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Wahrer Mensch UND wahrer Gott
(Muss man sich Jesus als gespaltene Persönlichkeit denken?)

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:Wie kann man davon reden, dass Jesus wahrer Mensch und zugleich wahrer Gott war und ist? Dies hat die Kirche einige Jahrhunderte lang beschäftigt. Im 20. Jahrhundert stellte sich die Frage noch einmal neu: wie kann man sich das denken ohne Jesus zu einer gespaltenen Persönlichkeit zu machen? In diesem Beitrag möchte ich ganz kurz den Stand der offiziellen kirchlichen Lehre und der wichtigsten Theologen der Tradition darstellen; danach möchte ich einen schnellen Blick ins Neue Testament werfen, ob es hilft unser Problem zu lösen; und als dritten Schritt möchte ich die Überlegungen, die sich zwei große Theologen des 20. Jahrhunderts zu unserem Problem gemacht haben, vorstellen.
Publiziert in:Breitsching, Konrad / Panhofer, Johannes (Hg.): Jesus. Vorträge der siebten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2006 (theologische trends 16). Innsbruck 2007, 85-118.
Datum:2010-04-12

Inhalt

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1 Das Problem

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Wer christlich sozialisiert ist, hat gelernt: Jesus Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott. Wenn aber jemand fragen würde, was das genau bedeutet und wie es miteinander vereinbar ist, dann würden die meisten Christinnen und Christen sicherlich nicht wissen, was sie darauf antworten sollten. Und das ist keine Schande. Die Kirche hat fast sieben Jahrhunderte gebraucht, um zu einer verbindlichen Sprache über Jesus zu finden, und seither sind TheologInnen damit beschäftigt, zu erklären, was sie eigentlich bedeutet. Besonders schwierig wird es, wenn wir uns überlegen, wie das mentale Innenleben Jesu gewesen sein könnte, also wie er gedacht, gewollt und gewusst hat.

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Gott ist—(nicht nur) nach christlicher Überzeugung—unter anderem allwissend; ein Mensch hingegen hat nur begrenztes Wissen. Lässt sich ein Kind in der Krippe denken, das nicht nur seinen eigenen Kreuzestod, sondern sogar schon die gesamte Weltgeschichte kennt? Bis in unsere Zeit herauf haben Menschen sich das Jesuskind so vorgestellt[1] und gibt es auch Aussagen des Lehramts, die so verstanden werden können.[2] In der Kunst wurde lange Zeit daher auch das Jesuskind häufig mit dem Gesicht eines alten Mannes dargestellt: die göttliche Allwissenheit wurde so ausgedrückt. Aber kann so ein Kind mit Recht ein menschliches Baby genannt werden?

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Heute mag vielen ein anderes Jesusbild sympathischer sein, eines, das Jesus als ganz normalen Menschen wie du und ich versteht. Aber kann man einen Menschen mit begrenztem Wissen noch zurecht als wahren Gott bezeichnen? Irren ist menschlich. Wenn Jesus sich aber geirrt hätte, könnte er dann noch die Selbstoffenbarung Gottes sein? Könnten wir uns noch darauf verlassen, dass er der Erlöser der Welt ist?

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Gott jedenfalls kann nicht irren. Will man also einerseits die wahre Gottheit Jesu festhalten, so scheint es, wir müssten ihm Allwissenheit und Irrtumsunfähigkeit zuschreiben. Will man aber die Menschheit Jesu festhalten, so scheint es, wir müssten zugeben, dass Jesus nicht immer alles wusste und auch irren konnte. Beides zugleich scheint nicht möglich zu sein—außer in einer gespaltenen Persönlichkeit. Doch damit ist das Problem erst recht nicht gelöst, sondern noch größer geworden. Ein solcher Jesus wäre ja ein Fall für die Psychiatrie (wohin ihn manche Leute wohl auch gerne stecken würden). Die christliche Theologie muss eine bessere Lösung für dieses Problem finden, damit die Lehre von Jesus Christus als wahrem Menschen und wahrem Gott glaubwürdig bleibt.

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In diesem Beitrag möchte ich ganz kurz den Stand der offiziellen kirchlichen Lehre und der wichtigsten Theologen der Tradition darstellen; danach möchte ich einen schnellen Blick ins Neue Testament werfen, ob es hilft unser Problem zu lösen; und als dritten Schritt möchte ich die Überlegungen, die sich zwei große Theologen des 20. Jahrhunderts zu unserem Problem gemacht haben, vorstellen.

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2 Die Lehre von Christus

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2.1 Das Dogma

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Wie erwähnt, hat sich die kirchliche Lehre über Christus über fast sieben Jahrhunderte entwickelt und zwar in einem sehr verwickelten, dramatischen und manchmal auch gewaltsamen Prozess. Dessen Einzelheiten können wir hier nicht wiedergeben. Es mag genügen, die Ergebnisse des Prozesses und einige theologische Highlights darzustellen.[3]

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Nach der Lehre der großen christologischen Konzilien—die übrigens von Katholiken, Orthodoxen und Protestanten gleichermaßen anerkannt sind—hat die zweite Person der Trinität, der göttliche Logos, menschliche Natur angenommen, so dass der dadurch entstehende Jesus Christus ganz Gott und ganz Mensch war. Das bedeutet, dass nicht etwa ein Mischwesen entstanden sei—so wie bei der Kreuzung eines Esels mit einer Pferdestute ein Maultier entsteht[4]—, sondern dieser Christus ist ohne Abstrich Gott und er ist ohne Abstrich Mensch.

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Dieses ohne Abstrich Gott und Mensch Sein drückte das Konzil von Chalzedon (451) so aus:

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„DER EINE UND SELBE ist vollkommen der Gottheit und vollkommen der Menschheit nach, wahrer Gott und wahrer Mensch, bestehend aus einer vernünftigen Seele und dem Leibe. DER EINE UND SELBE ist wesensgleich dem Vater der Gottheit nach und wesensgleich auch uns seiner Menschheit nach, ›er ist uns in allem ähnlich geworden, die Sünde ausgenommen‹ (Hebr 4,15). Vor aller Zeit wurde er aus dem Vater gezeugt seiner Gottheit nach, in den letzten Tagen aber wurde DERSELBE für uns und um unseres Heiles willen aus Maria, der Jungfrau, der Gottesgebärerin, der Menschheit nach geboren: Wir bekennen EINEN UND DENSELBEN CHRISTUS, den Sohn, den Herrn, den Einziggeborenen, der inzwei Naturen unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert besteht. Niemals wird der Unterschiedder Naturen WEGEN DER EINIGUNG aufgehoben, es wird vielmehr die Eigentümlichkeit einer jeden Natur bewahrt, indembeide IN EINE PERSON […] zusammenkommen. […]“ (NR[5] 178; vgl. DH[6] 301-303).

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Hierbei ist Folgendes zu beachten: Die Passagen in GROSSBUCHSTABEN betonen besonders, dass Christus einer ist—also nicht irgendwie gespalten; die fett gedruckten Ausdrücke halten klar die Gottheit Christi, bzw. seine göttliche Natur fest, so wie die kursiv dargestellten Passagen Jesu Menschheit, bzw. menschliche Natur benennen.[7] Von dieser menschlichen Natur wird dann noch gesagt, dass zu ihr die Leiblichkeit und die vernünftige Seele gehören—das eine gegen alle Ideologien, die den Leib als etwas Schlechtes vom wahren Menschen ausschließen wollten, das andere gegen jene, die meinten, der göttliche Logos würde in Christus an die Stelle der menschlichen Seele treten. In beiden Fällen wäre Christus um dieses Detail weniger menschlich als wir, und gerade das verneint das Konzil: er ist uns wesensgleich in seiner Menschheit. Die meisten dieser Passagen sind Zitate aus früheren Konzilstexten oder päpstlichen Schreiben.

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Zwei weitere Details sind hervorzuheben: Die hochgestellte Passage „für uns und um unseres Heiles willen“ ist aus dem Credo bekannt. Sie gibt den Grund für die Menschwerdung an und dieser Grund sind „wir“, d. h. die Menschen, für die die Gläubigen sprechen als diejenigen, die die Heilstat Christi erkannt haben. Gott wird Mensch „für uns und unser Heil“, nicht um sich selbst zu vervollkommnen oder eine neue Erfahrung zu machen. Der Grund für die Menschwerdung Gottes in Christus ist ein soteriologischer, das Heil der Welt betreffender.

