Vortrag & Diskussion:
Wohnen wie alle anderen auch!
Wie können Transformationsprozesse in Behinderten-Großeinrichtungen gelingen?

Datum: Mittwoch, 23. Oktober 2013, 19:30 Uhr
Ort: MCI II, Universitätsstraße 15 (EG), Innsbruck

Referent: Univ.-Prof. Dr. Germain Weber

 

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Zur Person:
Germain Weber ist Professor für Psychologie an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind kognitive Beeinträchtigungen und Gerontopsychologie. Er ist seit vielen Jahren Präsident der Lebenshilfe Österreich.


  

Vortrag von Germain Weber:

Beim Abschreiben der Tonaufnahme haben wir Zwischentitel gemacht. Das heißt: Vor jedem längeren Abschnitt steht ein Überschrift. Die Überschrift sagt, worum es geht. 


Danke, Petra (Anm. WuV: Petra Flieger, Moderatorin), für die nette Vorstellung und den Verweis auf unsere Beziehung, die schon über 20 Jahre andauert. Ich habe in bester Erinnerung, was wir damals angegangen sind. Du hast in deine Diplomarbeit über „Adaptive Behavior“ geschrieben und das war damals für mich eine Thematik, die ich neu gelernt habe.

Zwischentitel: Der Blick auf Menschen mit Beeinträchtigungen

Einleitend möchte ich sagen: Wenn ich heute hier stehe und über ein Thema sprechen kann, das wirklich kein einfaches ist, dann ist das nicht auf Grundlage dessen, was ich an der Universität gelernt habe. Das Thema „De-Institutionalisierung“ hat mich auch schon während des Studiums interessiert und ich habe gesehen, wo wir in Österreich, in Luxemburg und in anderen Ländern in Europa stehen. Und ich habe mir auch angesehen, wo man woanders steht, in skandinavischen Ländern beispielsweise. Und ein Blick war immer: Was machen die KollegInnen für die Menschen in den USA dazu.
Und so kam für mich auch der Ansatz, dass wir uns Adaptive Behavior – also sozial-adaptive Fähigkeiten – von Personen mit Beeinträchtigungen näher anschauen sollten und im Resultat dann Menschen mit Behinderungen möglicherweise besser unterstützen und besser begleiten können. Diese Unterstützung und Begleitung unterscheidet sich davon, wie PsychologInnen das gemacht haben. Ich habe jetzt einen Begriff verwendet, der beschreibt, wie man Menschen mit Beeinträchtigungen anschaut. Es war früher so, dass die PsychologInnen Menschen mit Beeinträchtigungen immer nur im Hinblick auf den IQ (Anm. WuV: Intelligenzquotient) angeschaut haben. Diese Sichtweise habe ich sehr kritisiert. Denn daraus kann man für die praktischen Handlungen nicht viel ableiten. Aber bei adaptivem Verhalten und bei Fertigkeiten, bei Kompetenzen – die diese Personen haben – kann man Stärken sehen und man kann auch jenen Bereich sehen, wo Personen Unterstützungsbedarf haben.
Das Thema hat mich dann auch sehr beschäftigt, als ich in meiner Praxis erstmalige bzw. nachdrückliche Erfahrungen im Feld machen konnte: In Lebenssituationen von diesen Menschen und mit Lebenssituationen, die wir  – die Gesellschaft – diesen Menschen anbieten. Und dann ist man sehr schnell bei menschenrechtlichen Fragestellungen angekommen.
In den 1990er-Jahren hatten wir in Wien die Gelegenheit eine kleine Konferenz zu organisieren. Das Thema war „Welche Möglichkeiten bieten wir älteren Menschen mit Beeinträchtigungen in unserer Gesellschaft an“. Und für mich war sofort klar, dass wir die Konferenz unter die Perspektive der Rechte stellen müssen. Nicht weil ich ein Spezialist zum Thema der Rechte war, sondern weil ich etwas lernen wollte. Damals habe ich auch KollegInnen aus den USA und aus anderen Gegenden der Welt eingeladen, damit sie etwas über den menschenrechtlichen Hintergrund in dieser Arbeit erzählen. So habe ich immer wieder neue Schritte gemacht, die letztendlich dorthin geführt haben, wo ich heute bin; sodass ich heute hier einen wissenschaftlichen Vortrag zum Thema halte.

Zwischentitel: Transformation ist ein Prozess

Petra (Anm. WuV: Petra Flieger, Moderatorin) hat gesagt, es wird ein wissenschaftlicher Vortrag. Es ist aber ein Vortrag aus sehr vielen Praxiserfahrungen. Der Vortrag ist auch genährt von wissenschaftlichen Erkenntnisse und theoretischen Überlegungen, die dahinter stecken. Aber es sind auch immer wieder praktische Projekte an mich herangetragen worden. Und eines von diesen Projekten, die mich auch sehr nachdrücklich geprägt haben, war ein Projekt im Auftrag der Luxemburgischen Regierung in den 1990er-Jahren. Dabei ging es um die Transformation einer sehr großen – der ältesten und der größten – Einrichtung für Menschen mit Beeinträchtigungen in Luxemburg. Und mit denen bin ich noch heute in Kontakt und sie fragen mich noch regelmäßig, wenn sie irgendetwas Neues machen oder wenn sie irgendwo anstehen: Wie sollen wir weitergehen?
Also: Ein Transformationsprozess ist etwas, das nicht abgeschlossen wird. Dabei ist es egal, wie groß die Einrichtung ist. Das heißt: Das große Thema bei Transformationsprozessen ist, dass wir uns permanent verändern.

