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Tiroler Landesarchiv, Karten und Pläne, 434 (Ausschnitt). Innschleife bei Kirchbichel 1784, Oberarcheninspektor Gottlieb Samuel Besser.

Die Flusslandschaft des Tiroler Inns: Eine Umweltgeschichte (1745–1792)

Wie sah der Inn vor 250 Jahren aus? Wie nutzten, veränderten und formten Menschen die weitläufigen Landschaften am Alpenfluss? – Und wie ermöglichte, erschwerte oder verhinderte der dynamische Fluss wiederum diese unterschiedlichen Nutzungsweisen? Diese Fragen stellt sich Reinhard Ferdinand Nießner in seinem umweltgeschichtlichen Dissertationsprojekt.

Die Eroberung der Natur

Der Inn, wie wir ihn heute kennen, hat mit dem Lauf des Flusses vor rund 250 Jahren nur noch sehr wenig gemeinsam. Damals nahm die weitläufige Flusslandschaft im Inntal einen Großteil der Talfläche ein und war oftmals drei- oder viermal so breit wie heute. An manchen Stellen verlagerte sich der Hauptstrom nach Überschwemmungen häufig komplett. Während alte Seitenarme – „Alter Runst“ genannt – von neuen Wassermassen durchströmt wurden, fiel „der Hauptrinnsal“ an anderen Stellen trocken, lagerte dort erhebliche Mengen an Geschiebematerial ab und verursachte damit vielfältige Probleme für die Nutzung des Flusses als Transportweg. Die Schifffahrt war ohnehin ein äußerst mühsames, kostspieliges und oft auch gefährliches Unterfangen und wurde durch die beschriebene natürliche Dynamik des Alpenflusses noch weiter erschwert. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts unternahm deshalb eine eigene Wasserbaubehörde enorme Anstrengungen, um dem Inn ein gleichbleibendes Flussbett mit konstanter Wassertiefe zuzuweisen. Die Flusslandschaft des Tiroler Inn war jedoch zu dieser Zeit nicht mehr gänzlich natürlich; sie war bereits durch menschliche Eingriffe geformt und verändert.

Den aufgeklärten Diskursen des 18. Jahrhunderts zufolge sollte ein Fluss in einer geraden Linie und in einem einzigen Flussbett fließen. Weitläufige mäandrierende Auen und Schleifen – wie wir sie heute noch am Inn bei Kirchbichl kennen – sollten deshalb kultiviert und begradigt werden. Die Natur bedurfte in den Augen der Zeitgenossen einer Verbesserung, einer „Melioration“, die einer Eroberung der Natur bzw. der Flusslandschaft gleichkommen sollte. So sollten landwirtschaftliche Flächen gewonnen, Krankheiten besiegt und Schifffahrtswege effizienter werden. Nicht nur der Inn in Tirol geriet im Zuge dieses Denkens in den Fokus aufgeklärter Obrigkeiten. Viele Flusslandschaften und Feuchtgebiete Mitteleuropas wurden ab der Mitte des 18. Jahrhunderts massiv umgestaltet und in ihrem Erscheinungsbild langfristig verändert wie beispielsweise der Oderbruch in Preußen oder die Linth in der Schweiz. Am Beispiel des Inns beschäftige ich mich in meinem umweltgeschichtlichen Dissertationsprojekt mit der Beziehung von Mensch und Natur bzw. dem komplexen Wechselspiel und der Verwobenheit des Sozialen/Kulturellen mit dem Natürlichen.

