Da sie heute in größeren Höhen eher die optimalen Temperaturen für ihr Wachstum vorfinden, breiten sich Bergpflanzen zunehmend gipfelwärts aus. Die bunten Gebirgsbewohner sind damit einer der auffälligsten Indikatoren der gegenwärtigen ökologischen Veränderungen im Hochgebirge, wie ein internationales Team von Ökolog/innen aus elf Ländern aktuell in „Nature“ berichtet. An der von Sonja Wipf (Eidgenössisches Institut für Wald, Schnee und Landschaft) und Manuel Steinbauer (Universität Erlangen-Nürnberg) geleiteten Studie waren auch österreichische Forscher/innen von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), der Universität für Bodenkultur Wien (BOKU), der Universität Wien und der Universität Innsbruck maßgeblich beteiligt.
Einzigartiger Datenvergleich
Für ihre Studie haben die Wissenschaftler/innen historische Pflanzenlisten alpiner Gipfel ab dem 19. Jahrhundert, die in den letzten Jahren erneut untersucht wurden, sowie Datensätze des im Jahr 2000 initiierten und in Österreich von BOKU und ÖAW koordinierten weltweiten Monitoring Programms GLORIA (Global Observation Research Initiative in Alpine Environments), analysiert. „Die Kombination dieser Daten lieferte einen weltweit einzigartigen Datensatz, der die Gegenüberstellung der alpinen Vegetationsentwicklung in Zeiträumen mit geringer und mit starker Klimaänderung ermöglichte“, betont Harald Pauli vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der ÖAW die Bedeutung der Studie.
Europaweiter Trend
Die Verschiebung der Verbreitungsgrenzen alpiner Pflanzen- und Tierarten in höhere Lagen wurde bereits in mehreren Untersuchungen festgestellt. Die neue Studie zeigt nun erstmals und europaweit die Beschleunigung dieser Dynamik, die sich in einer immer stärkeren Zunahme der Artenzahlen in neun Untersuchungsregionen (Spitzbergen, Nord- und Südskandinavien, Schottland, Hohe Tatra, Ost- und Süd-Karpaten, Ost- und Westalpen und Pyrenäen) manifestiert. Während im Zeitraum von 1957 bis 1966 im Schnitt nur eine neue Art pro Gipfel beobachtet wurde, waren es zwischen 2007 und 2016 über fünf Arten. Die Neubesiedlungsrate verlief dabei parallel zur Temperaturerwärmung der letzten Jahrzehnte: „Das weist auf die menschengemachte Klimaerwärmung als treibenden Faktor hin“, erklärt BOKU-Forscherin Manuela Winkler, „was auch durch den überdurchschnittlichen Anteil wärmeliebender Arten unter den Neuankömmlingen bestätigt wird.“ Änderungen in den Niederschlagsmengen oder der anthropogenen Stickstoffdeposition, könnten zwar regional ebenfalls von Bedeutung sein, zeigen aber europaweit keine klare Korrelation mit dem Anstieg der Artenzahlen auf den Berggipfeln. „Gipfelflächen sind großteils sehr naturnahe Ökosysteme. Daher ist menschliche Landnutzung für diesen beschleunigten Prozess kaum verantwortlich zu machen“, verdeutlicht Brigitta Erschbamer von der Universität Innsbruck.
Endstation schwindende Artenvielfalt?
Die über sehr unterschiedliche Klimazonen hinweg konsistenten Ergebnisse sind ein starker Hinweis auf großflächige Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels auf terrestrische Ökosysteme und die Artenzusammensetzung der naturnahen Biosphäre. „Wir sehen die Nettozunahme der Artenzahl als Übergangsphase, die letztendlich zum Verschwinden vieler genuin alpiner Arten von den Berggipfeln führten dürfte“, befürchtet Stefan Dullinger von der Universität Wien. Die Langlebigkeit vieler Arten und ihre Toleranz gegenüber Klimaschwankungen wirken laut den Forscher/innen zwar als Puffer gegen lokale Aussterbeprozesse. Die zuletzt stark beschleunigte Artenverschiebung erhöhe aber das Risiko von Biodiversitätsverlusten, speziell dann wenn „Kipppunkte“ erreicht werden, etwa durch das Vordringen der Strauch- und Baumgrenzen.
Publikation
(Sven Hartwig, ÖAW)