten und werden den entsprechenden Knotenpunkten im Netzwerk zugeordnet. So sehen wir dann, wie sich die Unterbrechungen auf das gesamte Netzwerk auswirken. Im Modell sieht man schnell, wo es zu Einschränkungen kommt und wo die Erreichbarkeit von Einrichtungen der Grundversorgung vielleicht nicht mehr gegeben ist.
Was ist der Vorteil dieser Netzwerkanalyse?
Keiler: Wir bekommen ein sehr realistisches Bild mit hoher zeitlicher Auflösung. Im Modell sieht man etwa, dass viele Straßenstücke gleichzeitig überflutet werden, wenn ein See über die Ufer tritt. Bei älteren Ansätzen wurden in den Modellen Straßenstücke nach einem zufälligen Muster geflutet. Wir zeigen hingegen, welche Straßenstücke aufgrund der Topographie und der lokalen Verhältnisse tatsächlich geflutet werden. Wir wissen, wo und wann der Wasserstand wie hoch ist und kennen die Konsequenzen: Ab 30 Zentimeter schwimmen die Autos.
Aufwändige Berechnungen
Wie feinmaschig ist das Modell?
Keiler: Wir bekommen eine realistische Grundlage für Entscheidungen und zeigen zum Beispiel, dass es einen Unterschied macht, ob man ein Gebiet mit einem Kilometer Radius simuliert oder mit 5 Kilometern, weil sich dann andere Ausweichrouten ergeben. Wir sind am Ende aber limitiert von der Rechenleistung. Je detaillierter wir das Straßennetz darstellen und je größer das berücksichtigte Gebiet, desto aufwändiger sind die Berechnungen.
Wie weicht das neue Modell von bisherigen Simulationen ab?
Keiler: Wir haben mehr Seitenstraßen im Modell und erhalten realistische Streckenausfälle. Auch das Abfließen des Hochwassers verläuft anders. In älteren Modellen, die auf zufällige Ausfallmuster setzen, ist die Erreichbarkeit schon kurz nach einer Überschwemmung überall wiedergegeben. In unserem Modell sind auch nach 166 Stunden noch Straßen überflutet.
Was braucht man für so ein Modell?
Keiler: Wir haben das für das Berner Oberland simuliert, eine Region, für die wir Hochwassersimulationen hatten. Es sind eine Menge Daten nötig, um die Auswirkungen auf das Straßennetz realistisch zu simulieren. Wir müssen wissen, wie hoch der maximale Niederschlag ist, wann und wo Niederschläge auftreten und wie das Gelände beschaffen ist. Zudem gibt es große Gletscher und zwei Seen, die berücksichtigt werden müssen. Ohne die Hochwassersimulationen aus der Region hätten wir keine Chance gehabt. Da steckt jahrelange Arbeit drin.
Was für ein Flutereignis wurde für die Publikation modelliert?
Keiler: Wir haben ein Extremereignis mit sehr viel Regen über mehrere Tage als Basis genommen, mit einer für die Region typischen Verteilung der Niederschläge. Nach 80 Stunden hat das Hochwasser im Modell den Höchststand erreicht, nach 166 Stunden haben wir die Simulation abgebrochen, da waren immer noch Teile des Straßennetzes überflutet.
Gab es in der Vergangenheit im Berner Oberland vergleichbare Flutereignisse?
Keiler: 2005 gab es schwere Überschwemmungen, bei denen die Uferstraßen der Seen überflutet wurden. Damals kam es auch zu Murenabgängen, die wir in unseren Modellen derzeit noch nicht berücksichtigt haben.
Testen für den Praxiseinsatz
Können die Berner Katastrophenschützer Ihr Modell schon nutzen?
Keiler: Wir müssen das Modell noch ausgiebiger testen, bevor wir einen Praxiseinsatz empfehlen können. Aber in Zukunft können derartige Modelle helfen, wichtige Entscheidungen zu treffen: Wie man den Verkehr am besten umleitet oder welche Straßen aufgrund ihrer wichtigen Versorgungsfunktion besonders geschützt werden müssen. Im Optimalfall ist eine präzise Frühwarnung für Orte und Einrichtungen, denen Einschränkungen drohen, möglich. Dann kann man vorab mehr Waren an Supermärkte liefern oder Personal und Material bereitstellen, um die Versorgung zu sichern.
Wird das Modell in Zukunft noch erweitert?
Keiler: Zur Lage von Spitälern und Supermärkten hatten wir Daten, das gilt aber nicht für alle Faktoren, die für die Versorgungssicherheit wichtig sind. Zu Strom-, Abwasser- und Wassernetzen waren Daten nicht zentral verfügbar. Die müsste man für jede Gemeinde separat einholen. Es gibt also noch Potenzial. Diese Netzwerkansätze könnte man analog zu den Straßen in das Modell aufnehmen.
War der Klimawandel der Motivator für die Forschungsarbeit?
Keiler: Nicht direkt. Ich sehe zwei wichtige gesellschaftliche Entwicklungen, die solche Modelle wertvoll machen. Einerseits wird die Gesellschaft anfälliger, weil wir immer mobiler und vernetzter werden. Dadurch können indirekte Auswirkungen durch eine Überschwemmung viel größer sein als direkte Schäden an Gebäuden oder Straßen. Verspätungen und Arbeitsausfälle in betroffenen Region können ganze Lieferketten durcheinanderbringen und enorme Schäden verursachen. Andererseits gehen Menschen heute davon aus, dass man sich jederzeit frei bewegen kann. Abweichungen von dieser Erwartung können psychische Belastungen sein. Der Klimawandel spielt natürlich eine Rolle, aber ob es in einer Region dadurch zu mehr Hochwasser kommt, ist nicht einfach zu beantworten.
Starkregen bedeutet nicht automatisch Überflutung?
Keiler: Nein, das hängt von sehr vielen Faktoren ab. Waldböden, Gletscher oder Seen können als Puffer dienen. Wenn der Boden gefroren ist, fließen Niederschläge sofort ab, wenn er etwas feucht ist, hat er die höchste Speicherkapazität. Bei der Wahrscheinlichkeit für Hochwasser kommen globale Entwicklungen wie der Wandel von Klima und Gesellschaft mit regionalen Faktoren wie Wetter und Geografie zusammen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Newsroom der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).