Silvia Rief
Silvia Rief an ihre aktuellen Wirkungsstätte in Harvard, USA.

Soziologin forscht in Harvard

Für die Universität Harvard wird jedes Jahr die Joseph A. Schumpeter Forschungsprofessur ausgeschrieben. Diese Position besetzt in diesem Studienjahr die Innsbrucker Soziologin Silvia Rief.

Seit Anfang September ist Silvia Rief, assoziierte Professorin am Institut für Soziologie, am Weatherhead Center for International Affairs in Harvard, einem Forschungszentrum der Faculty of Arts and Sciences, tätig. Hier arbeitet die Soziologin an einem Projekt über das Verhältnis von Konsum und Demokratie.

Die Rolle des privaten Konsums für die Entwicklung der Demokratien westlich-kapitalistischer Prägung wird auf normativer Ebene sehr gegensätzlich und teils ambivalent beurteilt. Im Kontext der Politik des New Deal in den USA etwa galt die Steigerung des Lebensstandards durch Konsum als wesentlich für die Stärkung der Demokratie. Umgekehrt sehen kritische Stimmen im akademischen Diskurs die Vergesellschaftung durch privaten Massenkonsum häufig eher als Hindernis für die Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur und für den Zusammenhalt eines politischen Gemeinwesens (aktuell etwa der deutsche Soziologe und emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck). „Konsumkritische Problematisierungen ‚konsumistischer Lebensweisen’ – so wichtig diese Reflexionen sein mögen – verstellen mitunter den Blick auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung verschiedenster Bereiche alltäglicher Versorgung“, so Silvia Rief. „Das betrifft zum Beispiel die Frage, wie sich Einkommensverhältnisse in spezifische Zugangsmöglichkeiten zu (qualitativ) differenzierten Gütern und Dienstleistungen und damit in konkrete Existenzgrundlagen und Lebenschancen übersetzen – sei es der Zugang zu Wohnraum, zu (hochwertigen) Nahrungsmitteln, zu Frei- und Erholungsräumen oder zu Mobilitäts- und Gesundheitsdienstleistungen, um nur einige zentrale Bereiche zu nennen.“

Konsum und Demokratie

Hat die gesellschaftliche Institutionalisierung alltäglicher Versorgungsprozesse etwas mit Demokratie und demokratischer Entwicklung zu tun? Macht die Frage nach einer ‚demokratischen Konsumkultur’ Sinn? Wie soll das Verhältnis von privatem Wohl und öffentlichem Wohl in demokratischen politischen Gemeinschaften gestaltet werden – als ‚social opulence and private asceticism’, oder als ‚private affluence and public squalor’ (wie der Ökonom John K. Galbraith in den 1950er Jahren kritisierte)? Welche andere Varianten sind denkbar? Wie sollen bestimmte Güter und Dienstleistungen bereitgestellt werden – über den Markt, über öffentliche Institutionen oder über den sozialwirtschaftlichen Sektor? Wieviel und welche Art von Transparenz, öffentlicher Diskussion und Mitsprache braucht es hinsichtlich der Qualität von Gütern, ihrer Herstellungsprozesse, ihrer Preisgestaltung und ihrer Verwendung? Wo können Debatten über Versorgungsweisen und -systeme und deren Effekte auf den privaten und gesellschaftlichen Wohlstand geführt werden? Diese und eine Reihe anderer Fragen stellen sich für die Soziologin Silvia Rief im gesellschaftlichen Fokus auf dieses Thema.

Aktuell wird u.a. die Frage debattiert, ob am ökonomischen Wachstumsimperativ festgehalten werden kann und soll oder ob neue Konzepte für Postwachstumsgesellschaften notwendig sind. Alternative Modelle wie solidarische Ökonomie, participatory economy und ähnliche, eher bottom-up in der sozialen Praxis entwickelte Entwürfe setzen sich einen institutionellen Wandel zum Ziel, der sowohl konventionelle Prinzipien des Wirtschaftens und Konsumierens hinterfragt, als auch die Frage aufwirft, wie Demokratie in einem Postwachstumskontext ausgestaltet werden kann.

