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Organisatorin Ingrid Böhler mit dem Vortragenden, Helmut Konrad.

„… der Rest ist Österreich“

Helmut Konrad, em. Professor für Zeitgeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, ausgewiesen durch unzählige Arbeiten auf den Feldern der Kultur- und Sozialgeschichte sowie als Wissenschaftsmanager, dekonstruierte in einer Ringvorlesungseinheit anlässlich 100 Jahre Republik Österreich facettenreich und pointiert ein gängiges Bild über die Entstehung der Ersten Republik.

Der Vortragende stellt eingangs fest, dass die Konzentration auf die kurze Periode im Herbst 1918 zur Erklärung der Vorgänge keinesfalls genügt, außerdem müsse auch die Außenpolitik mitsamt ihren Handlungsräumen und Akteuren mitberücksichtigt werden. So soll Kaiser Franz Josef auf seinem Sterbebett gesagt haben, dass „er nicht den eigenen Tod fürchte, sondern, dass die Totenglocken, die ihm läuten, auch sein Reich zu Grabe tragen“. Mit den Revolutionen in Russland und dem Kriegseintritt der USA vollzog sich 1917 eine Zeitenwende, die keinen Platz mehr für eine Neuordnung der Monarchie bereithielt. Das alte Reich wurde gleichzeitig zum Sehnsuchtsort und zum Ort nationaler Konflikte und Abgrenzungen. Mit dem 14-Punkte-Programm von US-Präsident Wilson war die Zeit des Vielvölkerstaates am Ende und setzte das darin verankerte Selbstbestimmungsrecht der Völker zentrifugale Kräfte frei.

Im Inneren war die Monarchie durch Streiks, Meutereien und Hunger am Ende ihrer Kräfte angelangt. Das Völkermanifest Kaiser Karls als letzter Rettungsversuch musste daher als finaler Auflösungsbescheid interpretiert werden. Binnen weniger Tage im Oktober ergingen – beginnend mit der Tschechoslowakei – Proklamationen der Eigenständigkeit, kündigte Ungarn die staatsrechtliche Bindung an Österreich und wurde von der provisorischen Nationalversammlung und der von ihr eingesetzten Regierung unter Staatskanzler Karl Renner der Beschluss zur Gründung der Republik Deutschösterreich gefasst.

Es waren fast alle dadurch aufgeworfenen Fragen offen. Vier davon beleuchtete Helmut Konrad näher.

Anschlussbestreben und Außenpolitik

Im größtmöglichen Flächenstaat mit einheitlicher Sprache als Landesidentität wurde ein Aspekt der Moderne erblickt. Mit der Bezeichnung Deutschösterreich verband im Speziellen das Bildungsbürgertum aber auch ein Naheverhältnis zur deutschen Kultur. Dieses „träumte die Träume Goethes“ und warf einen verklärten Blick auf die schmerzhafte Abspaltung Südtirols. Mit dem Begriff „deutsch“ war aber auch eine Abwehr, ein Reflex gegen die neuen nachbarstaatlichen Bedrohungen verbunden. In den Friedensvertragsverhandlungen fand das Argument Deutschösterreichs, nur ein Nachfolgestaat zu sein, kein Gehör. Dies hatte Folgen für die neue Grenzziehung, womit Fragen zur Staatsbürgerschaft einhergingen. Das in den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain verankerte und verhasste Anschlussverbot an Deutschland stellte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Rettungsanker heraus. Der Kleinstaat galt nur als heiß ersehnte Vision Österreichs auf dem internationalen Parkett.

Innere Fragen – erste Stunde Null

Die soziale Situation war schlimm, es ging ums nackte Überleben. Versehrte, Bettler, Hunger, die Spanische Grippe usw. prägten nicht nur in den großen Städten das Straßenbild. Mit der Einführung des Frauenwahlrechts 1918 wurden alte Forderungen der Sozialdemokraten erfüllt und zugleich verringerte dieses in den Augen der Konservativen die Stimmanteile der Revolutionäre. Wegen der Revolutionsfurcht begann auch eine beispielslose Sozialgesetzgebung zur Entschärfung der sozialen Frage, wodurch es den Kommunisten nie gelang, einen Sitz im Nationalrat zu erobern. Dieser Erfolgsgeschichte zum Trotz blieb auf der Negativseite eine durch den Krieg enthemmte männliche Bevölkerung weiterhin vorhanden, was in den Ereignissen von 1927, 1933 und 1934 gipfelte. Als wichtigste Errungenschaft der Gründungsphase sieht Helmut Konrad die von Hans Kelsen konzipierte Verfassung an. Aber auch in den Bereichen von Kultur und Wissenschaft erwies sich das kleine Österreich als herausragend.

Entwürfe für die Gestaltung einer zukünftigen Gesellschaft

Es war kein gemeinsames Ziel in Sicht, nicht einmal in der Symbolik, wobei Helmut Konrad besonders die Frage der Bundeshymne in den Fokus stellte. Es entstanden separate Milieus und Lebenswelten entlang der politischen Lager. Die Sozialdemokraten setzten sich für die Entfaltung des „roten Wien“ als Modell ein und verhinderten mit ihrer radikalen Sprache ein Fußfassen der Kommunisten. Während dem katholisch-konservativen Lager die Beseitigung der Parteienherrschaft ein Anliegen war, fokussierten sich die Deutsch-Nationalen ausschließlich auf das Anschlussverbot als Kernfrage und fielen ihre Ideen im Alpenverein und der Turnerschaft auf fruchtbaren Boden. Somit erwiesen sich die Zukunftsentwürfe als inkompatibel und war eine politische Stabilität nicht erzielbar.

Ereignisse des 12. November 1918 – eine Revolution?

Nach Helmut Konrad definiert sich eine Revolution 1. durch ihre Einseitigkeit und als von unten nach oben getragener, konfliktreicher Prozess, 2. durch ihre zeitliche Radikalität und 3. durch eine gesteigerte Teilnahme an der Politik als national wahrgenommenes Ereignis zur Überwindung konkreter Rechtsverhältnisse. Somit handelte es sich bei den Novemberereignissen um eine, allerdings von außen veranlasste, Revolution. Es wurde eine grundlegend veränderte politische Landschaft mit neuen (Mitwirkungs-)Möglichkeiten geschaffen, die dem Druck der Straße geschuldet war.

Buchtipp: Maderthaner, Wolfgang; Helmut, Konrad (Hrsg.): … der Rest ist Österreich. Das Werden der 1. Republik, 2 Bde., Wien 2008, 696 S.

(Gregor Kaltenböck/Julian Ascher)

Der Vortrag zum Nachsehen

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