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Die einfach unterstrichenen vier Adjektive „unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungesondert“ und die Betonung des Unterschieds und der Eigentümlichkeiten einer jeden Natur sind das eigentlich Neue dieses Konzils. Es sagt damit, dass die beiden Naturen durch ihre Vereinigung nicht ihre Eigenart verlieren, sich nicht „vermischen“ oder ändern, aber auch, dass durch die bleibende Unterschiedenheit keine Trennung in Christus besteht. Anders formuliert: Das Konzil dringt zu der Einsicht durch, dass etwas Unterscheiden nicht dasselbe ist wie etwas Trennen. Nur wenn das akzeptiert wird, ist es überhaupt möglich zu denken, dass ein und derselbe Gott und Mensch zugleich sein könne, ohne sich das als mythologisches Mischwesen vorzustellen, sondern als eine Person, die ohne Abstriche Gott ist und ebenso ohne Abstriche Mensch.[8]

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Die Einheit Christi besteht also in der Person, die Unterschiedenheit in den beiden Naturen. Es stellt sich nun die Frage, ob das geistige Leben—Erkennen und Wollen—eher der Person zuzurechnen ist oder der Natur. Unserem modernen Sprachverständnis nach würden wir wohl sagen: der Person, denn es sind Personen, die etwas denken, erkennen und wollen. Aber Vorsicht! In der Fachsprache der christologischen Konzilien haben die Ausdrücke „Person“ und „Natur“ eine andere Funktion und Bedeutung: Person bezeichnet den Einheitspunkt, in dem die Gottheit und die Menschheit Christi zusammenkommen; „Natur“ bezeichnet gerade diese beiden, die Menschheit und die Gottheit. Wenn Jesus ganz Mensch war, dann muss er eine menschliche Natur haben wie wir, und zu unserer menschlichen Natur gehört es, dass wir etwas auf ganz bestimmte Weise erkennen, wissen und wollen. Wenn Jesus ganz Gott war, dann muss er dieselbe göttliche Natur haben wie der Vater und der Heilige Geist und zu dieser göttlichen Natur gehört auch eine ganz spezifische Art zu erkennen, zu wissen und zu wollen.

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In der Sprache von Chalzedon gehören die geistigen Vollzüge also zur „Natur“, und unsere Frage müsste ungefähr so formuliert werden: Wie kann man es sich vorstellen, dass die Natur eines menschlichen Erkennens und die eines göttlichen Erkennens in einer Person existieren? Eine ganz ähnliche Frage stellten sich die Menschen damals auch. Sie fragten sich, ob die Natur des menschlichen Wollens und die des göttlichen Wollens in der einen (göttlichen) Person Jesu existieren könne.

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Darüber entbrannte ein Streit, der über zwei Jahrhunderte ging, obwohl Papst Leo I. (440-461) schon eine Lösung vorgeschlagen hatte. Diese wurde aber erst auf den dritten Konzil von Konstantinopel (680/81) allgemein anerkannt, das—Papst Leo und das Konzil von Chalzedon zitierend—formulierte:

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„Auch wir verkünden, dass gemäß der Lehre der heiligen Väter zwei natürliche Willen undzwei natürliche Wirkweisen ungetrennt, unverändert, ungeteilt und unvermischt in IHM [Christus] sind. Diesezwei natürlichen Willen sind einander NICHT ENTGEGENGESETZT, wie die ruchlosen Irrlehrer sagten. […] Wir lehren ferner, dasszwei natürliche Wirkweisen […] in unserem HERRN JESUS CHRISTUS […] sind, nämlich die göttliche Wirkweise und die menschliche, wie auch der gotterleuchtete Leo aufs Deutlichste bekennt: ›Denn es wirktjede der beiden ‚Ge-stal-ten‘ IN GEMEINSCHAFT MIT DER ANDEREN,was ihr eigen ist […]‹“ (NR 220-221; vgl. DH 556/57)

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Also: Weil zum wahren Menschsein eine menschliche Natur notwendig ist, und weil zur menschlichen Natur die Fähigkeit gehört, etwas auf menschliche Weise zu wollen, zu erstreben und zu entscheiden, hat Christus einen menschlichen Willen. Das gleiche gilt mutatis mutandis für die Göttlichkeit Jesu, also muss es in Jesus zwei Willensvermögen geben, ein menschliches und ein göttliches. Da sie aber IMMER ZUSAMMENWIRKEN, kann es KEINEN WIDERSPRUCH zwischen beiden geben, d. h. die beiden Willensvermögen wollen immer DASSELBE, ihr WILLENSOBJEKT ist EIN UND DASSELBE.[9] Von denbeiden Naturen, schreibt Leo, wirkt jede das, was ihr eigen ist, aber immer in GEMEINSCHAFT MIT DER ANDEREN. Wenn Jesus also isst, trinkt, schläft oder gar leidet, ist das eine Sache seiner menschlichen Natur; wenn er Gott offenbart, Wunder wirkt, gar Tote auferweckt, eine der göttlichen Natur; jede von beiden tut das aber jeweils in GEMEINSCHAFT MIT DER ANDEREN.

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Das Zweite Vatikanische Konzil hat diese Lehre aufgegriffen und mit Rückgriff auf Bibelzitate das wahre Menschsein Christi erläutert. Es lehrt:

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„Der ›das Bild des unsichtbaren Gottes‹ (Kol 1,15) ist, er ist zugleich der vollkommene Mensch […]. Da in ihm die menschliche Natur angenommen wurde, ohne dabei verschlungen zu werden, ist sie dadurch auch schon in uns zu einer erhabenen Würde erhöht worden. Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt. Mit Menschenhänden hat er gearbeitet, mit menschlichem Geist gedacht, mit einem menschlichen Willen hat er gehandelt, mit einem menschlichen Herzen geliebt. Geboren aus Maria, der Jungfrau, ist er in Wahrheit einer aus uns geworden, in allem uns gleich außer der Sünde [vgl. Hebr 4,15].“ (GS 22)[10]

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Die Betonung „ohne dabei verschlungen zu werden“ hält in bildhafter Sprache fest, dass die Menschheit Jesu durch ihre Verbindung mit seiner Gottheit nicht etwa unbedeutend und belanglos wird, so wie ein Tropfen Süßwasser im Ozean sich verflüchtigen würde; auch in diesem Fall wäre Christus ja nach der Vereinigung der beiden Naturen nicht mehr wahrer Mensch; er bleibt dies aber auf ewig. Neu betont das Zweite Vaticanum, dass sich Christus durch seine Menschwerdung „mit jedem Menschen vereinigt“ hat: das Ereignis der Inkarnation hat universale Bedeutung, auch über die Grenzen der sichtbaren Gemeinschaft der Kirche oder Israels hinaus.

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2.2 Theologische Highlights

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Die Lehre von den zwei Willen Jesu hat ein großer Theologe des 7. Jahrhunderts an einer Analyse des Ölberggebetes Jesu entwickelt. Heute eignet sich diese Analyse des Maximus Confessor (580-662) sehr gut dazu, diese Lehre zu illustrieren. Das Gebet lautet:

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„Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir!
Aber nicht, was ich will, sondern was du willst(soll geschehen)“.[11]

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Maximus hat es so analysiert: Die Bitte, das Leid zu vermeiden, oder was im letzten Satz mit was ich will bezeichnet ist, drückt ein Naturstreben Jesu aus. Jedes leidensfähige Lebewesen, damit auch jeder Mensch, strebt von Natur aus danach, Leid zu vermeiden, so auch die menschliche Natur Jesu. Der Weg ans Kreuz, was du willst, ist nicht nur der Wille des göttlichen Vaters, sondern eo ipso auch der Wille der göttlichen Natur Christi (denn der göttliche Wille ist in allen drei Personen der Trinität immer derselbe, weil sie ja dieselbe Natur haben).[12] Anders als Tiere können wir Menschen uns aber noch einmal von unserem Naturstreben distanzieren und mit unserem Willen entscheiden, ob wir ihm folgen oder nicht. So hat ein Mensch etwa einen natürlichen Impuls, aus einem brennenden Haus zu fliehen. Wenn aber noch ein Kind im Haus schläft, kann man sich gegen diesen Impuls entscheiden und—unter Lebensgefahr—versuchen, das Kind zu retten. So hat sich Christus, nach Maximus Confessor, auch gegen den Impuls entschieden, das Kreuz zu vermeiden. Er hat also mit seinem menschlichen Willen entschieden, nicht dem Naturstreben, sondern dem göttlichen Willen zu folgen. Im Gebetstext drückt sich das in den zwei Wörtern nicht … sondern aus: nicht das Naheliegende, sondern das Schwierigere, weil es dafür gute Gründe gibt, bzw. weil es dem Willen Gottes entspricht.[13]

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In der Logik dieser Lehre liegt es also auch, dass Jesus ein menschliches und ein göttliches Erkennen und Wissen hatte. Doch unser Problem, wie das denn in einer Person zusammengehen könne, löst es leider nicht.

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Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), einer der großen Theologen des Mittelalters, hat eine sehr differenzierte Lehre über das Wissen Jesu entfaltet, die hier nur ganz knapp zusammengefasst werden kann.[14] Nach Thomas kommen Christus drei Arten von Wissen zu: 1) Das göttliche Wissen, das er in seiner „visio beatifica“, der „seligen Schau Gottes“, hat. Mit diesem Fachausdruck wurde die Beziehung, welche die endgültig Erlösten im Himmel zu Gott haben, bezeichnet. Da Christus Gott ist und da wir, wenn wir die selige Schau einmal erlangen sollten, diese durch Christus haben, ist für Thomas zwingend, dass Jesus sie bereits zu Lebzeiten hatte. 2) Ein der menschlichen Seele Jesu vom Logos eingegossenes Wissen. Es ist ein menschliches Wissen, aber es ist von Anfang an vollkommen, da von Gott eingegossen, und enthält alles, was für einen Menschen überhaupt zu begreifen ist. Und 3) schließlich ein menschliches, erworbenes Wissen.