Ideengeschichtliche Rahmen

Die Diskussion über Wohlstandskonzepte und über die gesellschaftliche Organisation alltäglicher Versorgung berührt für Silvia Rief unweigerlich Fragen zur politisch-ökonomischen Ordnung und der Rolle gesellschaftlicher Institutionen. Die soziale und politische Ideengeschichte bzw. die sozialphilosophischen Komponenten in der Geschichte des (politisch-)ökonomischen Denkens kreisen u.a. um das Thema der Gestaltung und Legitimation sozialer, politischer und ökonomischer Ordnung und um die Frage, welche Ordnungen menschliches, gesellschaftliches Wohl und Gerechtigkeit (oder Gegenteiliges) hervorbringen. „Viele Elemente aktueller Konsumkritik wie auch Überlegungen zu ‚ethisch’ Konsumierenden oder zu neuen Organisationsformen alltäglicher Versorgung reichen ideengeschichtlich weiter zurück als oft gedacht“, erzählt die Soziologin. „Ein Gutteil dieser Versuche der Problematisierung und Politisierung von Konsum und Produktion wie auch die vielfältigen Formen alltäglicher Versorgungsorganisation sind aber auch wenig bekannt oder in Vergessenheit geraten und damit der gegenwärtigen Reflexion entzogen.“

Das Forschungsvorhaben von Silvia Rief hat das Ziel, den diskursiven Rahmungen von Konsum und Versorgung in der sozialen und politischen Ideengeschichte wie auch in der Geschichte des (politisch-)ökonomischen Denkens nachzugehen. Die verschiedenen Denktraditionen sind relativ breit erforscht und diskutiert. Weniger bekannt ist jedoch, wie und in welcher Form darin Fragen zu Konsum und alltäglicher Versorgung im Hinblick auf das gesellschaftliche Wohl thematisiert, problematisiert (oder auch gar nicht aufgeworfen) werden. Weiters, welchen Einfluss diese Reflexionen auf moderne Demokratiekonzepte hatten und gesellschaftliche Deutungsmuster von Wohlstand informier(t)en. Wie das Verhältnis von Konsum und Demokratie normativ konzeptualisiert wird, hängt letztlich von der gewählten demokratietheoretischen Perspektive ab. Welche Möglichkeiten die verschiedenen Demokratietheorien dazu eröffnen, soll schließlich vergleichend erforscht werden. Dadurch können aktuelle Entwürfe etwa zu ‚Verbraucherdemokratie’ im breiteren ideengeschichtlichen Kontext situiert werden und kann das Spektrum möglicher anderer Konzeptionen entfaltet werden.

Ideales Forschungsumfeld

Für Silvia Rief ist Harvard ist ein vortrefflicher Ort, um diesem Projekt nachzugehen, nicht nur, weil hier eine der weltgrößten Bibliothekssammlungen zur Verfügung steht und ältere und weniger verbreitete ideengeschichtliche Literatur vorhanden ist. Vor allem bietet die Universität mit den renommierten Schools wie z.B. der Faculty of Arts and Sciences, der Harvard Kennedy School oder dem Radcliffe Institute for Advanced Study und den zahlreichen Instituten, multidisziplinären Forschungszentren und -initiativen (z.B. Center for European Studies) ein exzellentes Forschungsumfeld.

Das Weatherhead Center for International Affairs (WCFIA) selbst, an dem die Soziologin forscht, wurde im Jahr 1958 als foreign policy und international relations Think-Tank gegründet. Später wurde es vor allem auf sozialwissenschaftliche Forschung ausgerichtet. Gegenwärtig ist das Center eines der größten Forschungsnetzwerke in Harvard, bestehend aus ansässigen Faculty-Members, Harvard-Studierenden, Postdocs und Visiting Fellows aus aller Welt. Geleitet wird es von der Soziologin Michèle Lamont (bis vor kurzem Präsidentin der American Sociological Association und Erasmus-Preisträgerin 2017).

Interdisziplinärer Austausch

Aktuell laufen am Weatherhead Center Forschungsinitiativen unter anderem zu Global Populism, Organizational Science, Gender Inequality, Comparative Inequality and Inclusion, Afro-Latin American Studies, Global History und Climate Engineering. Regelmäßige Seminare und hochkarätige Gastvorträge, veranstaltet im Verbund der involvierten fachlichen Disziplinen (u.a. Wirtschafts-, Politik-, Rechtswissenschaften, Soziologie, Anthropologie, Geschichtswissenschaften) und teils mit anderen Forschungseinrichtungen der Universität, sorgen für einen bereichernden intellektuellen Austausch im multidisziplinären Rahmen. Der konstruktiv-kritische, sachliche Dialog jenseits akademischer Wettkampfatmosphäre und Schulenstreit steht im Vordergrund.

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