Gletschrrückgang am Schlatenkees

Durch den Rückgang des Eises am Schlatenkees entstehen jährlich bis zu 100 Meter Bachlauf.

Neuer Lebensraum am Gletschertor

Beim Schlatenkees – ein Gletscher in der Kernzone des Nationalpark Hohe Tauern – wird jährlich ein Rückgang des Eises um bis zu 100 Meter beobachtet. Die dadurch neu entstehenden Gewässerlandschaften stehen im Zentrum der Forschungsarbeit des Ökologen Leopold Füreder.

Der Schlatenkees in den Hohen Tauern hat seit dem Hochstand der letzten kleinen Eiszeit mehr als die Hälfte seiner Fläche verloren. „Der Rückgang der Gletscher ist ein weltweit zu beobachtendes Phänomen. Durch den Rückgang des Eises entsteht Neuland – sowohl an Land als auch im Wasser“, erklärt Univ.-Prof. Dr. Leopold Füreder vom Institut für Ökologie an der Uni Innsbruck. Gemeinsam mit seiner Kollegin Andrea Fischer vom ÖAW-Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung versucht er im Rahmen des Projekts „Gletschertod und Gewässergeburt“, die durch die Gletscherschmelze entstandenen Gewässerlandschaften hinsichtlich ihrer Ausprägung, Struktur und Ökologie zu erfassen. „Wir wollen als Pilotprojekt am Schlatenkees eine Art Inventur der Gewässertypen vornehmen.“ Dazu untersuchten die Wissenschaftler im vergangenen Sommer, welche verschiedenen hydrologischen Lebensräume durch den Gletscherrückzug entstehen, stellten weitere Umweltfaktoren wie Temperatur und Wasserchemie fest und untersuchten, welche Nährstoffe dort verfügbar sind, um ersten Lebensgemeinschaften wie zum Beispiel Algen als Nahrung zu dienen. „Es hat sich gezeigt, dass Bachläufe, die vor einem Jahr noch unter dem Eis lagen, innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums bereits reich besiedelt waren“, erklärt Leopold Füreder. Ein zentraler Gewässertyp, den die Wissenschaftler dabei untersuchen, ist der Gletscherbach. „Durch die Gletscherschmelze wird der Gletscherbach nach oben verlängert; jährlich kommen bis zu 100 Meter Bachlauf dazu.“

Extreme Bedingungen

Am Gletschertor herrschen raue Lebensbedingungen: An der Gletscherzunge ist die Wassertemperatur nie höher als ein Grad Celsius, auch nicht im Sommer, wo die Temperatur im gesamten Gletscherbach durch abfließendes Schmelzwasser niedrig gehalten wird. Dazu kommen eine hohe Wasserdynamik und durch Gletscherschluff verunreinigtes Wasser. „Insgesamt nicht besonders einladende Lebensbedingungen und dennoch findet hier innerhalb eines Jahres eine dichte Besiedlung statt“, erläutert Füreder. „Uns interessierte vor allem, welche Arten sich in diesen sehr kalten Temperaturen von maximal einem Grad Celsius durchsetzen können.“ Dabei stellten die Wissenschaftler am Gletschertor einen relativ rasch einsetzenden Bewuchs mit Kiesel- und Goldalgen fest. „Die Goldalge breitet sich vor allem in den Sommermonaten, in denen der Gletscherbach aufgrund des nachfließenden Schmelzwassers kälter wird, über einen großen Teil des Bachlaufes aus“, beschreibt der Ökologe. Dieser Biofilm stellt eine wesentliche Grundlage für die wenigen tierischen Organismen dar, die den Bach am Gletschertor besiedeln: Hauptsächlich trafen die Wissenschaftler dabei auf eine Art, die es bis auf wenige Ausnahmen weltweit als erste schafft, sich bei so kalten Wassertemperaturen durchzusetzen: Die Gattung Diamesa aus der Familie der Chironomidae oder Zuckmücken.

Kältespezialisten

„Hierbei handelt es sich um eine Zuckmückenart, die sechs ihrer insgesamt sieben Lebensstadien im Wasser verbringt und die hervorragend an die kalten Lebensbedingungen angepasst ist“, erklärt Füreder. „Da die Tiere zu Beginn des adulten Stadiums das Wasser verlassen, ist es ihnen möglich, ihre Eier in den neu entstandenen Gewässern abzulegen.“ Abgesehen davon, dass die Diamesa offensichtlich optimal an die kalten Bedingungen angepasst sind, gibt es noch viele offene Fragen zu dieser Art. „Uns interessiert vor allem, wie viele Arten der Gattung Diamesa in den Gewässern um die Gletscherzunge vertreten sind und wie ihr Generationszyklus abläuft. Über die insgesamt vier Larvenstadien und das Puppenstadium ist noch sehr wenig bekannt. Da gibt es noch viele Unbekannte, die wir klären möchten.“ Dazu zählt für den Wissenschaftler auch eine Bestandsaufnahme der Lebensbedingungen, auf die sich die Art spezialisiert hat: „Neben dem Biofilm, der sich im Randbereich des Baches bildet, spielt auch die Nährstoffverteilung im Freiwasser eine Rolle“, so Füreder, der betont, dass sich ein Gletscherbach wesentlich von anderen Gewässern im Hochgebirge unterscheidet. „Vor allem die Dynamik aber auch die Temperaturen unterscheiden sich stark: Nachdem der Gletscherbach am Gletschertor mit einem Grad Celsius am kältesten ist, kann die Temperatur im weiteren Bachverlauf durch stehende Bereiche oder Zufluss aus einem See auf 4 – 5 Grad Celsius steigen – Bäche im Hochgebirge, die nicht aus einem Gletscher entspringen, erreichen in gleicher Höhenlage aber bereits 12 – 14 Grad Celsius.“

Bestandsaufnahme

Um die Rätsel rund um die Diamesa zu lösen, entnahmen die Wissenschaftler im Frühling und Sommer wöchentlich Sedimentproben aus dem Gletscherbach am Schlatenkees. Pro Probe aus dem Bereich des Gletschertors fanden wir mehr als 100 Tiere dieser Art.“ Diese werden unter dem Mikroskop anhand morphologischer Merkmale dem jeweiligen Entwicklungsstadium zugeordnet. „Da einige artspezifische Merkmale erst beim adulten Tier auftreten, mussten wir allerdings auch oft auf molekularbiologische Methoden zurückgreifen.“ Durch die zeitlich hochaufgelöste Probenentnahme wollen die Wissenschaftler so nach der Auswertung Rückschlüsse auf den Lebenszyklus der Diamesa ziehen. „Auch die Frage, ob die Mückenart im Winter, in dem der Bach ja zufriert, im Sediment eine Art Winterruhe eingeht oder ob eines ihrer Entwicklungsstadien in diese Zeit verlegt wird, hoffen wir zu klären “, beschreibt Leopold Füreder, der auch nicht ausschließt, dass die Probenauswertung zur Entdeckung neuer Arten führt. „In diesem Gebiet wurde noch nie eine systematisch und zeitlich so hoch aufgelöste Untersuchung durchgeführt, wir hoffen, dass unser Pilotprojekt den Anfang für weitere Projekte darstellt, die uns etwas mehr über die Lebensräume am Gletschertor erfahren lassen.“

Dieser Artikel erschien in der aktuellen Ausgabe von „Zukunft Forschung“, dem Forschungsmagazin der Universität Innsbruck. Eine digitale Version der Magazin-Ausgabe ist hier zu finden.

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