Eine neue Wasserbaubehörde: die Oberarcheninspektion

Am 22. November 1745 wurde der Ingenieur-Lieutenant Franz Anton Rangger zum Oberarcheninspektor ernannt und eine gleichnamige Behörde gegründet. Die Oberarcheninspektion sollte die „Archen“ – das war der in Tirol gängige Begriff für Flussverbauungen – am Inn verbessern und ausbauen. Ein Schiffszug brauchte damals von Kufstein bis Hall acht Tage, wofür 50 bis 60 Pferde benötigt wurden. Durch eine gezielte „Verarchung“ strebte der Oberarcheninspektor Rangger eine Reduzierung sowohl der Reisezeit auf fünf Tage als auch der Kosten von 800 auf 500 Gulden an. Neben langfristigen Verbesserungen für die Schifffahrt erhoffte er sich durch eine Einschränkung des Flusses ebenso einen enormen Gewinn an landwirtschaftlicher Nutzfläche im Inntal. Rangger berechnete auf den 120 Flusskilometern von Pettnau bis zur bayerischen Grenze eine Fläche von 450 Hektar, die es als bis dahin „öde Gründe“ zu „erobern“ und in kulturfähiges Land umzuwandeln galt. An den Fluss angelegt entspricht diese Fläche einer durchschnittlichen Einengung des Inns an beiden Ufern um fast 20 Meter. Die Kultivierung der „öden Gründe“ sollte die strukturelle Abhängigkeit Tirols von Getreideimporten aus dem Ausland beenden und größere Lebensmittelsicherheit gewährleisten.

Doch wie gestaltete sich die Arbeit der Oberarcheninspektion am Fluss konkret? Jedes Jahr im Herbst bereiste der Inspektor wochenlang von Telfs flussabwärts das Inntal, um die Archen mit einem lokalen Archenbaumeister und den jeweiligen Gerichtsinhabern oder Gemeindevertretern zu begutachten. Dabei verzeichnete er im Sommer durch Hochwässer entstandene Schäden und gab dem Archenbaumeister und den zuständigen Gemeindemitgliedern Anweisungen, wie sie die Schäden zu reparieren und neue Archen anzulegen hätten. In der Folge mussten die Baumaterialien – vor allem Bäume und Steine – an die Baustellen gebracht werden, um Anfang Februar beim „kleinsten Winterwasser“ mit den Arbeiten zu beginnen. Im April und Mai erfolgte eine weitere „Visitations“-Reise des Oberarcheninspektors, um den Fortgang der Arbeiten zu kontrollieren. Diese zweimal jährlich erstellten, ca. 20 bis 30 Seiten umfassenden Visitationsberichte erlauben eine Rekonstruktion der umfangreichen wasserbaulichen Eingriffe in den Inn. Im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck ist die Arbeit der Oberarcheninspektion zwischen 1746 und 1792 in elf Faszikeln dokumentiert. Die gute Quellenlage wird durch Bestände des Österreichischen Hauptstaatsarchivs in Wien und des Bayerischen Hauptstaatsarchivs in München komplettiert.

Konflikte mit Innanrainern um die richtige Verbauungsart

Die Umsetzung der ambitionierten Ziele der Oberarcheninspektion erforderte jedoch wesentlich mehr Zeit als zunächst veranschlagt und erwies sich aufgrund verschiedener Faktoren als überaus schwierig. Ein Grund, warum sich die „Geradleitung des Innstroms“ nicht so schnell realisieren ließ (der Inn sollte innerhalb von nur vier Jahren begradigt werden), war das diffuse Wasser- und Archenrecht. Gemeinden oder Grundherrschaften waren nämlich – bis auf landesfürstliche Archen – selbst für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Uferschutzbauten am Inn verantwortlich. Doch der werdende Staat mischte sich nun erstmals konkret ein, auf welche Art und Weise die Archen gebaut werden sollten. Während der Oberarcheninspektor beim Archenbau vornehmlich die Schifffahrt im Auge hatte, waren die Gemeinden am Inn vor allem um hochwassersichere Verbauungen bemüht. Diese entgegengesetzten Interessen bargen ein enormes Konfliktpotenzial um die richtige Verbauungsart: Die von den Gemeinden favorisierten „Wurfarchen“ wurden quer in den Fluss hineingebaut und lenkten bzw. warfen den Strom „mit aller Gewalt“ auf das andere Ufer. Dies zog häufig schwere Uferbeschädigungen nach sich und setzte der Schifffahrt zu. So kam es zu Konflikten zwischen einzelnen Gemeinden, aber auch zwischen dem Oberarcheninspektor und jenen Gemeinden, die ungeachtet behördlicher Vorgaben „Wurfarchen“ bauten – wie vor allem Terfens, Kolsass und Weer.

