Die Universität Innsbruck, die Fakultät für Soziale und Politische Wissenschaften und das Institut für Politikwissenschaft trauern um Univ. Prof. i.R. Dr. Heinrich Neisser.
Mit Heinrich Neisser verliert nicht nur die Republik Österreich einen profilierten, integren und vor allem prinzipientreuen Politiker und elder statesman, sondern auch die Wissenschaft einen angesehenen und engagierten Forscher und Lehrenden, der stets bestrebt war, akademisches Wissen und politische Praxis zu verbinden.
Geboren 1936 in Wien, absolvierte Neisser hier das Studium der Rechtswissenschaften und begann seine politische Laufbahn nach Jahren in der Verwaltung als Berater von Bundeskanzler Klaus. Im Jahr 1969 wurde er Staatssekretär im Bundeskanzleramt und war anschließend lange Jahre Abgeordneter im Nationalrat, bevor er 1987 zunächst Bundesminister im Bundeskanzleramt und anschließend zum Bundesminister für Föderalismus und Verwaltungsreform in der Regierung Vranitzky II wurde. 1990 wechselte er wieder als Abgeordneter in den Nationalrat und wurde Klubobmann der ÖVP. 1994 wurde er schließlich zum 2. Nationalratspräsident gewählt.
Heinrich Neisser legte in seiner politischen Laufbahn die Schwerpunkte stets auf die die Geschichte der Republik durchziehende Frage, wie Österreich als Bundesstaat besser organisiert und der Parlamentarismus gestärkt werden könnte. Als überzeugter Europäer setzte er sich frühzeitig für den EU-Beitritt Österreichs ein. Nicht von ungefähr war Beethovens neunte Symphonie mit der „Ode an die Freude“, heute allen als Europahymne ein Begriff, dem passionierten Klavierspieler und ausgebildeten Chorleiter besonders wichtig.
Noch vor seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik 1999 lehrte Heinrich Neisser ab 1987 als Honorarprofessor an der Universität Innsbruck und deckte am Institut für Politikwissenschaft den Fachbereich „Europäische Integration“ ab. Von 2000-2007 erhielt er hier einen Jean-Monnet-Lehrstuhl und blieb im Weiteren, bis zu seiner Pensionierung (und darüber hinaus!), dem Institut als Professor im Fachbereich „Europa“ erhalten.
Neisser hat diesen Schwerpunkt zu einer Neustrukturierung des Forschungsinteresses geführt und zugleich – man ist geneigt zu sagen, nebenher – die internationale Vernetzung des Instituts immens gefördert. Erinnert sei u.a. an die unter seiner wissenschaftlichen Leitung ab 2001 stehende Summer School Innsbruck-Trient. Seine weit verzweigten Verbindungen nach Brüssel sind nicht nur dem Institut zugutegekommen, sondern auch seinen Studenten und Studentinnen.
Als Verfasser breit rezipierter wissenschaftlicher Standardwerke reihte sich Heinrich Neisser ein in den Kreis EU-weit herausragender Forscher zur Integration der Gemeinschaft. Stets und mit gleicher Verve war und blieb er begeisterter und begeisternder akademischer Lehrer, beeindruckte als solcher durch sein breites Wissen und vermittelte dabei Prozesse der europäischen und österreichischen Politik – alles immer mit einer guten Prise Humor und persönlichen Anekdoten unterlegt. Generationen von Studierenden haben ihn als nahbaren Professor mit höchsten Standards geschätzt.
Heini Neisser, wie KollegInnen und Freunde ihn nennen durften, zählte mit seiner ruhigen und bedächtigen Art fachlich und menschlich zu den tragenden Säulen des Instituts. Seine Meinung war gefragt und hatte Gewicht, sowohl bei der älteren als auch der jüngeren Generation. Jede Sitzung, jede kollegiale Zusammenkunft, jedes zufällige Treffen in den Gängen der Fakultät war eine Bereicherung. Heinrichs Lebensfreude, seine liberale Grundeinstellung und Offenheit gegenüber allen Meinungen, und seine Jovialität und zugleich immer gescheiten und tiefsinnigen Anekdoten erzeugten eine nachgerade ansteckende Aura positiv-kritischen Denkens.
Auch nach seiner Pensionierung blieb Heinrich Neisser der Universität Innsbruck verbunden. Er erkundigte sich regelmäßig nach dem Wohlbefinden der Kolleginnen und Kollegen, nahm gerne auch an Feiern Teil, und wirkte weiterhin als Lehrer und als gewissenhafter Betreuer einer Vielzahl von Studierenden.
Mit Heinrich Neisser hat sich einer verabschiedet, dem zeitlebens kaum etwas zu groß und nie etwas zu minder war. Er hat die Maßstäbe für gute Politik nicht gesetzt. Er hat sie aber praktiziert, und das vorbildlich. Neisser war nicht bescheiden, er wusste um sein Format, kannte, wie man so sagt, Gott und die Welt. Und das im besten Einvernehmen quer durch die politischen Lager.
Mit Heinrich Neisser verlieren die Universität Innsbruck, die Fakultät und das Institut eine prägende Persönlichkeit; eine, die nachwirkend Eindrücke und Spuren hinterlässt – durch den Aufbau und die Verankerung der Forschung zur Europäischen Integration und unvergesslich all den Menschen, die das große Privileg hatten, ihn dabei zu erleben oder gar mitzuwirken, wenn er unermüdlich sein Lebensprojekt verfolgte: die Bewahrung – und im Idealfall Weiterentwicklung – unserer vor Attacken nie gefeiten Demokratie.
Heinrich Neissers Zeit ist um. Die Dankbarkeit bleibt.
† Univ. Prof. i.R. Dr. Heinrich Neisser (1936–2025)
Ein Nachruf.