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Die ersten beiden Arten von Wissen wurden in der Scholastik allgemein angenommen, hier blieb Thomas konventionell. Mit der Annahme eines erworbenen Wissens brachte er aber etwas Neues, er korrigierte sich in dieser Frage sogar ausdrücklich selbst, denn früher hatte er gelehrt, Christus habe kein erworbenes Wissen gehabt.[15] Die Begründung für die neue Lehre: Zu einem menschlichen Verstand gehöre die Fähigkeit, sich selber aktiv Wissen anzueignen. Hätte Christus diese Fähigkeit nie genutzt, wäre sie sinnlos gewesen. Gott schaffe aber nichts Sinnloses. Also folgt aus der Lehre, dass Christus wahrer Mensch ist, auch, dass er mit seinem menschlichen Verstand Wissen erworben hat. Diesen Erwerb versteht Thomas ganz nach der Erkenntnislehre, die er von Aristoteles übernommen hat: Christus lernt, indem er mit seinem aktiven Verstand (intellectus agens) von der sinnlichen Wahrnehmung abstrahiert und so allgemeine Zusammenhänge erkennt. Thomas verneint, dass Jesus von anderen Menschen etwas gelernt haben könnte, denn dieser sei der Lehrer der ganzen Menschheit. Dem würde es widersprechen, wenn er seinerseits von Menschen gelernt hätte. Er habe also ausschließlich durch Anwendung seines Verstandes auf die Welt gelernt, nicht durch Unterweisung von Menschen.[16]

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Thomas rechnet also damit, dass Jesus als Mensch Wissen erworben hat, aber er hilft uns bei den Problemen der Vereinbarkeit von göttlichem und menschlichem Wissen nicht weiter. Vielmehr verschärft sich die Frage noch einmal dadurch, dass Thomas auch zwei Arten des menschlichen Wissens Christi—das eingegossene und das erworbene—annimmt. Wie kann denn jemand einerseits aufgrund des eingegossenen Wissens alles schon wissen und dann anderseits manche Dinge des schon so Gewussten noch einmal selber herausfinden, und das ohne eine gespaltene Persönlichkeit zu sein? Und: Kann es ein menschliches Kind geben, das nichts von seinen Eltern lernt? Kann einer am Kreuz leiden und doch gleichzeitig die selige Schau Gottes haben?

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3 Ein Blick in die Bibel

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Nun haben die alten Theologen diese für uns etwas seltsamen und abstrakten Überlegungen ja nicht aus bloßer Lust am Spekulieren angestellt, sondern um besser zu verstehen, wer der Jesus, von dem das Neue Testament spricht, war. Wir könnten daher den Spieß nun umdrehen und ein wenig im Neuen Testament nach einer Antwort auf unsere Frage suchen. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass es unsere Frage ist, die wir an die Bibel herantragen. Die biblischen Autoren hatten unser Problem nicht und haben es daher auch nicht direkt beantwortet. Außerdem kann es hier nicht darum gehen, in einer genauen exegetischen oder bibelwissenschaftlichen Weise den Text zu untersuchen. Es sollen nur ein knapper, zugegebenerweise auch oberflächlicher, Rundblick gewagt und einige ins Auge stechende Aussagen herausgegriffen werden. Dennoch können wir versuchen, in dem, was die biblischen Autoren über Jesus schrieben, Anhaltspunkte für eine Lösung unseres Problems zu finden.

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Zunächst müssen wir feststellen, dass es im NT sowohl Aussagen gibt, die ein unbegrenztes Wissen Jesu vorauszusetzen scheinen, als auch solche, die eine klare Begrenzung aussagen. Des Öfteren heißt es, Jesus wusste, was sein Gegenüber insgeheim dachte,[17] er sagte Dinge vorher, die dann tatsächlich eintraten, und beanspruchte, mit letzter Autorität im Namen Gottes das Gesetz auszulegen[18]. Andererseits heißt es, dass Jesus sich wunderte, was ja voraussetzt, dass er mit etwas nicht gerechnet hat, und dass er Menschen, die nicht glaubten, nicht heilen konnte.[19] Er sprach ausdrücklich davon, dass bestimmte Dinge nur dem Vater, nicht aber dem Sohn, bekannt und bestimmte Entscheidungen dem Vater vorbehalten seien.[20] Man könnte in diesen verschiedenen Aussagen die Unterscheidung des göttlichen und des menschlichen Wissens Jesu erkennen.

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Besondere Schwierigkeiten machen einige Aussagen im Johannesevangelium. Da heißt es etwa: „Der Vater liebt den Sohn und hat alles in seine Hand gegeben.“ (Joh 3,35) Und: „Jesus […] wusste, dass ihm der Vater alles in die Hand gegeben hatte und dass er von Gott gekommen war und zu Gott zurückkehrte“ (Joh 13,3). Die Jünger bekennen Jesus: „Jetzt wissen wir, dass du alles weißt und von niemand gefragt zu werden brauchst. Darum glauben wir, dass du von Gott gekommen bist.“ (Joh 16,30) Es finden sich aber auch bei Johannes Stellen, die den Eindruck, Jesus sei allwissend gewesen, wieder relativieren. Er sagt etwa zu den Jüngern: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ (Joh 15,15) Danach müssten also, wenn Jesus allwissend war, auch die Jünger allwissend gewesen sein, und diese seltsame Annahme ist auch der Tradition ganz fremd.

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Das Problem lässt sich lösen, wenn man das „Alles“, nicht als eine Summe von Wissensgehalten, sondern als soteriologische Qualifikation versteht: alles, was um des Heiles der Menschen Willen notwendig ist. Dies ist schon seit langer Zeit die Umschreibung des von Gott Geoffenbarten: Er hat nicht irgendwelche interessanten Dinge uns mitgeteilt, um unsere Neugier zu befriedigen, sondern er hat sich selbst geoffenbart; damit einher geht ein Wissen über die Dinge, die zum Heil der Menschen erfordert sind. Die Konzilien haben die Soteriologie überhaupt als Grund der Menschwerdung angegeben (vgl. oben S. 3). Es läge also ganz in ihrer Denklinie, die Soteriologie auch als Grund und Maß des Wissens Jesu zu nehmen. Diese Art von „Allwissenheit“ müssen wir Jesus zuschreiben und wir können sie auf ähnliche Weise auch den biblischen Autoren zuschreiben, denn gerade sie gelten uns ja als diejenigen, die die Offenbarung niedergeschrieben und uns so über die Zeit zugänglich gemacht haben.

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Wir können also feststellen, dass uns auch das Johannesevangelium nicht zwingt, eine quantitative Allwissenheit Jesu anzunehmen, sondern nur eine qualifizierte. Wie das Dogma hält das NT fest, dass es in Jesus göttliches und menschliches Wissen gibt, aber auch es klärt nicht, wie beides zusammengehen kann. Zwei Stellen allerdings könnten uns noch einen Schritt weiterhelfen:

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Der Hebräerbrief stellt eine kühne Behauptung auf: „Obwohl er [Christus] der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt; zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden“ (Hebr 5,8f.). Hier wird deutlich gesagt, dass Jesus etwas gelernt hat, und, dass er zur Vollendung gelangt ist, also in einem bestimmten Sinne nicht schon von Anfang an vollendet war.

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Noch deutlicher und für die folgenden Überlegungen wichtiger wird dies in dem berühmten Christushymnus aus dem Brief an die Philipper:

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6 Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, 7 sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; 8 er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. 9 Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, 10 damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu 11 und jeder Mund bekennt: ›Jesus Christus ist der Herr‹—zur Ehre Gottes, des Vaters.“ (Phil 2,6-11)

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Dieser Hymnus betont das Gottsein und Menschsein Jesu, er spricht aber von einer Tat des göttlichen Christus, die seiner Menschwerdung vorausging: Er entäußerte sich. Das griechische Wort dafür, kenovw, bedeutet so viel wie „sich leer machen“, etwas, das man besitzt, „aufgeben“ oder „beiseite legen“. Man könnte dies also so verstehen, dass Christus in der Menschwerdung einige seiner göttlichen Eigenschaften (auch seine quantitative All-wis-sen-heit?) beiseite gelegt hat. Nach diesem Verständnis wäre es gar nicht notwendig, dass das göttliche und das menschliche Wissen zugleich im irdischen Jesus vorhanden wären. Es würde genügen, während seines irdischen Lebens ein menschliches Wissen in Jesus anzunehmen. Die Gefahr der gespaltenen Persönlichkeit wäre dann nicht mehr gegeben.