Diese sozialen Konflikte am Fluss zeigen deutlich, dass es sich bei der von den Zeitgenossen ausgerufenen Eroberung der Natur nicht ausschließlich um einen Kampf des Menschen mit der bzw. gegen die Natur handelte. Aufgrund unterschiedlicher Nutzungsweisen des Flusses wurde dieser Kampf von sozialen Konflikten überlagert und die Natur bzw. der Fluss in diesem oder jenem Sinne instrumentalisiert. Mit einem umweltgeschichtlichen Ansatz untersuche ich die Kategorien von Mensch/Kultur und Natur daher nicht getrennt voneinander, sondern in ihrer Verschränkung. Der Fluss bzw. die Natur fungiert bei diesem Zugang analytisch nicht nur als passive Projektionsfläche menschlicher Intentionen und Nutzungsinteressen, sondern spielt aufgrund seiner dynamischen Materialität eine konstitutive Rolle eigenen Rechts. Mensch-Natur-Beziehungen lassen sich symmetrisch konzipieren, wenn bei natürlichen Phänomenen menschengemachte Faktoren in die Analyse miteinfließen wie auch umgekehrt natürliche Bedingungen für menschliche Handlungen untersucht werden.

Die natürliche Gewalt des Flusses und der Wildbäche?

Ein Blick auf natürliche Extremereignisse wie Überschwemmungen zeigt uns ein ähnliches Bild von der stetigen Überlagerung von Kultur und Natur. So sind die verheerendsten Überschwemmungen Innsbrucks im 18. Jahrhundert nicht nur auf eine außergewöhnlich große Wasserführung des Inns zurückzuführen, sondern wurden erst aufgrund der Nutzung des Flusses und von Infrastrukturen wie Brücken zur Katastrophe. In Innsbruck befand sich ebenso wie in der Salinenstadt Hall ein Holzrechen über den Inn zum Auffangen von Triftholz, das aus dem Oberinntal auf dem Fluss transportiert wurde. Eine große Fläche zwischen Inn und Triftkanal – im Bereich der heutigen Universität – diente als Lagerplatz für das Brenn- und Bauholz. Führte der Inn Hochwasser, überschwemmte er diesen Platz und riss das Holz mit sich fort. Der Verlust des kostbaren Holzes wäre zwar schmerzhaft gewesen, aber noch keine Katastrophe, denn der wesentlich stärkere Holzrechen in Hall würde das Holz schon aufhalten. Zum Verhängnis wurde erst die Kombination aus verflößtem Holz und der Innbrücke kurz unterhalb des Lagerplatzes. An der Brücke verkeilte sich das teils meterlange Holz und bildete einen künstlichen Damm, der die Wassermassen natürlich in die Stadt drängte und überschwemmte. 1762, 1772, 1776 und 1789 kam es zu schweren Überschwemmungen Innsbrucks, bei denen die Innbrücke teils stark beschädigt oder komplett von den Wassermassen weggerissen wurde. Katastrophale Ausmaße erlangten diese Überschwemmungen vorwiegend aufgrund menschengemachter Infrastrukturen im und am Fluss sowie dessen Nutzung als Transportweg.

Ein anderes, auf den ersten Blick natürliches Phänomen entpuppt sich durch eine umweltgeschichtliche Analyse gleichfalls als ein hochgradig hybrides Phänomen. Die Wildbäche transportierten bei Hochwasser unglaubliche Mengen an Steinen jeglicher Größenordnung bis weit in die Mitte des Inns hinein. Sie veränderten den Flusslauf erheblich, schränkten ihn in seiner ansonsten großen Ausdehnung oft auf die Hälfte ein und machten ihn dadurch beispielsweise am Pillerbach „selbst sehr reissend und der Gegenschifffahrt ziemlich beschwerlich“. Und der Einfluss des Kundlerbachs wurde von den Schiffleuten wegen der gefährlichen Konstellation „in der Hölle“ genannt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten die Zeitgenossen zusehends das Gefühl, dass die Wildbäche immer größere Mengen Geschiebe in den Inn führten und Überschwemmungen folglich zunahmen. Der Ex-Jesuit und Naturwissenschaftler Franz von Zallinger zum Thurn brachte dieses Phänomen mit einer menschlichen Tätigkeit fernab des Inns in Verbindung. Der intensive Holzschlag in den Seitentälern an steilen Berghängen führte, so Zallinger, über einen längeren Zeitraum hinweg zu erheblicher Bodenerosion. Vermehrte Murenabgänge sorgten für viel Gesteinsmaterial in den Wildbächen, durch die es schließlich in den Inn gelangte – aufgrund der menschlichen Waldnutzung in den Seitentälern geriet der Flusslauf des Inns in Unordnung.