Zwischentitel: „Meine eigene Kapitänin sein!“

Als Einstieg möchte ich aus dem Mutbuch, das vor Kurzem von Wibs herausgegeben worden ist, ein paar Sätze vorlesen. Hier schreibt Rosalinde Scheider:

„Beim Wohnen im Wohnheim durfte ich früher nicht kochen, was ich wollte.
Wann der Freund kommen darf, bestimmen die BetreuerInnen.
Und ich musste immer um 22 Uhr zu Hause sein.
Ich durfte nie meine eigene Kapitänin sein [...].“ (Selbstbestimmt Leben – Wibs 2012).

Dieses Zitat vermittelt einen Eindruck, wie die Lebenssituation für Menschen mit Beeinträchtigungen in Wohneinrichtungen und in Heimen sein kann und früher sehr oft war. In einigen Bereichen ist die Situation möglicherweise auch heute noch so.
Es geht heute also darum, wie man den Prozess der De-Institutionalisierung in unserer Gesellschaft und in unseren Regionen weiter vorantreibt. Dahinter steckt eine Vision des Wandels bzw. eine Vision der Transformation.
De-Institutionalisierungen sind immer sehr große Planungsprozesse, wo man sehr viele Personen zu berücksichtigen hat – die Betroffenen, die dort leben, und deren Angehörige. Dann aber auch, die die dort Verantwortung über viele Jahre hatten und doch der Meinung sind, dass sie gute Arbeit gemacht haben. Deren Arbeit im historischen Kontext auch zu würdigen ist, wenn man weiß, wie sie begonnen haben und wie damals die Situation war. Und denen muss man Mut machen, genauso wie es im Titel des Mutbuches heißt.
Und dann geht es darum festzulegen, wer die Menschen sind, die diesen Prozess gestalten:
Wen können wir neu hineinnehmen?
Wer trägt die Letztverantwortung? (Häufig bedeutet das die finanzielle Letztverantwortung. Meistens ist das die Politik, die Landesregierung oder in Luxemburg die nationale Regierung.)
Und wie kann man eine Vereinbarung treffen, um eine Transformation zu machen?
Sodass wir jene Ziele erreichen, die in Richtung Selbstbestimmung und Autonomie gehen. Diese Ziele sind heute festgeschrieben und verbrieft. Wichtig ist dabei das Recht, selbst wählen zu können – auch im Zusammenhang mit dem Wohnen. Es geht darum, selbst zu entscheiden, wo ich wohne, mit wem ich wohne und wie ich das unterstützen und begleiten kann.

Zwischentitel: De-Institutionalisierung in Europa

2003 hat Kurt Grünewald (Anm. WuV: Kurt Grünewald war Abgeordneter zum Nationalrat in Österreich und Gesundheitssprecher der Grünen Österreich) dazu aufgerufen, die Institutionen für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu schließen. Er vertrat die Position, dass jeder und jede in einer offenen Gesellschaft leben kann. Diesem Aufruf ist aus heutiger Sicht zu 100 Prozent zuzustimmen.
Den Wandel, dass alle Institutionen geschlossen werden, hat beispielsweise Dänemark hinter sich gebracht. Dort ist dieser Prozess bereits vor 25 Jahren eingeleitet worden und dort finden wir heute keine Institutionen mehr. In Dänemark finden wir personenzentrierte Begleitsituationen für Menschen mit Lernschwierigkeiten aller Unterstützungsbedarfsniveaus.
Und auch Schweden hat sich auf diesen Weg gemacht. Schweden hat auch für Menschen mit schweren Beeinträchtigungen mit hohem Unterstützungsbedarf ein Modell entwickelt und umgesetzt. Der politische Wille für dieses Modell war in Schweden vorhanden. Jetzt haben diese Menschen einen Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz. Auch wenn das bedeutet, dass eine Person möglicherweise 8 bis 12 AssistentInnen braucht. In der Folge kann eine Person mit schweren Beeinträchtigungen genauso wohnen, wie sie es sich als erwachsene Person vorstellt – und das mit staatlicher Unterstützung.
Einige KollegInnen aus Tirol waren im Sommer dabei. Die Lebenshilfe hat eine Studienreise nach Schweden organisiert und wir haben die Einrichtung JAK ansehen können. JAK bedeutet Ja zum selbstbestimmten Leben auch mit ganz hohem Anforderungsbedarf. Und wie das dann auch aufgebaut wird.

Zwischentitel: (Politischer) Wille zum verteilten Wohnen

Wenn eine Gesellschaft sagt: Ja, wir ermöglichen das auch Personen mit dem allerhöchsten Unterstützungsbedarf! Dann gibt es bereits Modelle, wo genau das sehr gut umgesetzt wird. Und das sage ich direkt am Beginn, um nicht auf die Diskussion nachher zu kommen, wie es denn mit denen ist. Voraussetzung ist der Wille der politisch Verantwortlichen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu überzeugen, diesen Weg zu gehen.
Wir sagen auch: Wir wollen ein verteiltes Wohnen haben! Also nicht ein Wohnen in speziellen Gebieten von Menschen mit Behinderungen, wie es möglicherweise frühere Konzepte gesagt haben. Oder eine Insel oder eine Anlage, wo nur Menschen mit Behinderungen leben. Wir kennen diese Situationen. In Österreich und auch in anderen Ländern finden wir diese Situation noch immer vor.
Das waren Konzepte, die möglicherweise in den 1960er-Jahren funktioniert haben. Auch bei der Lebenshilfe Niederösterreich haben wir noch so eine Situation. Damals dachte man: Wir geben diesen Menschen einen Raum, wo sie geschützt sind und wo wir sie begleiten können. Und man hat damals beispielsweise ein ganzes Dorf gebaut – ein Behindertendorf. Das ist natürlich eine ganz schwierige Situation, auch wenn die Lebenshilfe darüber diskutiert. Und es stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen können. Aber den KollegInnen aus Niederösterreich haben wir Wege gezeigt, wie sie auch dieses Dorf transformieren können. Das heißt: Das Behindertendorf in etwas ganz anderes verwandeln. Also wir wollen keine verdichteten Situationen, wie wir sie in Städten finden. Ich mache jetzt ganz bewusst diesen Vergleich: wie Little-Italy oder Chinatown. Wir wollen so etwas nicht für behinderte Menschen. Davon haben wir uns wirklich verabschiedet!