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Allerdings stellte sich dann die Frage, wie denn all die Bibelstellen zu verstehen sind, die vom Vorherwissen Jesu reden und wieso jemand mit so einem menschlichen Wissen zurecht wahrer Gott genannt wird. Sollten wir dann nicht besser sagen, Jesus sei ein großer Prophet gewesen, aber eben nicht Gott? Im Dialog mit anderen Religionen täten wir uns so vielleicht leichter, aber würden wir nicht die Identität des Christlichen verlieren? Und deshalb war es zwei großen Theologen des vergangenen Jahrhunderts sehr wichtig, sich Gedanken darüber zu machen, wie ein Jesus, dessen Selbstbewusstsein unserem ganz ähnlich strukturiert war, dennoch zurecht wahrer Gott genannt werden kann. Deren Überlegungen möchte ich nun knapp darstellen.

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4 Zwei Vorschläge im 20. Jahrhundert

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4.1 Karl Rahner

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Karl Rahner (1904-1984) ist nicht nur als wichtiger Theologe des 20. Jahr-hun-derts berühmt, sondern auch für seine langen und komplizierten Sätze berüchtigt. Ich will versuchen, ihn so einfach wie möglich darzustellen.[21]

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Bevor Rahner sich dem eigentlichen Problem zuwendet, macht er wichtige Vorüberlegungen darüber, was es heißt, dass jemand etwas weiß. Spontan gehen wir davon aus: jemand weiß einen Sachverhalt, wenn er mir auf eine diesbezügliche Frage die richtige Antwort geben kann. Unser ganzes Prüfungswesen in Schulen und auch hier auf der Universität baut darauf auf: ich frage eine Prüfungskandidatin und wenn sie die richtige Antwort gibt, dann weiß sie die Sache. Rahner macht uns darauf aufmerksam, dass es ganz so leicht nicht ist mit dem Wissen. Es kann nämlich geschehen, dass jemand uns etwas als neue Erkenntnis mitteilt, und unsere Reaktion darauf ist: „Das ist für mich gar nichts Neues, das habe ich schon lange gewusst,—aber ich muss zugeben: ich habe es nie gesagt und hätte es wohl auch nicht richtig ausdrücken können. Irgendwie habe ich es gewusst, aber irgendwie auch nicht.“ Rahner schreibt:

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„Wissen ist ein vielschichtiges Gebilde, so dass bezogen auf diese verschiedenen Bewusstseins- und Wissensdimensionen durchaus etwas zugleich gewusst und nicht gewusst sein kann. […] Das menschliche Bewusstsein ist ein unendlich vieldimensionaler Raum: es gibt reflex Bewusstes und Randbewusstes, Bewusstes und ausdrücklich Bemerktes, ein gegenständlich be-griffliches Bewusstsein und ein transzendental und unreflex am subjektiven Pol des Bewusstseins angesiedeltes Wissen, es gibt Gestimmtheit und satzhaftes Wissen, es gibt zugelassenes und verdrängtes Wissen, es gibt seelische Vorkommnisse im Bewusstsein und deren reflexe Interpretation, es gibt das Wissen ungegenständlicher Art des formalen Horizontes, innerhalb dessen ein bestimmter erfasster Ge-gen-stand zu stehen kommt, als ungegenständlich bewusste apriorische Bedingung des aposteriorisch erfassten Ge-gen-stan-des und das Wissen um diesen selbst.“[22]

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Wir müssen nicht jede Einzelheit dieses Zitats verstehen, um Rahners Gedankengang weiter zu folgen, aber einige Dinge sollten deutlich werden. Ein gegenständlich, be-griffliches Bewusstsein ist gerade jenes, das in Prüfungen abgefragt wird: Ich frage nach einem Ge-gen-stand und der Prüfling hat—hoffentlich—die richtigen Be-grif-fe parat, mir diesen darzulegen. Ganz anders dagegen ein unreflexes oder unthematisches Wissen. Das ist ein Wissen, über das ich noch nie reflektiert habe, das ich noch nie zum Thema meiner Überlegungen oder Aussagen gemacht habe, so dass mir selber vielleicht gar nicht direkt bewusst ist, dass ich dieses Wissen habe; aber ich lebe danach, und wenn man mein Handeln analysiert, kann man feststellen, dass ich das weiß.[23]

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Ein schönes Beispiel dafür sind etwa die Grundgesetze der Aussagenlogik: Schon Kinder ab einem gewissen Alter kennen sie und können sie doch nicht formulieren. Wenn man einem Kind eine Geschichte erzählt, die dieser Logik widerspricht, wird es nicht etwa sagen: „Diese Geschichte verstößt gegen das Gebot des ausgeschlossenen Dritten im Falle eines kontradiktorischen Widerspruchs.“ Es wird einfach ausrufen „Das geht ja gar nicht!“ Wer aber Logik studiert hat und daher die Gesetze der Logik auch be-grifflich-reflex kennt, kann feststellen: Unthematisch und unreflex weiß das Kind dieses logische Gesetz und hat es richtig angewendet, und es weiß daher, dass die Geschichte nicht wahr sein kann.[24]

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Rahners erster—überraschender—Punkt ist also etwas überspitzt formuliert: es kann sein, dass man etwas weiß, ohne zu wissen, dass man es weiß. Umgangssprachlich nennen wir so ein Wissen wohl „intuitiv“.

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Ein zweiter Punkt: Ein Teil des unreflex Bewussten ist „transzendental […] am subjektiven Pol des Bewusstseins angesiedeltes Wissen“. Das meint all jenes Wissen, das unthematisch mit meinem Selbstbewusstsein mitgegeben ist und das es mir überhaupt erst ermöglicht, anderes wahrzunehmen und gegenständlich zu wissen, das aber diese meine Wahrnehmung und Erkenntnis von anderem auch färbt—manchmal zum Nachteil dessen. Wenn ich mich der Welt, anderen Menschen und Dingen, zuwende, dann tue ich das immer schon mit meinen Erfahrungen, Urteilen und Vorurteilen, bin mir aber dieser gerade nicht reflex bewusst. Ja noch mehr: Der menschliche Verstand hat bestimmte Bedingungen, ohne die er überhaupt nicht arbeiten könnte, die noch vor jeder Erfahrung ihn prägen—diese heißen apriorisch. Dazu gehört etwa die Annahme, dass es sinnvoll ist, etwas erkennen zu wollen, dass es auf Fragen auch eine Antwort geben muss und auf manche Fragen nur eine richtige Antwort geben kann, etc. Und dazu gehört, nach Rahner, auch ein Wissen um mich selbst als jemanden, der denkt und fragt und handelt.

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„Es gibt unter diesen Wissensformen ein apriorisches ungegenständliches Wissen um sich selbst als eine Grundbefindlichkeit des geistigen Subjektes, in der es bei sich ist und gleichzeitig seiner transzendentalen Verwiesenheit auf das Ganze der möglichen Ge-gen-stän-de der Erkenntnis und der Freiheit inne ist. Diese Grundbefindlichkeit ist kein gegenständliches Wissen, normalerweise beschäftigt man sich nicht mit ihr; die Reflexion holt diese Grundbefindlichkeit nie adäquat ein, selbst wenn sie sie ausdrücklich anzielt; das be-grifflich reflexe Wissen um sie, selbst dort, wo es gegeben ist, ist nicht sie selbst, sondern nochmals von ihr getragen, und holt darum schon diese ursprüngliche Befindlichkeit nie adäquat ein.“[25]

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Selbst dort also, wo wir versuchen, das, was wir normalerweise nur unthematisch über uns selbst wissen, zum Thema zu machen, darüber nachzudenken und es in Worte zu fassen, können wir das nur stückweise und nie so, dass unser reflexes Wissen alles enthält, was unreflex gegeben ist. Rahner spricht davon, dass wir uns dem nur „a-symp-to-tisch“ annähern und dieses Annähern von den äußeren Bedingungen und Gegebenheiten (also unserer Umwelt, Kultur, Sprache etc.) abhängig ist.[26]

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Nun können wir uns direkt Rahners Überlegungen zum Wissen und Selbstbewusstsein Christi zuwenden.

