Foto von Ludwig Steiner vor dem Hauptgebäude der Uni Innsbruck

Lud­wig Stei­ner

 „Politik muss dem Menschen dienen“

Ein fiktives Gespräch mit Ludwig Steiner – erstellt in Zusammenarbeit mit seinem Neffen Dr. Raimund Steiner, selbst Alumnus der Universität Innsbruck.

Herr Steiner, was hat Sie damals an die Universität Innsbruck gezogen? Nach dem Krieg war mir klar: Ich wollte aktiv Verantwortung übernehmen und zum Wiederaufbau meines Landes beitragen. Bereits während des Krieges begann ich mit dem Studium der Volkswirtschaft - aus innerer Überzeugung und mit dem Ziel, die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge unserer Zeit besser zu verstehen. Politik bedeutete für mich nie Selbstzweck, sondern eine Verpflichtung gegenüber den Menschen.

Innsbruck war für mich mehr als nur ein Studienort. Es war meine Heimat, ein Ort der Verwurzelung und des Neubeginns zugleich. Die Universität wurde zum Symbol für Aufbruch und Erneuerung - in enger Verbindung mit meiner Herkunft, meiner Familie und meinem Land.

Was meinen Sie damit genau – gab es prägende Erfahrungen in Ihrer Jugend? Ich wuchs in einem christlich-sozialen Elternhaus in Innsbruck auf. Mein Vater war Bäckermeister und Gemeinderat - ein einfaches Leben, geprägt von Verantwortung und Werten.

Schon vor dem „Anschluss“ 1938 spitzte sich die politische Lage zu. In der Schule kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen mit illegalen Nationalsozialisten. Innerhalb unserer katholischen Jugendgruppe, besonders im Umfeld der Jesuiten, entwickelte sich Widerstand gegen das NS-Regime. Mein Vater stimmte bei der Volksabstimmung 1938 gemeinsam mit meiner Mutter mit „Nein“. Beide wurden anschließend zur Gestapo vorgeladen. Im September 1939 wurde er, nachdem er im Gemeinderat öffentlich vor der Kriegsgefahr durch Hitler warnte, unter dem Vorwand einer Anzeige wegen des Hörens eines fremden Radiosenders, verhaftet und schließlich in das KZ Dachau deportiert.

Bei einem Verhör durch die Gestapo wurde mir suggeriert mein Vater käme vom KZ frei, sollte ich mich zur SS melden. Auf Grund vieler Familiengespräche um seine Standhaftigkeit in der Ablehnung des NS-Regimes und um sein bewusstes in Kauf Nehmen der gnadenlosen Konsequenzen wissend sowie Dank der Bestärkung meiner Mutter konnte ich mit diesem schweren Gewissenskonflikt fertig werden und lehnte ab. 

Diese Erfahrung hat unsere Familie nachhaltig geprägt und mein weiteres Leben wesentlich beeinflusst.

So früh begann für Sie der Widerstand? Wir wollten nicht in die Hitlerjugend, also gründeten wir 1938 die Jugendbergwacht. Offiziell war es eine Gruppe mit Sanitätsausbildung und Rettungseinsätzen. In Wahrheit war es unser Weg, dem Uniformzwang zu entkommen.

Ich erinnere mich an eine Aktion: Wir blockierten einen HJ-Bus bei der Jesuitenkirche und schoben ihn beiseite. Entscheidend war nicht nur der einzelne Akt, sondern auch  der Alltag - Widerstand im Kleinen, Tag für Tag.

Später wurden Sie dennoch zur Wehrmacht eingezogen, waren aber dann im aktiven Widerstand tätig. 1941 knapp nach meiner Matura wurde ich zunächst zum Arbeitsdienst und anschließend zur Wehrmacht einberufen. Nach einem Fronteinsatz erlitt ich eine schwere Verwundung, die mich dauerhaft vom aktiven Dienst ausschloss. Zurück in Innsbruck im Sommer 1943, kam ich zum Ersatzbataillon und übernahm dort Aufgaben als Adjutant des Kommandanten Major Heine, der selbst im Widerstand war. Diese Position verschaffte mir - neben der Möglichkeit des Studiums - den Spielraum, ein Netzwerk zu vertrauenswürdigen Gruppen aufzubauen. Es war meinerseits ein bewusster Schritt in den aktiven Widerstand.

Neben den bekannten Verbindungen zur Widerstandsgruppe O5, ist an dieser Stelle der Ende 1944 sich verdichtende Aufbau des militärischen Widerstands, mit Hilfe verlässlicher Universitätsprofessoren und Mitgliedern der damals illegalen katholischen Studentenverbindungen innerhalb der Studentenkompanien, besonders erwähnenswert.

Unser Ziel war klar: Innsbruck wird selbständig durch den Widerstand befreit, um die kampflose Übergabe an die Amerikaner zu ermöglichen. Es ging darum, weiteres sinnloses Blutvergießen und Zerstörung zu verhindern.