Zwischentitel: 80 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen in Europa

Wir schätzen, dass in Europa ungefähr 80 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen leben. Davon leben ungefähr 1 Million Menschen in Institutionen, in Großeinrichtungen. Das sind überwiegend große Institutionen mit mehr als 30 BewohnerInnen. In Österreich wird diese Gruppe auf ungefähr 13.000 Menschen geschätzt. Aufgrund unserer Erfahrungen, wollten wir ab den 1990er-Jahren die Situation von Menschen, die in Institutionen leben, verändern. Petra Flieger hat schon über die Lebensbedingungen von Menschen in psychiatrischen Großeinrichtungen gesprochen. Die Bedingungen in psychiatrischen Einrichtungen haben auch Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit intellektuellen Beeinträchtigungen betroffen. Und wir waren entschlossen für diese Menschen eine Veränderung herbeizuführen. Wir wollten die Situation politisch gestalten und einen rechtlichen Rahmen schaffen. Dieser Prozess nennt sich Enthospitalisierung und wurde in den 1990er-Jahren angestoßen. Weil wir hier in Tirol sind, muss ich die Geschichten aus Hall in Tirol nicht anführen. Ich muss nicht ausführen, wie es dort gelaufen ist.
Ab den 1990er-Jahren ist der Prozess der Enthospitalisierung unterschiedlich vorangegangen und gestaltet worden. Dahinter steckte aber immer eine klare politische Entscheidung. Das hat dazu geführt, dass auch die Heimsituation als großer Wohnort für Menschen mit Behinderungen infrage gestellt worden ist. Vor allem die Rigidität des Tagesablaufes in Heimen stellen wir immer noch infrage. Es gibt in großen Heimen zum Beispiel Blockabfertigungen. Das heißt, dass zum Beispiel das Essen zu einer fixen Zeit von einer bestimmten Gruppe von BewohnerInnen eingenommen werden muss.

Zwischentitel: Eigener Wille und persönliche Freiheit

Ich habe kürzlich im Sommer eine nette Erfahrung gemacht. Ich war in Österreich Wandern und habe immer wunderschöne Abende in Berghütten verbracht. Ich konnte zum Beispiel Essen gehen, wann ich wollte. Später war ich bei einem Kongress in Japan. Auch dort habe ich eine Bergwanderung gemacht. Ich kam also in einer Berghütte an und dort wurde man eingeteilt: Das Abendessen für dich ist von 6 bis 6:30 Uhr heute Abend. Und morgen für das Frühstück wirst du in die Gruppe um 5:35 Uhr eingeteilt. Da waren wir also plötzlich eingeteilt in Gruppen und meine völlige Freiheit, die ich von den österreichischen Berghütten kenne, gab es in Japan plötzlich nicht mehr.
Genauso geht es Menschen mit Beeinträchtigungen, die in Großheimen leben: Blockabfertigungen. In diesen Großeinrichtungen entsteht eine soziale Distanz zwischen allen – den dort Lebenden und den dort Wirkenden. Es herrschen sehr oft paternalistische Situationen vor, die sowohl im Rahmen eines medizinischen Modells oder eines klassisch-pädagogischen Modells wirksam werden. Das heißt soviel wie: Ich weiß, was für dich gut ist. Zu deinem Wohle handeln wir. Das Handeln gestaltet sich nicht nach dem Willen der BewohnerInnen – was heute das ethische Grundprinzip wäre.
Dadurch entstehen De-Personalisationssituationen. De-Personalisierung bedeutet, dass die BewohnerInnen nicht mehr als eigenständige Personen gesehen werden. Diese Situationen haben psychische Folgewirkungen. Diese Folgewirkungen werden dann wieder von PsychologInnen behandelt. Und auch ich persönlich habe diese Erfahrung gemacht und solche Situationen erlebt. Menschen mit psychischen Auffälligkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten werden therapiert. Wenn ich aber selbst unter diesen Umständen leben müsste, dann würde ich wahrscheinlich früher oder später auch genau diese Verhaltensweisen entwickeln. Also: Ist dann noch eine psychologische Therapie wirklich indiziert oder muss der Psychologe oder die Psychologin in diesen Fällen nicht systemorientiert mitdenken und dann auch entsprechend mitwirken?