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Hier geht Rahner zunächst auf die Frage ein, ob man dem irdischen Jesus eine selige Gottesschau (visio beatifica Dei) zuschreiben müsse, wie das Thomas und mit ihm die ganze Tradition angenommen hatte. Rahner lehnt dies ab, weil es weder mit der Todesangst Jesu, noch mit seinem Gefühl der Gottverlassenheit und mit seinem Leiden vereinbare wäre, es sei denn, man würde ihn tatsächlich als gespaltene Persönlichkeit sehen.[27] Rahner hält aber entschieden daran fest—und hält dies für den eigentlichen Kern der traditionellen Aussagen—, dass Jesus eine unmittelbare Gottesschau, eine visio immediata Dei, hatte. Er argumentiert, dies folge notwendig aus der Lehre der Konzilien, dass die menschliche und göttliche Natur Jesu in der göttlichen Person des Logos geeint sind, weil der göttlichen Wirklichkeit in Jesus auch ein göttliches Bewusstsein entsprechen müsse.[28] Denn die Inkarnation „besagt die Selbstmitteilung des absoluten Seins Gottes, so wie es im Logos subsistiert, an die menschliche Natur Christi als die von ihm hypostatisch getragene. Sie ist die denkbar höchste—ontologisch höchste—Aktualisation einer geschöpflichen Wirklichkeit, die überhaupt möglich ist, die höchste Seinsweise, die es außerhalb Gottes überhaupt gibt […].“[29] Und eine solche müsse „notwendigerweise sich bewusst sein“[30]. Da es eine menschliche Natur ist, die so erhoben wird, und zur menschlichen Natur geistige Erkenntnis und Selbstbewusstsein gehören (und zur göttlichen Natur ja ohnehin), muss zu dieser Erhebung auch eine Erhebung der Erkenntnis und des Selbstbewusstseins gehören, sonst würde die Einigung nicht einmal der menschlichen Natur Christi gerecht, von der göttlichen ganz zu schweigen.[31]

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Überraschend dürfte nun für manche sein, was Rahner daraus ableitet: Wenn die visio immediata Dei, die Christus zukommt, so eine Erhöhung seines Selbstbewusstseins ist, dann ist sie nicht die gegenständliche Schau eines Gegenübers, sondern sie ist „eine Grundbefindlichkeit des Geistes Jesu von der substantiellen Wurzel dieser kreatürlichen Geistigkeit her“[32] oder „nichts anderes […] als das ursprüngliche, ungegenständliche Gottessohnbewusstsein, das einfach schon damit gegeben ist, dass diese Hypostatische Union ist[33]. Dieses Bewusstsein und Wissen ist daher auch „am subjektiven Pol des Bewusstseins Jesu gelegen“[34].

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Erinnern Sie sich, was Rahner vorher über das ungegenständliche, unthematische Wissen am subjektiven Pol unseres Bewusstseins sagte? Wir wissen es und wissen es doch nicht, und dennoch bestimmt es wesentlich, was wir sagen und tun, weil es unser Selbstbewusstsein ist. Das göttliche Bewusstsein Jesu ist für Rahner ganz ähnlich zu denken. Für uns wie für Jesus gilt:

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„Diese Grundbefindlichkeit eines Menschen, […], seine Einheit von Wissen und Tat, sein frei getätigtes Selbstverständnis sind nicht erst in ihm bewusst gegeben, wenn er darüber nachdenkt, wenn er darauf reflektiert, darüber Sätze bildet, die verschiedensten Interpretationen dieser Wirklichkeit erwägt. Immer und überall, wo er […] ist und handelt, dort also, wo er intentional sich mit den alltäglichsten äußeren Wirklichkeiten beschäftigt, ist dieses sein Vonsichwegblicken auf die äußere Gegenständlichkeit hin getragen von diesem unthematischen, unreflexen, vielleicht gar nie reflektierten Wissen um sich selbst, von einem schlichten Sichselbsthaben […] in der Weise dieser […] Grundbefindlichkeit […] des Horizontes, innerhalb dessen alles Umgehen mit den Dingen und Be-grif-fen des Alltags geschieht.“[35]

59
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Jesus unterscheidet sich von uns darin, dass bei ihm „zu dieser innersten, ursprünglichen, alles andere Wissen und Tun tragenden Grundbefindlichkeit […] nun auch […eine ] Gottunmittelbarkeit“[36] gehört, ein intuitives, quasi selbstverständliches Bewusstsein der Einheit mit Gott.

60
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Rahner schließt seine Überlegungen, indem er einige Folgerungen für das Wissen Jesu zieht. Ein Vorteil, die Gottesschau Jesu so zu entwerfen, wie Rahner es tut, besteht darin, dass dies „nicht nur vereinbar [ist] mit einer echt menschlichen geistigen Geschichte und Entwicklung des Menschen Jesu [sic], sondern […] sie darüber hi-naus [fordert]“[37]. Denn die Art und Weise, wie sich nun dieses Selbstbewusstsein a-symp-to-tisch thematisiert, reflektiert und schließlich be-grifflich ausdrückt, ist bei Jesus nicht anders als bei uns. Es geschieht in einer „geistigen Geschichte zu sich selbst“[38], die sich „immer in der Begegnung mit der ganzen Weite der eigenen äußeren Geschichte des Sichfindens in einer Umwelt und des Mitseins mit einer Mitwelt [ereignet]. An diesem Material kommt zu sich, was immer schon bei sich war.“[39] Indem Jesus als Mensch die Welt entdeckt, in die Mitwelt—das sind die menschlichen Beziehungen, also eine Familie, Kultur, Sprache, Religion—hi-neinwächst und sich damit aus-ein-an-der-setzt, wird für ihn klar, wer er selbst ist. So kommt Rahner zu dem Schluss: „Es kann also durchaus unbefangen von einer geistigen, ja religiösen Entwicklung Jesu gesprochen werden. Eine solche leugnet [… die] absolute bewusste Unmittelbarkeit zum Logos nicht, sondern ist von dieser getragen und legt sie aus […].“[40] Diese Entwicklung geschieht durch die von der Kultur bereitgestellten Begriffe und Denkmuster. Diese hat Jesus verwendet, „um langsam zu sagen, was er im Grunde seines Daseins immer schon von sich wusste“[41]. Seine Entwicklung ist daher auch eine Geschichte der „Selbstinterpretation für ihn selbst […]. Denn diese besagt ja nicht, dass Jesus ›auf etwas kommt‹, was er schlechterdings bisher nicht wusste, sondern dass er immer mehr ergreift, was er schon immer ist und im Grunde schon weiß.“[42]

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Für Rahner bedeutet dies, „dass in dieser unthematischen globalen Grundbefindlichkeit der Sohnschaft und Unmittelbarkeit zum Logos alles unthematisch mitgewusst ist, was eben zur Sendung und soteriologischen Aufgabe des Herrn gehört“[43]. Rahner erinnert uns hier daran, dass Gottes Sohn zu sein ja nicht ein Privatprivileg für Jesus war, sondern damit eine Aufgabe, eine Sendung verbunden war, nämlich der Welt das Heil zu bringen.[44] Der Welt das Heil zu bringen wäre für Christus nicht möglich gewesen, wenn er sich in heilswichtigen Fragen hätte irren können. So wie wir also oft intuitiv—geleitet durch unsere bisherigen Erfahrungen und Urteile—auf neue Situationen richtig reagieren, obwohl diese Erfahrungen gerade nicht thematisch bewusst sind, so konnte Jesus, geleitet durch das ihm unthematisch mitgegebene Heilswissen, richtig in seiner Sendung handeln.

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4.2 Hans Urs von Balthasar

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Noch ein zweiter großer Theologe des 20. Jahrhunderts, Hans Urs von Balthasar (1905-1988), hat sich unserem Problem zugewandt, und in dieser Frage ist seine Lösung der Rahners sehr ähnlich, ich denke so ähnlich, dass wir sie benützen können, um die Antwort Rahners besser zu verstehen. Balthasar hat nämlich gegenüber Rahner den Vorteil, dass er nicht so philosophisch-abstrakt schreibt und auch etwas mehr mit der Bibel argumentiert. Dennoch, so meine ich, läuft seine Antwort, die er 10 Jahre nach Rahner publizierte, auf dasselbe hi-naus wie die Rahners.[45]

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Balthasar greift das Leer-Werden auf, mit dem der Philipperhymnus die Menschwerdung beschreibt, und spricht von einer „›Hinterlegung‹ eines [… Jesus] an sich ›gebührenden‹ und ›zugänglichen‹ Wissens beim Vater“[46] für die Zeit seines irdischen Daseins. Dennoch hatte Christus auch für Balthasar ein ganz einmaliges Bewusstsein von sich selbst, das seine Göttlichkeit in seinem menschlichen Bewusstsein aufscheinen ließ. Den zentralen Ansatz dazu übernimmt Balthasar von Walter Kasper, dem heutigen Kardinal. Dieser schrieb: „›Jesus Christus gibt sich ganz hin für seine Sendung, er ist ganz eins mit ihr. Er ist der Gesandte.‹“[47] Wir haben gerade gesehen, dass auch Rahner schon auf die Wichtigkeit der Sendung Jesu verwies. Balthasar macht nun aber diesen Gedanken zum Dreh- und Angelpunkt seiner Über-le-gun-gen.

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Anders als andere Menschen ist Jesus nicht jemand, der auf der einen Seite sein Leben hat und dann zusätzlich zu diesem Leben oder als Teil davon eine Aufgabe oder Sendung, die er erfüllen soll. Jesus ist eins mit seiner Sendung. Sie ist sein Leben, seine Person, er selbst. Und diese Sendung ist absolut einmalig: sie ist nicht zu diesen oder jenen Leuten, wegen dieser oder jener Sache, sondern sie ist zur ganzen Welt, zu allen Menschen, und wegen nichts weniger als der Erlösung dieser Welt. Oder anders gesagt: diese Sendung ist universal, allumfassend.