Wie lief diese Übergabe ab? Nach Übernahme der Kontrolle der Innsbrucker Kasernen, des Landhauses, des Radiosenders, der Aushebung der Führung der Wehrmacht und der Partei durch den Widerstand erhielt ich den Auftrag, in der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1945 Kontakt zu den im Westen über Scharnitz heranrückenden amerikanischen Truppen aufzunehmen. War Innsbruck zu diesem Zeitpunkt faktisch befreit, wurde in der Umgebung noch gekämpft. So ging ich bewusst das Risiko ein, zwischen die Linien zu gehen. Ich trug eine Rot-Weiß-Rote Armbinde mit dem Hinweis auf den österreichischen Widerstand O5.

Trotz der bedrohlichen Lage gelang es mir, bis Reith bei Seefeld durchzukommen. Dort konnte ich den Offiziersstab der sogenannten „Cactus Division“ überzeugen, dass sie auf keine Gegenwehr stoßen werden. So erfolgte am 3. Mai 1945 die kampflose Übergabe, des durch den Widerstand befreiten Innsbrucks, an die Amerikaner. Für uns war das ein Beweis: Mit Mut und Verantwortungsbewusstsein gelebtes christliches Wertesystem vermag Menschen die Freiheit zurückzugewinnen und weitere Gewalt zu verhindern.

Wie war für Sie die Rückkehr an die Universität nach dem Krieg? Nach all den Jahren der Unterdrückung, Gewalt und Zerstörung wieder an einer freien, demokratischen Universität zu studieren – das war ein deutliches Zeichen des Aufbruchs. Es war keine bloße Fortsetzung des Studiums. Wir Rückkehrer kamen mit anderen Erfahrungen – geprägt vom Krieg, aber mit dem klaren Willen, etwas Neues mitzugestalten.

Wir diskutierten über die Zukunft Österreichs, über Demokratie, Verantwortung und Erneuerung. Besonders eindrucksvoll waren jene Professoren, die selbst im Widerstand gewesen waren – sie standen für klare Werte, Standhaftigkeit und intellektuelle Redlichkeit.

Für mich war das Studium nicht Selbstzweck. Ich schloss es rasch ab, promovierte und übernahm parallel dazu erste politische Aufgaben – ein Einstieg, der schließlich zur Tätigkeit im Außenamt führte.

Wie hat sich Ihr beruflicher Weg dann entwickelt? Nach dem Krieg war ich Mitbegründer der Österreichischen Volkspartei Tirol. Politik verstand ich stets als Dienst an der Gemeinschaft. Früh wurde ich in außen- und staatspolitische Fragen eingebunden, unter anderem als Staatsekretär im Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten in der Regierung Gorbach.

Parallel begann meine Laufbahn im diplomatischen Dienst – mein zweites berufliches Standbein, während das politische Engagement der rote Faden blieb. Im Außenministerium befasste ich mich intensiv mit der Südtirol-Frage, in der sich nationale Verantwortung, Minderheitenschutz und Außenpolitik überschnitten.

Später war ich Gesandter in Sofia, Botschafter in Athen und Zypern, habe die Machtübernahme der Junta erlebt und die Jahre der Militärdiktatur. Die Neutralität Österreichs verschaffte mir dort Zugang zu sensiblen Gesprächen, etwa zur Zypern-Frage.

In die Innenpolitik kehrte ich als Nationalratsabgeordneter zurück und leitete den außenpolitischen Ausschuss. Besonders bedeutend war für mich die Arbeit im Österreichischen Versöhnungsfonds – ein Ort, an dem sich die Erfahrungen von Krieg, Widerstand und Verantwortung in konkrete Hilfe für Verfolgte übersetzten.

Politik und Diplomatie waren für mich keine Gegensätze, sondern zwei Wege, einer gemeinsamen Aufgabe zu dienen: Österreich verantwortungsvoll zu einer besseren Zukunft zu verhelfen.

War das Volkswirtschaftsstudium die richtige Wahl für diesen Weg? Das Studium der Volkswirtschaft war für mich eine zentrale Grundlage. Es verband wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Fragestellungen – genau das, was mich interessierte.

Die Fähigkeit, analytisch zu denken, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und strategisch zu verhandeln, war später besonders in der Diplomatie von Bedeutung, etwa im Rahmen der Staatsvertragsverhandlungen 1955 in Moskau: Dort war es entscheidend, wirtschaftlich argumentieren zu können. Wir mussten vermitteln, dass Österreichs Neutralität nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich stabilisierend wirkt.

Mein volkswirtschaftlicher Hintergrund half, mit der nötigen Sachlichkeit und Weitsicht aufzutreten – eine Stärke, die in internationalen Gesprächen oft den Unterschied macht.