Zwischentitel: Die Kultur in Institutionen

Wenn wir uns Untersuchungen ansehen, dann sehen wir, dass die Lebensqualität in Großeinrichtungen deutlich niedriger ist. Das ist nicht nur in Österreich der Fall, sondern überall auf der Welt. Und auch die Gesundheitsergebnisse dieser Personen sind in der Regel wesentlich schlechter, wenn sie in Großeinrichtungen leben. Auch die Lebenserwartung – unabhängig vom Schweregrad der Beeinträchtigungen – ist in Großeinrichtungen niedriger. Das ist nichts Neues, das wissen wir alle.
Die Größe kann ein Indikator – ein Zeichen – für diese institutionelle Kultur sein.
Und jetzt noch einmal die Frage: Was ist eine Institution? Eine Institution kann ich nicht nur auf Grundlage der Größe definieren. Eine Institution – in dem Sinne, wie ich es beschrieben habe – ist eine Einrichtung, in der eine bestimmte Kultur vorherrscht, in der Personen, die begleitet und betreut werden, eben nicht in ihrer Selbstbestimmung genügend geachtet werden. Wir wissen inzwischen auch, dass sich Heimstrukturen negativ auf die Gehirnentwicklung auswirken. Das gilt dann, wenn Mensch schon in ihrer Kindheit in einem Heim leben. Und wir wissen auch, dass Heimstrukturen vor allem nachhaltige Beeinträchtigungen für diese Menschen in ihren Fähigkeitsentwicklungen mit sich bringen. Diese Beobachtungen sind parallel verlaufen mit dem Diskurs über die Umsetzung der Allgemeinen Menschenrechte. Und wir müssen uns fragen: Mit welchem Argument halten wir Personen bzw. die Personengruppe der Menschen mit Lernschwierigkeiten fern vom Genuss dieser Menschenrechte? Und wenn wir überlegen, finden wir in unserer Gesellschaft kein gutes Argument dafür. Außer jenes, dass wir darüber nie nachgedacht haben. Wir haben in den letzten Jahren viel über die menschenrechtliche Situation von Menschen mit Beeinträchtigungen nachgedacht und wir sind zu neuen Vorschlägen gekommen.
Eine Institution würde man heute daran erkennen,

  • dass dort Menschen leben, die von einer breiteren Gemeinschaft isoliert leben (also keinen oder keinen regelmäßigen Kontakt zu einer breiten Gemeinschaft haben),
  • die auch unfreiwillig zusammenleben (Man könnte auch sagen, sie sind hier „verkuppelt“ worden. Nicht in einem partnerschaftlichen Sinn, sondern sie müssen jetzt auf einmal hier zusammenleben), und
  • sie haben keine Kontrolle über ihr eigenes Leben (insbesondere was Entscheidungen anbelangen, die sie selbst betreffen).

Ein zusätzliches Merkmal ist, dass die Interessen der Institution tendenziell ein größeres Gewicht haben als die Interessen der dort Lebenden. Zum Beispiel: Wenn MitarbeiterInnen gerne um 5 Uhr nach Hause gehen (Ich übertreibe jetzt ein bisschen), dann werden diese MitarbeiterInnen um 5 Uhr nach Hause gehen und das Abendessen wird schon um 4 Uhr serviert.
Das kenne ich aus sowohl aus Besuchen in österreichischen Einrichtungen, sowie aus Einrichtungen außerhalb Österreichs.

Zwischentitel: Instrumente der EU für die Umsetzung von Menschenrechten

Das heißt, die Interessen von Einrichtungen haben ein höheres Gewicht für die Organisation und die Begleitung dieser Personen als die Interessen der Personen selbst. In diesem Zusammenhang gab es eine ganze Reihe von Situations- oder Skandalbeschreibungen in Europa. Auch solche Situationen haben dazu geführt, dass wir 2006 die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bekommen haben. Diese UN-Konvention ist in Österreich seit dem 26. Oktober 2008 wirksam. Und hier ist insbesondere der Artikel 19 von Relevanz, der die unabhängige Lebensführung, die Einbeziehung in die Gemeinschaft und die Teilhabe an der Gemeinschaft festschreibt. Diese Punkte müssen für Menschen mit Beeinträchtigungen umgesetzt werden.
Neben der UN-Konvention gibt es noch eine ganze Menge von anderen Instrumenten, in denen die EU sich erklärt hat die Selbstbestimmung zu achten, beispielsweise in der Europäischen Sozialcharta – revidiert 1996 – ist dies festgeschrieben worden. Dann gibt es den Aktionsplan des Europarates 2006-2015 wo das ebenfalls festgehalten ist. Die Europäische Ministerkonferenz hat 2010 eine Empfehlung zur De-Institutionalisierung bzw. zum Gemeinschaftsleben von Menschen mit Behinderungen herausgegeben. Bei dieser Empfehlung waren auch unsere Minister dabei. Der zuständige Minister für Österreich war der Sozialminister.
Die Europäische Kommission hat auch eine Befragung in Auftrag gegeben. In den Mitgliedsländern wurde danach gefragt, was prioritäre und wichtige Themen im Zusammenhang mit der neuen EU-Behindertenstrategie 2010-2020 sind.
Ein Top-Thema bei der Befragung war Selbstbestimmt Leben. Daraufhin hat die EU-Kommission letztes Jahr einen gemeinsamen europäischen Leitfaden für den Übergang von institutioneller Betreuung zur Betreuung in Gemeinschaft herausgegeben. Und das ist das Hauptdokument, das wir haben. Dieses Dokument wurde im November 2012 herausgegeben und ist für uns eine Leitlinie in den europäischen Ländern, um zu einer De-Institutionalisierung in den Heimen in Europa zu kommen. Insbesondere kam der Druck aufgrund der Heimsituationen, die wir aus einigen osteuropäischen Ländern kennen. Aber wir kennen diese Initiative auch aus Griechenland, aus Portugal – also auch aus Ländern, die schon länger bei der EU sind.

