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Dorothea Merl prende il fresco und kehrt zurück in die Stadt

Die aus Innsbruck stammende Schriftstellerin Dorothea Merl (1920–2012), die im Brotberuf als Chemielaborantin arbeitete, spielte vor allem in der Tiroler Lyrik eine nicht unbedeutende Rolle. Merl stammte väterlicherseits aus einem Südtiroler Adelsgeschlecht und hatte – wie ein Blick auf die Titel ihrer Gedichte zeigt – ein besonderes Verhältnis zu Bozen und dem Ritten; vielleicht besaß sie dort sogar einen Wohnsitz.

Die hier angeführten Stücke sind ein Gedichtmanuskript auf zwei Blättern und die Kopie eines Korrekturausdrucks. Beide stammen aus dem Nachlass von Dorothea Merl. Das Gedicht Heimweg im Spätsommer wurde vermutlich im März 1970 verfasst. Es erschien ein Jahr später im Gedichtband Der Paradiesvogel.

Dorothea Merl. © Brenner-Archiv

Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sig. 152-08-03

Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sig. 152-08-03


Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Sig. 152-08-03


Das Gedicht beschreibt einen Heimweg – vielleicht von einer Wanderung – erst durch ländliches Gebiet, dann durch eine Stadt. Das lyrische Ich nimmt wahr – in der ersten Strophe die Natur, in der zweiten Strophe die Stadt, in der dritten Strophe die Befindlichkeit des eigenen Körpers.

In dem Gedicht sind zwar keine direkten Verweise auf einen Ort zu finden, aber es gibt einen klaren Bezug zu Südtirol: der blaue Schurz. Dieser ist ein traditionelles Kleidungsstück der Südtiroler Bauern. Vor allem im sogenannten Unterland und im Westen Südtirols ist er häufig zu sehen. Mittlerweile ist er auch eine Art Südtiroler Wahrzeichen geworden und wird in verschiedenen Ausführungen in fast jedem Souvenirshop verkauft. Vor allem bei Weinbauern ist er ein beliebtes Erkennungsmerkmal, und auch das lässt auf eine Sommerfrische im Süden Südtirols schließen. Flora und Fauna, die Merl in ihrem Gedicht beschreibt, sind typisch für die Gegend um das Rittner Horn und den Ort Maria Himmelfahrt. Seit jeher ist diese Siedlung ein Rückzugsort für Bozner*innen und Urlauber*innen. Sie besteht vor allem aus Sommerfrische-Häusern und alten landwirtschaftlichen Gebäuden. Zudem gibt es in der Nähe von Maria Himmelfahrt eine Aussichtsplattform (auf 1027m Höhe), die „Merltennen“ genannt wird.

In der zweiten Strophe erzählt Merl von einem Ort, der gar nicht dazu passt. Sie schreibt über die „schwarzen Kanäle“ der Nacht, „Bierreklamen“ und „Nightclubs“. Man könnte schlussfolgern, dass sich das Ich abends in Bozen aufgehalten hat, eine - wenigstens im Vergleich zu Maria Himmelfahrt - schnelllebige Großstadt. Als „übereinandergetürmte Betonschachteln" ließen sich die Hochhäuser am Bozner Stadtrand interpretieren.

Wie in der Literaturkritik anmerkt wurde, steht in Merls Lyrik immer das „Ich“ im Vordergrund, der Zugang zum „Du“ bleibt dagegen unwichtig. Das verleiht den Werken jedenfalls eine persönliche Note, die es den Leser*innen ermöglicht, sich leichter in die Situation des Ichs hineinzuversetzen.

Marisa Casartelli

*) prendere il fresco, ital.: sich erfrischen

 

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Literatur

Dorothea Merl: Heimweg im Spätsommer. Manuskript und Kopie eines Korrekturausdrucks, Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Nachl. Dorothea Merl, Sig. 152-008-003.

Dorothea Merl: Heimweg im Spätsommer. In: Dies.: Der Paradiesvogel. [Gedichte]. Karlsruhe: Der Karlsruher Bote 1971.

Dorothea Merl. Nachlassverzeichnis. Online. (Hier auch das Foto der Autorin.) 

Wilhelm Bortenschlager: Geschichte der spirituellen Poesie. Entstehung, Aspekte, Tendenzen, Dichter, Dichtung. Eine Bestandsaufnahme. Darmstadt: J.G. Bläschke 1977.


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