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„Dies heißt, dass dem individuellen menschlichen Bewusstsein Jesu ein Moment innewohnt, das den rein menschlichen Bewusstseinshorizont eindeutig und zwar grundsätzlich immer schon übersteigt, denn eine mehr-als-mensch-li-che Sendung—die Welt als ganze mit Gott zu versöhnen—kann einem menschlichen Bewusstein nicht sekundär und akzidentell zuwachsen—so sehr man hier Raum lassen muss für eine wachsende Helligkeit des Sendungsbewusstseins […].“[48]

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Damit hat Balthasar zwei wichtige Dinge festgehalten: Jesus hat ein menschliches Bewusstsein und Wissen, und dennoch enthalten diese bereits etwas, das sie aufsprengt auf Größeres: einen universalen, einmaligen Auftrag, eine Sendung, mit der Jesus ganz eins ist. Dieses Bewusstsein, mit der universalen Sendung eins zu sein, begleitet Jesus von Anfang an, es ist—wie Balthasar sagt—„un-vor-denklich“[49] und doch kann es verschieden deutlich sein: dem Kleinkind ein wie selbstverständlich vorhandenes Urvertrauen für das langsame Ertasten und Entdecken der Welt; dem Knaben eine undeutliche Resonanz des Unendlichen im Endlichen; dem Jugendlichen und Erwachsenen dann eine immer klarer werdende Aufgabe, die die Hintergrundfolie für all sein Denken, Fühlen und Tun bildet. Der Evangelist Lukas lässt Jesus das zum ersten Mal zum Ausdruck bringen, als dieser zwölf Jahre alt ist und allein in Jerusalem im Tempel zurückbleibt; auf die Vorwürfe von Josef und Maria antwortet er ziemlich verständnislos: „Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?“ (Lk 2,49)[50]

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Gerade für Balthasar ist es aber nicht so, als hätten die irdischen Eltern Jesu keine wichtige Rolle für ihn gespielt. Ganz im Gegenteil gehr er davon aus, dass das zunächst noch unklare Wissen um seine Sendung sich für Jesus mehr und mehr klärte, und zwar sowohl von „innen“ als auch von „außen“ her. Und für das Außen sind seine Eltern von ungeheuerer Wichtigkeit. Sie führen ihn in die Tradition seines Volkes und seines jüdischen Glaubens ein, bei ihnen lernt er als erstes die Tradition Israels, dessen Geschichte und deren theologische Bedeutung kennen. Deshalb ist für Balthasar auch die besondere Bewahrung Marias vor jeder Sünde sehr wichtig: sie konnte ihm das alles vermitteln ohne jede Beimengung von sündhafter Fehlinterpretation. Doch nicht nur über Israel und dessen Geschichte mit Gott lernt Jesus von seinen Eltern, auch sein eigenes Selbstbewusstsein wird durch sie erweckt. Balthasar polemisiert gegen die Lehre Thomas von Aquins, nach der Jesus nichts von Menschen gelernt habe: „Hier prallt der scholastische Apriorismus gegen eine elementare Wahrheit des Menschseins: ein Kind, das nicht durch ein es ansprechendes Du zu seinem Ichbewusstsein erwachte, wäre gar kein menschliches Kind. Der thomanische Satz verstößt gegen die Logik der Inkarnation.“[51]

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Das „Innen“ hierbei ist der stete Kontakt Jesu mit seinem himmlischen Vater im Gebet und sein Geleitetsein durch den Heiligen Geist. Das Beten Jesu hängt unmittelbar mit seiner Sendung zusammen, erschließt und deutet sie ihm. „Die Gebetskomponente im Gesendeten wird in ihrer Notwendigkeit um so evidenter, als die Sendung ja nicht als ganze vor seinem Blick aufgeschlagen liegt, sondern Schritt für Schritt nach der Weisung des Vaters (im Heiligen Geist) auszuführen ist […].“[52] Innen und außen wirken dabei so ineinander, „dass […] die Initiation dieses Kindes von innen, von seinem ewigen Vater her, im Einklang mit seiner äußern, mitmenschlichen und geschichtlichen Initiation erfolgt“[53].

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So erschließt sich für Jesus seine Sendung—und in einem damit auch sein Wissen um sich selbst—immer mehr und zwar in einer Spannung aus Vorgegebensein und Selbstentwurf. Die unvordenkliche Sendung ist ihm vorgegeben, aber nicht wie ein äußeres Gesetz, sondern wie sein eigenes Wesen. Und doch muss er sie in concreto mit seiner Freiheit—im Hören auf den Vater—Schritt für Schritt entwerfen. Balthasar vergleicht dies mit der Tätigkeit eines Künstlers, der einerseits sein Werk aus seiner Freiheit heraus ge-stal-tet, und der andererseits sich der Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks ganz unterwirft und gerade darin seine Freiheit findet: „Nie ist der Künstler freier, als wenn er nicht (mehr) zögernd zwischen Möglichkeiten der Ge-stal-tung auswählen muss, sondern von der endlich sich darbietenden wahren Idee (wie) ›besessen‹ ist und ihrer gebieterischen Weisung folgt; nie wird auch […] das Werk mehr sein persönlichstes Gepräge tragen.“[54]

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Ähnlich dem Ge-stal-ten eines solchen Kunstwerks muss auch Jesus seine unvordenkliche Sendung in der Zeit entwerfen, also so, „dass sie nicht wie vorfabriziert bereitliegt und von ihm nur mechanisch zusammengesetzt werden müsste, sondern so, dass er sie mit seiner ganzen freien Verantwortung aus sich selbst heraus ge-stal-ten, ja in einer wahren Hinsicht sogar erfinden muss“[55].

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Diese Sendung, die Jesus in der Spannung aus Vorgegebenem und selbst Erfundenem ge-stal-tet, ist für Balthasar—wie schon für Rahner—das „Maß des Wissens und der Freiheit Jesu“[56]. Das bedeutet: Der irdische Jesus, dessen göttliches Wissen in der Menschwerdung beim Vater „hinterlegt“ wurde, weiß soviel, wie zur Erfüllung seiner Sendung notwendig ist. Und da sich diese Sendung entwickelt, flexibel und dramatisch ist, ist es auch sein Wissen.

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„So ist vom Fixpunkt der Sendung aus jede Variabilität gemäß den Erfordernissen der Situation möglich: prophetisch-genaue oder ahnungsvolle Ausblicke auf Gesamtverhältnisse der Welt und ihrer Gottesbeziehung wie auf einzelne gegenwärtige, vergangene oder künftige Ereignisse—und eben-so Einengungen der Aufmerksamkeit […] auf einen bestimmten Horizont wie auf eine enge Schlucht, durch die der Strom der Sendung jetzt hindurch muss.“[57]

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Balthasar meint auf diese Weise sowohl biblische Passagen deuten zu können, in denen Jesus ein wundersames, übermenschliches Wissen zugesprochen wird, als auch jene, in denen von seinem Nichtwissen die Rede ist. Auch er ist mit der Tradition darin einig, dass der irdische Jesus eine unmittelbare Gottesschau gehabt hatte, eine visio immediata, aber er konzipiert diese nicht als visio beatifica, sondern ähnlich wie Rahner. Denn er sieht keinen Grund, „dieser visio des Göttlichen einen andern, gleichsam rein theoretischen, neben oder über der Sendung liegenden Inhalt zuzuschreiben“[58].

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5 Resümee

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Die genannten beiden großen Theologen des 20. Jahrhunderts bemühten sich also, Jesus so menschlich wie möglich zu denken, ohne dabei den Anspruch des Dogmas, dass dieser wahre Mensch auch wahrer Gott sei und sich dies in seinem Wissen und Bewusstsein auch manifestierte, aufzugeben; und ohne eine gespaltene Persönlichkeit Jesu zu konstruieren. Auch wir sind keine gespaltenen Persönlichkeiten, obwohl wir manches wissen, das wir nicht ausdrücken können, ja von dem wir nicht einmal wissen, dass wir es wissen. Auch wir kommen erst im Laufe des Lebens, in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen, der Welt und—wenn wir religiöse Menschen sind—mit Gott dazu, dieses Wissen immer mehr einzuholen und auf den Be-griff zu bringen. Dies, meinen Rahner und Balthasar, können wir also auch von Jesus annehmen.