Zwischentitel: Anforderungen an ein Zuhause

Wir haben also eine sehr starke rechtliche Grundlage diesbezüglich. Und man hat einen Ansatz, den Begriff „Zuhause“ neu zu definieren und damit ein „Zuhause“ zu schaffen, das eine Person sich wünscht. Es kann verwirklicht werden, wo und wie Menschen leben möchten. Und das ist durchaus auch als ein dynamisches Zuhause zu verstehen. Denn in den verschiedenen Phasen des Lebens sind die Anforderungen an ein passendes Zuhause verschieden. Das ist für uns genau gleich wie für Menschen mit Beeinträchtigungen. Für jede Lebensphase gibt es eine passende Lebens- und Wohnform. Zum Beispiel: Wenn man eine gewisse Zeit in einer Wohngemeinschaft lebt (vielleicht als Student oder Studentin), dann lebt man danach vielleicht gerne einmal eine Zeit für sich. Danach lebt man vielleicht in einer Partnerschaft gemeinsam und dann entscheidet man sich wieder für einen anderen Weg.
Das heißt,  was die richtige Form des Wohnens ist, bestimmt immer der Mensch selbst. Und das sollten wir auch beachten, wenn wir für Menschen mit Beeinträchtigungen oder für Menschen mit Lernschwierigkeiten etwas planen. Der Wunsch in einer anderen Form zu leben, wird höchstwahrscheinlich im Laufe der Zeit aufkommen. Und diesen Wunsch und dieses Begehren haben wir nach Möglichkeit zu unterstützen. Denn die eine richtige Wohnform über das ganze Erwachsenenleben hinweg, die einen Menschen mit Lernschwierigkeiten glücklich macht und wo seine Lebensqualität hoch ist, wird möglicherweise selten vorkommen. Darüber sollte man sich im Klaren sein.

Zwischentitel: Prozesssteuerung auf Basis der EU-Leitlinien

Wie kann ich also die Situation auf Basis der EU-Leitlinien verändern? Der erste Schritt ist die Beurteilung der Situation. Diese Beurteilung ist nicht unbedingt auf das Heim bezogen, sondern eher auf die Region. Man geht also davon aus, dass es in der EU Regionen gibt (das Land Tirol ist zum Beispiel so eine Region). Bezogen auf die Regionen kann man nun sagen: Wir wollen einen Beitrag zur De-Institutionalisierung leisten. Wir wollen, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten zukünftig nicht mehr in institutionellen Großeinrichtungen leben!
Dazu braucht man aber sehr viel. Zuerst einmal diese grundsätzliche Entscheidung. Das heißt: Ich nehme ab quasi morgen keinen Menschen mit Lernschwierigkeiten mehr in so eine Situation auf. Die Grundsatzentscheidung ist der erste Schritt. Dann brauche ich eine Systemanalyse auf der Landesebene und die Bewertung der Ressourcen, die derzeit in einem Land vorhanden sind. Dann brauche ich Informationen über bestehende gemeinschaftsnahe Dienste. Denn das ist die Zielrichtung. Wir wollen vermehrt Dienste bzw. Unterstützungsdienste für Menschen mit Lernschwierigkeiten nutzen, die schon im „Grätzel“ – würde man in Wien sagen – vorhanden sind. Diese kann man dann mitbenutzen. Das ist die Vorstellung und dazu muss man eine Analyse machen.
Dann muss ich eine Strategie und einen Aktionsplan entwickeln. Dazu brauche ich die Einbindung der AkteurInnen in dieses Verfahren. AkteurInnen sind alle, die irgendetwas damit zu tun haben. Die Menschen mit Lernschwierigkeiten in erster Linie, aber das können auch Angehörige sein, das  können DienstleistungsanbieterInnen sein, das können ExpertInnen sein und das sind immer die politischen EntscheidungsträgerInnen. Sie alle sind hier einzubinden.
Die EU-Richtlinie sieht folgende Schritte vor:

  • Die Entwicklung einer Strategie: Was will ich machen?
  • Die Entwicklung eines Maßnahmenplanes: Wie will ich das tun? Wen binde ich ein?
  • Und: die Entwicklung eines realistischen Zeitplanes.
  • Und zudem: die Schaffung eines Rechtsrahmens für gemeinschaftsnahe Dienste.

Das ist das, was uns noch fehlt. Wir brauchen also einen neuen Rechtsrahmen, wie wir gemeinschaftsnahe Dienste entwickeln und auch Sicherheit geben können. Denn erst wenn ein Rechtsrahmen für gemeinschaftsnahe Dienste bzw. Unterstützungsdienste gegeben ist, kann das Recht, in der Gemeinschaft zu leben und aus der Gemeinschaft Unterstützung zu bekommen, umgesetzt werden. Der Zugang zu allgemeinen Diensten und Einrichtungen muss also gesichert sein, ob das im Gesundheitsbereich oder in anderen Bereichen ist.
Wir führen in der Gemeinde Wien eben eine Diskussion, ob man im Gesundheitsbereich wieder spezielle Zentren braucht für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Oder ob diese Dienste doch in den allgemeinmedizinischen Zentren von Wien angeboten werden soll. Die Gemeinde Wien wird sich – soweit ich informiert bin – für den letzteren Weg entscheiden. Obwohl Spezialzentren von Eltern und Angehörigen durchaus sehr oft gewünscht werden. Die Gemeinde Wien will ihre MitarbeiterInnen im Gesundheits- und Krankenhauswesen systematisch für die Kommunikation mit dieser Gruppe neu schulen. Das ist eine ganz klare Entscheidung, die die Gemeinde Wien bereits getroffen hat und dieser Plan steht  kurz vor der Umsetzung. Das ist ein Beispiel aus dem Gesundheitsbereich, das in diese Richtung geht.

