Blick auf den Suldenferner Gletscher

Der Suldenferner ist der zweitgrößte Gletscher der Ortler-Alpen. Seine stark schuttbedeckte Oberfläche macht ihn für die Glaziologie besonders interessant.

Graue Rie­sen

Immer mehr Gletscher weltweit entsprechen optisch nicht mehr ihrem strahlend weißen Image. Ihre Oberflächen sind mit Schutt bedeckt. Dieser „Schmutz“ hat komplexe Auswirkungen auf die Gletscherentwicklung, die bislang wenig erforscht wurden. Die Glaziologin und Klimaforscherin Lindsey Nicholson untersucht schuttbedeckte Gletscher vor dem Hintergrund der fortschreitenden Klimakatastrophe.

Zwischen hellgrau und schwarz: Gletscher, deren äußeres Erscheinungsbild in diesem Farbspektrum anzusiedeln ist, gelangen in den letzten Jahren zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses von Forscherinnen und Forschern weltweit. „Mit Schutt bedeckte Gletscher wurden lange Zeit sozusagen übersehen. Inzwischen ist aber klar, dass die Dicke und Farbe des Schuttes auf Gletschern teilweise massive Auswirkungen auf das Ausmaß der Schmelze haben können und generell die Dynamik des Gletschers beeinflussen“, erklärt Lindsey Nicholson vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften. Die Glaziologin leitet dort die Arbeitsgruppe „Eis und Klima“ und beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit „dreckigen“ Gletschern abseits der „weißen Klassiker“, wie sie sagt. Nach aktuellen Studien sind etwa sieben Prozent der Gletscher mehr oder weniger mit Schutt bedeckt – das klingt auf den ersten Blick nicht viel, allerdings sind darunter einige der größten und auch für die Trinkwasserversorgung relevantesten Gletscher der Welt. Die Gletscher im Himalaya etwa sind eine unverzichtbare Wasserquelle für fast zwei Milliarden Menschen – in den Bergen wie auch entlang der Flüsse. Im Fokus der Glaziologin Lindsey Nicholson stehen diese Gletscher in Asien, aber auch jene in den Alpen. „Ich versuche Flugreisen nach Möglichkeit zu vermeiden, daher habe ich mich auf Gletscher in unserer Umgebung spezialisiert. Wir haben bereits zahlreiche Untersuchungen zum Beispiel am Suldenferner Gletscher im Ortler-Gebiet in Südtirol durchgeführt. Dort versuchen wir Prozesse auf kleinem Raum zu verstehen, um sie dann im großen Maßstab auf die massiven Gletscher des Himalaya umzulegen“, so Nicholson.

Durch dick und dünn

Schuttbedeckte Gletscher gibt es prinzipiell in allen vergletscherten Regionen der Erde. Die Ablagerungen auf den Oberflächen entstehen durch Steinschlag, Felsstürze und Erdrutsche unterschiedlichen Ausmaßes. Aber auch in den Eisschichten sind Schuttablagerungen „eingefroren“, die beim Abschmelzen des Gletschers an die Oberflächen transportiert werden. Generell ist das Zusammenspiel der Schuttablagerungen mit dem Gletscher ein sehr komplexes Phänomen. Dennoch haben sich in der Glaziologie zwei Komponenten herauskristallisiert, die wesentlich für das Verständnis der Folgen für den Gletscher sind, nämlich die Dicke und die Farbe der Ablagerungen, wie Nicholson erklärt: „Diese Schichten – bestehend aus Sand, Schotter, Felsen und Geröll – können dabei zwischen wenigen Millimetern und mehreren Metern dick sein. Bei dünnem Schutt mit nur wenigen Zentimetern führt die dunklere Farbe zu einer stärkeren Absorbierung der Sonnenstrahlen und somit einer intensiveren Weitergabe der Wärme an das Eis, was wiederum die Schmelzrate erhöht. Ist der Schutt jedoch dicker, kann er das darunter liegende Eis isolieren, da weniger Wärmeenergie das Gletschereis erreicht.“ Dünne Ablagerungsschichten verstärken somit das Abschmelzen des Gletschers sogar noch zusätzlich, während eine dicke Gesteinsschicht eine potenziell positive Wirkung auf den Erhalt des Eises darunter hat. Durch die Erderwärmung fehlt den Gletschern allerdings zunehmend auch noch die schützende Schneedecke im Sommer: Damit schwindet die Rückstrahlungskraft der weißen Oberfläche. Die Temperaturzunahme im globalen Mittel hat bereits jetzt massive Auswirkungen auf die Gletscher weltweit und bedroht ihre Existenz. Ein besseres Verständnis des zusätzlichen Effektes aufgrund von Ablagerungen auf den Gletscheroberflächen sei daher essenziell, denn: „Ziehen Gletscher sich zurück, werden sie tendenziell immer schmutziger“, ergänzt die Glaziologin.

Präziser modellieren

Wesentlich für die Lindsey Nicholson ist daher eine Antwort auf die Frage zu finden, wie schuttbedeckte Gletscher auf den massiv fortschreitenden Klimawandel reagieren. „Diese Informationen sind wichtig, um in Modellen lokale, regionale und globale Auswirkungen berücksichtigen zu können, die zum Beispiel Fragen der Wasserversorgung betreffen, aber auch für das Ausmaß des Meeresspiegelanstiegs wesentlich sind.“ Dazu arbeitet die Forscherin sowohl mit Innsbrucker als auch mit internationalen Kolleginnen und Kollegen intensiv zusammen. Etwa mit dem Klimaforscher Fabien Maussion, ebenfalls vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften, der federführend in der Anwendung und Weiterentwicklung des Open Global Glacier Model OGGM in Innsbruck engagiert ist. Dabei handelt es sich um das erste offen zugängliche globale Modell zur Simulation der Entwicklung aller Gletscher weltweit. Es ist in der Lage, vergangene und künftige Massenbilanzen, das Volumen und auch die Geometrie von fast jedem Gletscher der Erde darzustellen. „Dieses interdisziplinäre Forschen ermöglicht es uns, die Auswirkungen der Schuttbedeckung in globale Modelle der Gletscherveränderung und regionale atmosphärische Modelle einzubeziehen“, so die Klimaforscherin.

Dieser Beitrag ist in der Juni-Ausgabe unserer Beilage zur Tiroler Tageszeitung, wissenswert, erschienen: https://www.uibk.ac.at/de/newsroom/2022/wissenswert-juni-2022/

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