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Als Kriterium dafür, was er irgendwann reflex gewusst haben muss, geben beide seine Sendung, seinen Auftrag an, der die Erlösung der Welt war. Deshalb schließen sie aus, dass Christus sich in heilsrelevanten Fragen irren konnte, wie etwa: Ist Gott vergebungsbereit oder unnachsichtig? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wird man gerettet, weil man bestimmte Leistungen vollbringt oder nur aus der Liebe Gottes? Muss ich den Weg ans Kreuz annehmen oder kann ich es vermeiden? In Fragen des Gottesbildes, des Verhaltens Gottes zu den Menschen oder eben kurz: in allen soteriologisch relevanten Fragen würde Jesus—nach diesen Modellen—aus seinem unthematisch gegebenen Selbst- oder Sendungsbewusstsein im richtigen Moment die richtige Antwort formulieren können. In anderen Fragen nicht. Die Frage etwa, wann denn die Welt untergehen wird, ist nicht wirklich soteriologisch relevant, sie ist eher eine Frage unserer sensationslüsternen Neugier. Hier kann Jesus sagen: nur der Vater weiß das, ich nicht. Und die Frage, ob die Cosmic-String-Theorie nun zutrifft oder nicht, hätte Jesus danach ohne Weiteres mit einem verständnislosen Achselzucken übergehen können, ohne deshalb aufzuhören wahrer Gott zu sein.[59]

78
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Zum Abschluss sei auf ein Bild des spanischen Malers Bartolomé Esteban Murillo (1618-1682) hingewiesen. Es hängt in der Nationalgalerie in London und heißt „Die zwei Trinitäten“ (1675-82, im Original natürlich in Farbe) und meint damit einerseits die Heilige Familie und anderseits die Dreifaltigkeit. Christus verbindet diese beiden Dreiergruppen als zweite Person der Trinität und als Kind der Heiligen Familie.[60] Der Sohn der Maria und der Sohn des himmlischen Vaters sind ein und die selbe Person, wie das Dogma sagt, um unseres Heiles willen Mensch geworden durch den Heiligen Geist und erzogen von Josef, dem Zimmermann. Dieses Bild zeigt ihn nicht mit dem Gesicht eines alten Mannes, sondern als (manchen vielleicht zu) süßen Knaben, äußerlich ganz und gar ein Menschenkind, auch in seinem Denken. Hinter dem Bild steht aber das christologische Dogma: in dieser einen Person sind göttliche und menschliche Natur vereint. Das ist der Grund, warum Gott und Mensch nie wieder getrennt werden können.

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Anmerkungen

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[1] So etwa Merton, Thomas: Meditationen eines Einsiedlers. Über den Sinn von Meditation und Einsamkeit (Klassiker der Meditation). Zürich 31984, 55: „Da Christus das ewige Wort Gottes ist, vor dem die Zeit ganz Gegenwart ist, ›sieht‹ mich das in Bethlehem zur Welt gekommene Kind ›hier und jetzt‹, d. h. ›ich bin‹ Seinem Geiste ›bei Seiner Geburt‹ gegenwärtig.“ [Alle Zitate in diesem Beitrag wurden an die neue Rechtschreibung angepasst.]

81
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[2] Die Enzyklika Mystici Corporis (1943) von Pius XII. hält fest, dass Christus mittels seiner „seligen Schau, derer er sich sogleich, nachdem er im Schoße der Gottesgebärerin empfangen war, erfreute, sich alle Glieder des mystischen Leibes [der Kirche] beständig und immerfort gegenwärtig“ (DH 3812) hält. Dies betont erneut die im November 2006 ergangene Notifikation der Glaubenskongregation über Werke des Theologen Jon Sobrino in Nr 8 ihres Textes, online: http://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_con_cfaith_doc_20061126_notification-sobrino_ge.html

82
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[3] Für detailliertere Ausführungen siehe: Schwager, Raymund: Dogmengeschichte der Christologie. Gekürztes Vor-lesungsmanuskript. Innsbruck 1995. Online: http://theol.uibk.ac.at/leseraum/lehrbehelf/178.html und ganz ge-nau: Grillmeier, Alois: Jesus der Christus im Glauben der Kirche. Wien u.a. 5 Teilbände 1989-2002.

83
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[4] Dieser uns heute seltsam anmutende Vergleich wurde in früheren Jahrhunderten tatsächlich gemacht, aber von der Kirche zurückgewiesen: der Gott-Mensch sei eben gerade keine Vermischung zweier „Naturen“, wie wir gleich sehen werden.

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[5] Neuner, Josef / Roos, Heinrich (Hg.): Der Glaube der Kirche in den Urkunden der Lehrverkündigung. Neubearbeitet v. K. Rahner und K.-H. Weger. Regensburg 111971.

85
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[6] Denzinger, H.: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann. Freiburg 371991.

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[7] Wo in knapper Formulierung von „beiden Naturen“ die Rede ist, sind diese fett und kursiv gehalten.

87
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[8] Vgl. Schwager, Raymund, online: http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/itl/178-3.html#93 bis 96.

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[9] Man beachte dabei die Unterscheidung zwischen dem Willensvermögen und dem Willensobjekt. Das erste ist die Fähigkeit, mit deren Hilfe ein Mensch entscheidet; das zweite ist das Ziel, für das er sich entscheidet. Also ganz banal: Mit meinem Willensvermögen kann ich wählen zwischen Fisch oder Fleisch zum Mittagessen. Wenn ich mich für den Fisch entscheide, ist dieser das Objekt meines Willens. Bei Christus geht das Konzil davon aus, dass er zwei Willensvermögen—ein göttliches und ein menschliches—hatte, weil zu jeder seiner beiden Naturen so ein Vermögen gehört. Wenn aber beide Vermögen ein und dasselbe Objekt anstreben—in unserem banalen Beispiel also z. B. Fisch—dann haben wir dennoch nur ein Willensobjekt, und es entsteht keine Spaltung. Diese feine Unterscheidung von Willensvermögen und objekt musste aber erst in einem langen Lernprozess entwickelt werden. Und bis es so weit war, gab es unterschiedliche Meinungen in Bezug auf den (oder die) Willen Christi.

89
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[10] Zitiert nach: Rahner, K. / Vorgrimler, H.: Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister (Herderbücherei Bd. 270). Freiburg 261996, 468f.

90
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[11] Mk 14,36 parr.

91
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[12] Die schwierige Frage, warum und in welchem Sinn das Kreuz der Wille Gottes gewesen sei, kann hier nicht näher behandelt werden. Vgl. dazu: Schwager, Raymund: Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre. (ITS 29). Innsbruck 21996, 149-151, 256-263 und Wandinger, Nikolaus: Wie unbequem ist Gott? oder Wie ist Gott unbequem? Überlegungen zu Gottesbild, Kreuz und Nachfolge. In: Sandler, W. / Wandinger, N. (Hg.): Der unbequeme Gott. Vorträge der zweiten Innsbrucker Theologischen Sommertage 2001 (tt 11). Thaur 2002, 161-188. Auch online: http://theol.uibk.ac.at/itl/267.html

92
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[13] Zu Maximus vgl. Schwager, Raymund: Dogmengeschichte der Christologie. Gekürztes Vorlesungsmanuskript. Innsbruck 1995. Online: http://theol.uibk.ac.at/itl/178-3.html#h40 und Bausenhart, Guido: „In allem uns gleich außer der Sünde“. Studien zum Beitrag Maximos’ des Bekenners zur altkirchlichen Christologie. Mainz 1992, v. a. 148-165. Die Analyse des Ölberggebets bei Maximus selbst ist nur im griechischen Original oder in lateinischer Übersetzung zugänglich und außerhalb theologscher Fachbibliotheken schwer zu finden: Maximus Confessor: Opuscula theologica et polemica, in: Patrologiae cursus completus, accurante J.-P. Migne: patrologiae gracece tomus 91, Paris 1863, Neudruck Turnhout 1981, 154C-183C, v.a. 161C-183C. Anschließend weitere Ausführungen zu den zwei Willen Christi in: Ders.: De duabus unius Christi Dei nostri voluntatibus, in: ebd. 183D-216A.

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[14] Vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica IIIa qu. 9-12, abgekürzt STh.

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[15] Vgl. STh IIIa qu 9, a 4 c erwähnt die Änderung gegenüber In Sententiarum 3, dist 14, art. 3 qu 5 ad 3 und dist. 18, art 3 ad 5.

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[16] Vgl. STh IIIa qu 12 a. 3.

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[17] Vgl. Mt 9,4; 12,25; Lk 6,8; 9,47; 11,17. Etwas Ähnliches wird allerdings auch von Pilatus ausgesagt (vgl. Mt 27,18) und auch wir sagen so etwas häufig im Alltag. Es setzt also nicht zwingend ein irgendwie geartetes höheres Wissen voraus, sondern nur eine gute Menschenkenntnis. Andere Stellen, auffälligerweise alle bei Johannes, sind damit aber nicht so einfach zu erklären: vgl. Joh 2,25; 4,19.39; 6,64; 13,1.3.11; 18,4; 19,28.

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[18] Vgl. das emphatische „Ich aber sage euch“ der Bergpredigt (Mt 5).

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[19] Mk 6,5f.

99
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[20] Vgl. Mt 20,23; 24,36; Mk 10,40; 13,32;

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[21] Zum Folgenden vgl. Rahner, Karl: Dogmatische Erwägungen über das Wissen und Selbstbewusstsein Christi. In: Schriften zur Theologie 5. Neuere Schriften. Zürich-Einsiedeln-Köln 31968, 222-245. Es handelt sich um einen Text, der 7 Jahre vorher als Gastvorlesung in Trier gehalten wurde. Vgl., ebd., 222, Anm. 1. Jetzt auch in: Ders.: Sämtliche Werke. Band 12: Menschsein und Menschwerdung Gottes. Studien zur Grundlegung der Dogmatik, zur Christologie, Theologischen Anthropologie und Eschatologie. Bearbeitet von H. Vorgrimler. Freiburg-Basel-Wien 2005, 335-352.