Zwischentitel: Vom Tagsatz zum individuellen Entwicklungs- und Förderplan

Die Rechtsfähigkeit von Menschen mit Beeinträchtigungen ist enorm wichtig.
Unterstützte Entscheidungsfindungsprozesse haben im Zusammenhang mit dem selbstbestimmten Leben große Bedeutung. Daher sind auch die Vormundschaft und die Sachwalterschaft in ihrer jetzigen Form zu hinterfragen. Dasselbe gilt für Unterbringung und Behandlung, diese sind ebenfalls zu hinterfragen. Die Gewährung von gemeinschaftsnahen Diensten ist – wie gesagt – das wichtigste, das aufzubauen ist, bevor man jetzt eine Großeinrichtung einfach morgen zusperrt. Denn wenn diese Personen dann in der Gesellschaft keine Unterstützungsbereiche finden, kann es sein, dass dann wieder alte Formen hervorgezogen werden. Ohne ausgebaute Unterstützungsbereiche kann leicht der Eindruck entstehen, dass der beschlossene Plan doch nicht funktioniert. Also: Hier muss man sehr, sehr gut aufpassen.
Auch die Zuteilung der finanziellen und personellen Ressourcen ist enorm wichtig. Es ist von entscheidender Bedeutung kompetentes Personal zu haben und die Finanzierung neuartiger Dienste sicherzustellen. In unserem Sozialsystem ist genug Geld vorhanden. Es ist aber ein anderes Thema, wie wir das vorhandene Geld nutzen. Das österreichische Sozialbudget war noch nie so hoch wie heute und dasselbe gilt für die anderen reichen EU-Länder.
Ein weiterer großer Punkt in den Leitlinien der EU, die 2012 herausgekommen sind, ist die Entwicklung von individuellen und personenzentrierten Plänen im Transformationsprozess. Hier muss es eine Kohärenz geben zwischen dem was eine Person braucht und was an Unterstützung angeboten wird. Also: Ich muss die Person individuell auf ihren Unterstützungsbedarf und auf ihre Bedürfnisse hin befragen und dann ein Unterstützungsprofil bzw. -angebot für diese Person entwickeln. Derzeit finden wir ja oft die Situation vor, dass wir sehr individualisiert vorgehen, aber die Bezahlung und Finanzierung dahinter über Tagessätze läuft. Die Folge davon ist, dass die Einrichtungen eine Quadratur des Kreises leisten müssen. Sie versuchen, der einen Person, die mehr Unterstützungsbedarf hat, etwas mehr zukommen zu lassen und die andere Person, die weniger Unterstützungsbedarf hat, bekommt dadurch möglicherweise etwas weniger. Das ist, sehr vereinfacht ausgedrückt, durch die Struktur der Tagessätze verursacht. Dieses System ist prinzipiell zu überdenken. Und wir haben auch hier durchaus Modelle, wie man diese starre Struktur verändern kann. Zum Beispiel mit einem Instrument, das die Intensität der Unterstützung erfasst. Damit kann der Bedarf sehr verlässlich und valide – mit guter Gültigkeit - erfasst und angepasst werden. Das wird in anderen Ländern bereits so praktiziert und dort sind die Finanzierungen bereits auf diese individuellen Entwicklungs- und Förderpläne abgestimmt.

Zwischentitel: Ein neues Aufgabenprofil für BetreuerInnen und UnterstützerInnen

Es gibt einen weiteren wichtigen Punkt: Die Einbindung der Nutzer und Nutzerinnen in die Entscheidungen über ihre Zukunft. Das ist ein ganz zentrales Element, das auch die europäische Leitlinie als zentral definiert. Die Übergangsphase ist eine sehr sensible. Viel Unterstützung für die BetreuerInnen ist hier gefordert, denn sie stehen jetzt vor ganz neuen Aufgaben. Und sie stehen vor einer ganz neuen Organisation dieser neuen Aufgaben. Auch der Umgang mit Widerstand muss geschult werden. Dass das alles sofort aufgenommen wird, wäre zu idealistisch. Aber es geht hier eben auch um die Frage: Wie gehe ich mit Widerstand um, wenn wir in diesem Prozess sind?
Hier ist es von großer Bedeutung die Qualitätsstandards zu definieren. Als Hauptergebnis einer Qualitätsnorm ist die individuelle Lebensqualität zu sehen. Die subjektive individuelle Lebensqualität der Person ist in der EU-Leitlinie als wichtiges Kriterium angeführt.
Wie bereits gesagt ist die Entwicklung der AusbildnerInnen ein sehr wichtiges Thema. Hier wird auf Autonomie und Selbstbestimmung gesetzt. Und ich sehe, dass auch in Österreich an bestimmten Orten solche Schulungen durchgeführt werden. Diese Art der Ausbildung ist wiederum in sich ein Entwicklungsprozess. Es geht nicht mehr nur darum, dass MitarbeiterInnen etwas in Richtung Selbstbestimmung lernen und dann veranstaltet man einen Workshop für die MitarbeiterInnen, der über zwei Tage läuft.  Sondern heute müssen bei Ausbildungen MitarbeiterInnen und NutzerInnen gemeinsam an einem Tisch sitzen.
Einer meiner Freunde ist Leiter einer großen Einrichtung in Luxemburg, die sehr gemeindenahe Dienstleistungen anbietet. Vor fünf Jahren habe ich zu ihm gesagt: „Wenn Du mich noch einmal für Ihre MitarbeiterInnen zum Thema Selbstbestimmung und deren Bedeutung für die Arbeit einladen möchtest, dann bekommst Du mich hierfür nur, wenn wir einen Workshop gemeinsam mit NutzerInnen und MitarbeiterInnen durchführen. Das heißt, die MitarbeiterInnen sitzen mit den NutzerInnen zwei Tage lang gemeinsam am Tisch!“ Die waren zuerst schockiert und nach einer Bedenkzeit haben sie dann gesagt: „Wir versuchen es!“. Diese Form der Ausbildung ist heute Standard in diesem Betrieb und sie bieten solche Ausbildungen regelmäßig mit Externen an. Es werden häufig Monitorings gemacht, weil sehr viele Konfliktsituationen offen werden. Und dann geht es darum, wie respektvoll man in diesen Situationen miteinander umgeht. Denn wenn eine behinderte Person einen Vorwurf macht, wird der Betreuer oder die Betreuerin tendenziell dialogisch günstiger zu antworten, weil externe Personen anwesend sind. Und das ist der Schlüssel, um zu einer anderen Kultur zu kommen – nämlich einer Kultur der Achtsamkeit und des Respektes. Und diese Einrichtung macht sehr gute Erfahrungen damit und wenn sie neue MitarbeiterInnen einstellen, werden diese durch ein Schulungsprogramm gebracht. Sie verbringen zwei Tage direkt in der Schulung mit den Menschen mit Beeinträchtigungen. Es sind nicht zwei Tage hintereinander, sondern Halbtage, die über ein Monat bzw. über 6 Wochen verteilt sind. Sodass ein Lernprozess entstehen kann. Es sind also keine Crash-Kurse, die am Wochenende schnell mal absolviert werden können. Sondern es soll etwas gelernt werden, sodass sich mit der Zeit etwas verändert. Und diese Schulungsmethode hat sich als sehr gut erwiesen.