Sie sprechen den Staatsvertrag an – was bedeutete er für Sie persönlich? Der Staatsvertrag war ein Schlüsselmoment meiner Laufbahn. Er stand für die Wiedererlangung der österreichischen Souveränität, damit den Abschluss einer Epoche die 1938 begann und letztlich auch die Frucht des aktiven Widerstands war.

Ich war Teil der Delegation bei den Verhandlungen und erlebte, wie aus der Perspektive der Moskauer Deklaration von 1943 – die Österreich als zu befreiende Nation sah – 1955 politische Realität wurde.

Für mich war der Staatsvertrag mehr als ein diplomatischer Erfolg: Er war Ausdruck einer fairen internationalen Ordnung, in der Österreich seinen Platz als neutraler und unabhängiger Staat fand.

Gibt es etwas, das Sie heute anders machen würden? Ich blicke dankbar auf ein breites, vielschichtiges Leben zurück – geprägt von Verantwortung, aber auch von Chancen, mitgestalten zu dürfen. Vermutlich hätte man manches im Detail noch besser machen können. Doch im Rückblick überwiegt das Gefühl, auch den schwierigen Herausforderungen mit Haltung begegnet zu sein.

Mein Engagement war oft ehrenamtlich, getragen von der Überzeugung, dass der Einsatz für das Gemeinwohl der rote Faden meines Lebens ist. Dass ich diesen Weg gehen konnte, verdanke ich nicht zuletzt meiner Familie, die mir stets Rückhalt gegeben hat.

Trotz aller Brüche und Belastungen führte ich auf ein erfülltes Leben – ohne Reue.

Was möchten Sie heute noch erreichen – beruflich oder persönlich? Mein Wunsch ist, dass meine Arbeit weiterhin zur Versöhnung beiträgt – im Kleinen wie im Großen. Im Alltag durch Begegnungen, die Brücken bauen. Auf internationaler Ebene durch ein Österreich, das seine Neutralität aktiv und verantwortungsvoll lebt.

Neutralität bedeutet für mich nicht Rückzug, sondern Engagement – ähnlich dem Schweizer Modell. Österreich sollte als verlässlicher, unabhängiger Akteur für Frieden und Stabilität eintreten. Das ist für mich Ausdruck werteorientierter Politik.

Ebenso wichtig ist mir, dass die Universität Innsbruck ein Ort der freien, kritischen Auseinandersetzung bleibt. Bildung ist und bleibt das Fundament einer offenen und gerechten Gesellschaft.

Was raten Sie heutigen Studierenden? Engagieren Sie sich – die Universität ist mehr als ein Ort des Lernens. Sie ist ein Raum für Verantwortung, Autonomie und Freiheit. Demokratie und Menschenrechte sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern müssen immer wieder geschützt und gestärkt werden.

Nutzen Sie die Freiheit der Universität, um kritisch zu denken, eigenständig zu handeln und für Ihre Überzeugungen einzustehen. Damit leisten Sie einen Beitrag – für sich selbst und für die Gesellschaft.

Gibt es einen Ort in Innsbruck, der für Sie besonders bedeutend ist? Die Pfarre Mariahilf war einer meiner ersten prägenden Orte. Gemeinsam mit meinem Bruder war ich dort Ministrant – täglich vor der Schule. Es war eine Zeit des Glaubens, des frühen Engagements und einer stillen Hoffnung auf etwas Größeres.

Auch die Jesuitenkirche spielte eine besondere Rolle. Sie war mehr als ein Ort des Gebets – sie wurde in schwierigen Jahren zu einem Ort des Widerstands und des inneren Halts. Beide Kirchen stehen für mich bis heute für Kraft, Gemeinschaft und den Glauben an Erneuerung.

Was verbindet Sie heute noch mit der Universität Innsbruck? Die Erinnerung an junge Menschen, die damals den Mut hatten, gegen den Strom zu schwimmen, bleibt für mich lebendig. Und die Hoffnung, dass dieser Geist auch heute weiterlebt – still, aber wirkungsvoll.

Abschlussfrage an Herrn Raimund Steiner unseren Co-Autor: Möchten Sie noch etwas hinzufügen? Mein Onkel und mein Großvater – beide mit dem Namen Ludwig Steiner – waren für unsere Familie wichtige Vorbilder ebenso wie unsere Großmutter Rosa Steiner, die die Konsequenzen des Widerstandes ihres Mannes und Sohnes schmerzlichst aber ungebrochen mittrug. Ihr gemeinsames Leben stand für Zusammenhalt, Mut und Verantwortung. Diese Haltung wirkt bis heute weiter, auch in die nächsten Generationen. Für uns sind sie mehr als Teil der Familie – sie bleiben eine wichtige Erinnerung daran, was es heißt, für das Richtige einzustehen.

 

 

Stand: August 2025

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