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[22] Rahner (1968), 227f.

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[23] Unter Umständen kann ein solches Wissen mein Handeln ganz wesentlich prägen und wichtiger sein als das reflex Gewusste. Vgl. dazu: Muck, O.: Rationale Strukturen des Dialogs über Glaubensfragen. In: Rationalität und Weltanschauung. Philosophische Untersuchungen (Hg. W. Löffler). Innsbruck – Wien 1999, 106-151, v. a. 132-140 und Wandinger, Nikolaus: Zur Rede von einer „impliziten Theologie“. Versuch einer Begriffsklärung. In: Drexler, Ch. / Scharer, M. (Hg.): An Grenzen lernen. Neue Wege in der theologischen Didaktik (Kommunikative Theologie 6). Mainz 2004, 189-212; auch online: http://info.uibk.ac.at/c/c2/theol/itl/689.html.

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[24] Der Hinweis auf unthematisch gewusste Gesetze der Logik findet sich bei Rahner, Karl: Zum theologischen Begriff der Konkupiszenz. In: Schriften zur Theologie 1. Einsiedeln-Zürich-Köln 1954, 81967, 377-414, hier 409; auch in: Ders.: Sämtliche Werke. Band 8: Der Mensch in der Schöpfung. Bearbeitet von Karl-Heinz Neufeld. Solothurn - Düsseldorf - Freiburg 1998, 12-32.

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[25] Rahner 1968, 229.

105
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[26] Vgl. Rahner 1968, 229.

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[27] Vgl. Rahner 1968, 231.

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[28] Im Einzelnen argumentiert Rahner von der thomistischen Erkenntnismetaphysik her, nach der „Sein und Beisichsein sich gegenseitig innerlich bedingende Momente der einen Wirklichkeit sind“ (Rahner 1968, 234). Vgl. dazu ausführlicher: Rahner, K.: Hörer des Wortes. In: Sämtliche Werke. Band 4: Schriften zur Religionsphilosophie und zur Grundlegung der Theologie. Bearbeitet von Albert Raffelt. Solothurn - Düsseldorf - Freiburg 1997, v. a. Kap 3-5.

108
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[29] Rahner 1968, 234.

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[30] Ebd.

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[31] Rahner 1968, 235: „Eine solche Hypostatische Union [kann] nicht gedacht werden […] als bloß ontischer Zusammenhang zwischen zwei sachhaft gedachten Wirklichkeiten, sondern als die absolute Vollendung des endlichen Geistes als solchen überhaupt [impliziert sie] notwendig eine (richtig verstandene) „Bewusst-seins-chris-to-lo-gie“ […], m. a. W. in einer solchen subjektiven einmaligen Einheit des menschlichen Bewusstseins Jesu mit dem Logos von radikalster Nähe, Einmaligkeit und Endgültigkeit [ist] die Hypostatische Union über-haupt erst in ihrem vollen Wesen gegeben […].“ Hypostatische Union ist der Fachausdruck für die Einigung der beiden Naturen Jesu in seiner Person.

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[32] Rahner 1968, 236.

112
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[33] Rahner 1968, 237.

113
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[34] Rahner 1968, 237.

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[35] Rahner 1968, 237.

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[36] Rahner 1968, 238.

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[37] Rahner 1968, 239.

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[38] Rahner 1968, 240.

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[39] Rahner 1968, 241.

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[40] Rahner 1968, 241.

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[41] Ebd.

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[42] Ebd.

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[43] Rahner 1968, 243.

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[44] Rahner wendet also hier auch das—alte—soteriologische Kriterium an.

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[45] Vgl. zum Folgenden: Balthasar, H. U. v.: Theodramatik. Zweiter Band: Die Personen des Spiels. Teil 2: Die Personen in Christus. Einsiedeln 1978, 151-185.

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[46] Vgl. Balthasar, 176.

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[47] Balthasar, 151 zitiert: Kasper, Walter: Jesus der Christus. Mainz 1974, 301.

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[48] Balthasar, 152.

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[49] Balthasar, 153.

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[50] Dabei fällt zweierlei auf: 1) Nach Lk zeigt sich diese Zugehörigkeit Jesu zu seinem himmlischen Vater in einem Alter, in dem etwa die Pubertät eintritt und das Erwachsenwerden sich ankündigt, also ein Alter, in dem auch unsere modernen Jugendlichen beginnen, engere Beziehungen außerhalb der Familie zu knüpfen und sich der bisherigen Weise der Betreuung durch die Eltern zu entwinden. In zunehmendem Maße sind nun nicht mehr die Eltern das Zentrum der Welt der Jugendlichen—des jungen Jesus und heutiger Kids je auf andere Weise. 2) Lukas beschreibt Jesu Lehrgespräch im Tempel folgendermaßen: „er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten.“ (Lk 2,46f.) Jesu Verständnis fällt zunächst auf durch sein Fragen. Wer unterrichtet, weiß, dass die Fragen, die Lernende stellen, sehr viel darüber verraten, wie viel sie bereits verstanden haben. Die Fragenden sind sich ihres Wissens—oder zumindest dessen begrifflicher Formulierung—noch unsicher; deshalb fragen sie. Die Befragten können aber ins Staunen darüber geraten, dass die Lernenden schon so viel kapiert haben, etwa dass ein Zwölfjähriger schon Fragen stellt, die ein tiefes Verständnis verraten, und ihnen dann auf ihre Antworten Repliken gibt, die noch erstaunlicher sind. Diese Beschreibung des zwölfjährigen Jesus passt also sehr gut zu den Modellen des Wissens Jesu, die Rahner und Balthasar entwickelt haben—wie wir gleich noch genauer sehen werden.

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[51] Balthasar, 160 mit Bezug zu Summa theologica IIIa 12, 3 c und ad 2. Ob man es hier tatsächlich mit einem „Apriorismus“ zu tun hat, darf bezweifelt werden—Thomas argumentiert, wie gesehen, ganz anders. Aber er hat sicherlich die Bedeutung der menschlichen interpersonalen Beziehung für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen Jesus nicht wahrgenommen und in diesem Sinne gegen die Logik der Inkarnation verstoßen.

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[52] Balthasar, 155.

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[53] Balthasar, 161.

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[54] Balthasar, 181.

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[55] Balthasar, 182. Wie man sich das vorstellen könnte, ist anschaulich dargestellt bei Schwager, Raymund: Dem Netz des Jägers entronnen. Wie Jesus sein Leben verstand. Erzählt von Raymund Schwager (Herderbücherei 8812). Freiburg 1994 und theologisch anspruchsvoll reflektiert in: Ders.: Jesus im Heilsdrama. Entwurf einer biblischen Erlösungslehre (ITS 29). Innsbruck 21996. Online: http://theol.uibk.ac.at/leseraum/artikel/212.html

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[56] Balthasar, 175, Überschrift zu d).

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[57] Balthasar, 180.

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[58] Balthasar, 152.

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[59] Man könnte sich die Frage stellen, ob nicht die Hypothesen von Rahner und Balthasar auch durch die eingangs genannte Notifikation über Jon Sobrinos Werke betroffen sind (vgl. oben S. 1, Anm. 2). Auf den ersten Blick scheint sich dies nahezulegen. Anderseits wurde H. U. v. Balthasar von Papst Johannes Paul II. sehr geschätzt und sogar posthum zum Kardinal ernannt und beide—Rahner wie Balthasar—sind so bekannte Theologen, dass man annehmen muss: wenn beabsichtigt wäre ihre Hypothesen bzgl. des Wissens und Selbstbewusstseins Christi zu beanstanden, so müsste dies im Dokument explizit gesagt werden. Da dies nicht der Fall ist, müssen ihre Hypothesen als von der Notifikation nicht betroffen gelten. Die Glaubenskongregation ist offenbar der Überzeugung, dass Sobrinos Ausführungen in Bezug auf das Selbstbewusstsein Christi verschieden von denen Balthasars oder Rahners sind. Eine ganz andere Frage ist, ob sich dies tatsächlich so verhält und ob es wirklich notwendig war, die Notifikation über die Werke Sobrinos zu erlassen.

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[60] Auf ein kleines Detail sei hier verwiesen: In Murillos Darstellung nimmt das Jesuskind die unterste, man könnte also sagen dritte, Stelle der Trinität ein, nicht die zweite. Dem entspricht auch eine theologische Denkfigur Hans Urs von Balthasars. Dieser überlegte, ob man nicht sagen müsse, dass für die Zeit des irdischen Wirkens Jesu eine Umordnung der Trinität gelte, die er „trinitarische Inversion“ nannte (vgl. Balthasar, 167-175). Obwohl innertrinitarisch der Sohn dem Geist vorgeordnet ist, ist während des irdischen Lebens Jesu diesem der Geist vorgeordnet, denn Christus ist derjenige, der durch den Geist empfangen wird und dann während seines Lebens vom Geist geführt, als Geistträger, seine Sendung entwirft und durchführt.

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