Zwischentitel: Freie Entscheidungen auf Basis von Alternativen

Ich habe vorhin gesagt: Institutionen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Menschen wenig Mitbestimmungsmöglichkeiten haben.
Vor einigen Jahren – das war im Zusammenhang mit dem Enthospitalisierungsprogrammen in Österreich – hatte ich die Möglichkeit mit einigen Personen zu sprechen, die im sogenannten „Gugginger-Kinderhaus“ untergebracht waren. Dort waren aber keine Kinder! Das jüngste Kind, das dort lebte war damals 28 Jahre alt. Aber es war die Sprache dort, die das so gekennzeichnet hat – zum Beispiel: Meine Patienten, unsere Kinder, unsere Patienten. Heute sagt man: Unsere Nutzer oder unsere Nutzerinnen. Es ist allerdings immer noch etwas Patriarchales impliziert, sobald das Wort „unser“ verwendet wird. Das sind Indikatoren für patriarchale Sprache. Dort habe ich eine Frau kennengelernt, über die schon entschieden worden war. Weil das Kinderhaus aufgelöst wurde, sollte sie in eine kleine Wohngruppe zu 6 Personen nach Zwettel kommen. Die Frau stammte ursprünglich aus Zwettel und dort lebten auch noch ihre Verwandten. Die Idee war, die Personen aus dem Kinderhaus wieder in gemeindenahe Lebensräume zu bringen, aus denen sie ursprünglich stammten. Und sie – ich nenne sie immer Anna, sie heißt aber anders – hat damals gesagt: Nein, sie gehe da nicht mit. Sie bleibe gerne in Maria Gugging im Kinderhaus. Sie sei zu alt und zu krank. Sie könne das nicht mehr mitmachen. Anna war aber erst 32 Jahre alt und medizinisch kerngesund. Aber sie hatte ein Bild von sich als eine alte kranke Frau. Weil Anna in Gugging überhaupt keinen Einfluss darauf hatte, was sie am nächsten Tag anziehen sollte. Die Kleidung wurde immer herausgelegt. Teilweise war das Anstaltskleidung. Genommen wurde, was eben gerade zur Verfügung stand. Die Anna hatte keinen Einfluss darauf, was als Essen serviert wurde. Sie wusste auch gar nicht, wie Essen zubereitet wird. Sie hatte nie die Möglichkeit, das zu lernen. Und Anna hat sich gewehrt Gugging verlassen zu müssen! Man ist dann mit Anna einmal nach Zwettel gefahren, um ihr das zu zeigen und um ein bisschen ihren Widerstand zu brechen. Und Anna ist mitgegangen und ich habe Anna etwa 14 Monate später in Zwettel besucht. Und Anna hatte mittlerweile gelernt, sich ihre Kleider selbst auszuwählen. Sie hat gelernt sich selbst kleine Mahlzeiten zu kochen. Und Anna hat gesagt: „Ich möchte nie mehr nach Gugging zurück!“.
Wir sagen immer: Es ist wichtig, den Willen der Menschen zu berücksichtigen. Aber das betrifft oft Lebenssituationen, bei denen wir sagen: Es ist unerträglich, dass Anna in dieser Lebenssituation weiterhin lebt. Auch wenn Anna jetzt sagt, sie möchte dort bleiben. Anna hat das gesagt, weil sie nie etwas Anderes kennengelernt hatte. Sie konnte keinen Vergleich machen. Anna hatte keine Lernchancen. Sie ist im Alter von drei Jahren in das Kinderhaus in Gugging gekommen und sie lebte 29 Jahre dort. Sie hat nur diese Welt kennengelernt. Wir kennen das aus Filmen, dass man Menschen so aufwachsen lässt. Das ist dann eine fiktive Story über Menschen, die in einer fiktiven Welt leben und nie die Welt von Außen kennengelernt hat.

Zwischentitel: Kostenfalle Selbstbestimmung?