Vom Sinn und Unsinn der Verbauungen

Die Oberarcheninspektion konnte dem Inn während des 18. Jahrhunderts kein durchgängiges, stets gleichbleibendes Flussbett mit konstanter Wassertiefe zuweisen. Die Flusslandschaft hatte in dieser Zeit viele, veränderliche Gesichter und trotzte den Bestrebungen der Wasserbaubehörde noch weitgehend. Das lag nicht nur an der scheinbar natürlichen Dynamik des alpinen Flusses und der Wildbäche oder an den technisch unzureichenden Mittel des vormodernen Wasserbaus. Vielmehr überlagerten und blockierten diverse soziale Konfliktlagen – zwischen der Behörde und Gemeinden ebenso wie, was an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden kann, zwischen Bayern und Tirol an der nassen Grenze ab Kufstein – die Versuche, den Inn zu begradigen und einzuschränken – und damit auch die angestrebte Eroberung der Natur durch den Menschen. Eine weitgehende Begradigung des Inns erfolgte erst im Laufe des 19. Jahrhunderts mithilfe des Einsatzes fossiler Energieträger – in etwa zur selben Zeit, als auch die Eisenbahn Einzug im Unterinntal hielt. Die Eisenbahn machte der Schifffahrt auf dem Inn erhebliche Konkurrenz, weshalb diese unrentabel und schließlich überflüssig wurde. Paradoxerweise ging die Schifffahrt zu Grunde, als die scheinbar idealen Bedingungen – an denen die Oberarcheninspektion über fast 50 Jahre gearbeitet hatte – Realität wurde. Dennoch wurde der Talboden des Inntals dem Fluss seit der Mitte des 18. Jahrhunderts kontinuierlich entrissen. Die Flächen dienten schon bald nicht mehr nur der Landwirtschaft, sondern auch als Siedlungsfläche. Dass die heute dicht besiedelte Talfläche im vormaligen Überschwemmungsgebiet liegt, birgt wiederum Risiken und Probleme für die Bewohner*Innen am Inn.

Quellen und Literatur

Blackbourn, David, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, aus dem Englischen von Udo Rennert, München 2007.
Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, aus dem Französischen von Gustav Roßler, Frankfurt am Main 62017.
Maier, Andreas/Neuhauser, Georg, Die Höltzungen sein der Bergwercke Hertze und des Fürsten Schatz. Die Bedeutung des Waldes in der Grafschaft Tirol mit besonderer Berücksichtigung der Regierungszeit Maximilians III. (1602–1618) in: Noflatscher, Heinz (Hrsg.), Denkhorizonte und politische Praxis eines Fürsten um 1600. Erzherzog und Hochmeister Maximilian III. von Österreich. (in Druck).
Tiroler Landesarchiv, Landesbaudirektion – Akten, Faszikel 1–11, Allgemeine Bauakten: Oberarcheninspektor Rangger und Oberarcheninspektor Besser.
Zallinger zum Thurn, Franz von, Von den Ueberschwemmungen in Tyrol, Innsbruck 1779.

(Reinhard Nießner)


Foto: A. Warmuth
Foto: A. Warmuth

Reinhard Ferdinand Nießner studierte von 2009 bis 2016 Geschichte sowie Kunst- und Kulturgeschichte an den Universitäten Augsburg, Salamanca und Montpellier. Seit 2017 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. In seinem umweltgeschichtlichen Dissertationsprojekt zum vormodernen Flussmanagement in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erforscht er die einsetzende, langfristige Transformation der Flusslandschaft des Tiroler Inns. Ein weiteres Projekt beschäftigt sich mit der „Kultivierung öder Gründe“ im Unterinntal auf der Grundlage von umfangreichem historischen Kartenmaterial aus Archiven in Innsbruck, München und Wien.

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