Wir sehen aber auch Widerstand. Es gibt GestalterInnen der Lebensmöglichkeiten für Menschen mit Beeinträchtigungen, die das letzte Wort darüber haben. Das sind diejenigen, die das Geld haben und die uns das Geld geben, um Dienstleistungen aufzubauen. Also: Die Politik bzw. die politischen EntscheidungsträgerInnen oder die Landesregierungen. Wir bekommen sehr oft von ihnen zu hören, dass die kleinen Wohneinrichtungen teurer sind als die Großeinrichtungen. Wir haben sehr gute Studien – auch von der EU-Kommission in Auftrag gegeben als sie diese Leitlinien entwickelt hatten –, die besagen, dass das alles nicht stimmt.
In Europa haben wir uns als Ergebnisparameter auf die „Lebensqualität der betroffenen Personen“ geeinigt. Die Lebensqualität steht in einem engen Zusammenhang mit Selbstbestimmung und Autonomie. Da heißt: entscheiden können, Optionen haben, wählen können. Wenn wir also die Lebensqualität als Ergebnisparameter nehmen, dann sehen wir, dass sich das am besten in kleinen Wohnformen oder in kleinen Gruppen realisieren lässt. Die betroffenen Personen leben dann zu zweit, zu viert, zu sechst oder allein, gemäß ihren eigenen Wünschen. In einer Studie, die in einigen EU-Ländern durchgeführt worden ist, ist belegt, dass dadurch die Ausgaben um 5 bis 7 % höher sind. Das heißt: Die kleinen Wohnformen sind etwas teurer, aber mit ihnen wird effektiv das vereinbarte Ziel erreicht, nämlich Lebensqualität. Die kleinen Wohnformen sind in diesem Zusammenhang den Großeinrichtungen um Welten voraus. Und wenn man dann noch eine Vollkostenrechnung – wenn man schon bei der Ökonomie ist – machen würde, dann müsste man auch wieder auf das zurückkommen, was ich vorhin gesagt habe. Nämlich, dass das Leben in einer Großeinrichtung mit einer höheren Medikation einhergeht. Das Risiko krank zu werden ist höher und der Gesundheitszustand ist schlechter. Und daraus entstehen wiederum Folgekosten.
Ein selbstbestimmtes Leben geht auch in Richtung Arbeitsmarkt. Grundbedingung ist die arbeitsrechtliche Absicherung. Die Teilhabe am Arbeitsmarkt ist etwas, woran auch das Land bzw. der Staat Interesse hat. Teilhabe an der wirklichen Arbeit bedeutet in der Folge, dass Finanzierungsbeiträge an den Staat zurückkommen.
Die Studien belegen sehr gut, dass – unter Einrechnung der Umwegrentabilität – die kleinen Wohneinrichtungen global gesehen volkswirtschaftlich kostengünstiger sind als Großeinrichtungen. Das ist ein Fazit, mit dem wir arbeiten können. Wir sind heute sehr oft mit einem ökonomischen Diktat konfrontiert. Und all jenen Beamten und Beamtinnen – oder wer diese Menschen auch immer sind –, die der Meinung sind, dass das andere günstiger sei, können wir diese Studien zeigen. Und wir müssen diese Studien auch wirklich verbreiten und sie zur Diskussion bringen.
Wenn die kleinen Wohnformen gemeinschaftsnah und optimal koordiniert werden, sind sie nicht viel teurer als Großeinrichtungen. Wenn die Koordination nicht optimal geplant wird, verhält es sich anders. Zum Beispiel: Wenn sich der Personalplanungseinsatz auf den Unterstützungsbedarf hin orientiert, dann kann das durchaus teurer werden. Aber da haben wir sehr gute Erfahrungen, wie man das in einer sehr klugen Organisationsform koordinieren kann, damit der Aufwand und die Finanzierung von MitarbeiterInnen und AssistentInnen eine optimale Balance hält. Der Bericht, auf den ich Bezug genommen habe, ist der sogenannte DeKLOC-Bericht. Der volle Titel lautet “Deinstitutionalisation and Community Living Outcomes and Costs in Europa”. Die Studie ist 2007 durchgeführt worden und ist sicherlich unsere Hauptstudie zum Thema. Sie wurde von renommierten ÖkonomInnen an der London School of Economics durchgeführt, die im Bereich des Sozialen bzw. der Sozialökonomie wirken. Das sind Jim Mansell, Martin Knapp, Julie Beadle-Brown und Jeni Beecham. Diese Studie bzw. die Ergebnisse sind etwas, das wir heute in der Tasche haben sollten wenn wir in Verhandlungen gehen, um es dort auf den Tisch zu legen.

Zwischentitel: Der UN-Auftrag heißt De-Institutionalisierung

Und damit möchte ich meinen Beitrag jetzt schließen und ich möchte dazu ermuntern und auffordern, dass wir diesen Weg hin zur Realisierung und zur Respektierung der Menschenrechte für Menschen mit Lernschwierigkeiten und Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen auch in Österreich konsequent weitergehen.
Was ich nicht erwähnt habe: Wir haben Anfang bzw. Mitte September den ersten Staatenprüfbericht über die UN-Konvention bekommen und dort finden wir wieder genau diese Aussagen: Österreich wird daran erinnert, dass es seine Aufgabe zu erfüllen hat. Das heißt: Weg von den Großheimen! Und wir müssen darauf achten, dass die neue Bundesregierung diese Aufgabe mit in ihr Koalitionsabkommen hineinnimmt. Und auch wir von der Lebenshilfe (und das ist der einzige Satz, den ich über die Lebenshilfe sage) werden darauf achten, dass das auch geschieht. Die Gespräche diesbezüglich laufen in Wien und bei den Unterschriften zu diesen Transformationsprozessen findet sich auch die Unterschrift von einem EU-Kommissar. Dieser EU-Kommissar heißt Johannes Hahn. Er ist Österreicher – wie wir alle wissen – und er hat auch diese Leitlinie zur De-Institutionalisierung als EU-Kommissar unterschrieben. Auch Herrn Hahn können wir einmal nach Innsbruck einladen, um das weitere Vorgehen im Land Tirol oder in anderen Bundesländern in Österreich zu diesen Richtlinien zu besprechen.
Ich hoffe, damit ein bisschen etwas Neues gesagt zu haben. Wir haben neue Instrumente und die Richtung ist: Menschenrechte beachten und Teilhabe ermöglichen. Dankeschön!


Literatur:

Selbst bestimmt Leben – Wibs (Hrsg.in) (2012): Mutbuch. Neu Ulm: AG SPAK Bücher.

Jim Mansell, Martin Knapp, Julie Beadle-Brown and Jeni Beecham (2007): DeKLOC-Bericht. Deinstitutionalisation and Community Living Outcomes and Costs in Europa. 

 


Semesterschwerpunkt: PROTEST 02

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