Mann mit grüner Arztkleidung und Stethoskop um den Hals schreibt auf Papier, daneben ein Laptop, zu sehen ist nur der Oberkörper sitzend, der Kopf ist nicht sichtbar.

Schlaganfälle sind die weltweit zweihäufigste Todesursache – eine neue Methode kann helfen, individuelles Risiko einzuschätzen.

Schlag­an­fall-Risiko früh­zei­tig bestim­men

In einem Jahr erleiden weltweit über 100 Millionen Menschen einen Schlaganfall. Expert:innen unter Leitung des Universitätsklinikums Bonn und Beteiligung von Expert:innen aus elf Ländern, darunter ein Team der Universität Innsbruck, stellen nun im Fachjournal „The EPMA Journal“ einen ganzheitlichen prädiktiven Ansatz zur vorbeugenden und individuellen Behandlung vor.

Bei weltweit rund 100 Millionen Schlaganfällen pro Jahr tritt der ischämische Schlaganfall (Hirninfarkt) am häufigsten auf. Er kann jedoch auch „im Stillen“ verlaufen und bleibt damit oft unentdeckt. Die Folge können schwere körperliche und psychische Erkrankungen wie Demenz, Depression oder sogar Suizid sein. Um das Schlaganfall-Risiko frühzeitig bestimmen zu können, hat ein Team um Prof. Dr. Olga Golubnitschaja, Leiterin der Forschungsgruppe für 3P (prädiktive, präventive und personalisierte) Medizin des Universitätsklinikums Bonn zusammen mit der Universität Bonn, der Universität Innsbruck und Autor:innen von 24 weiteren Institutionen aus 11 Ländern, einen ganzheitlichen Ansatz zur vorbeugenden und individuellen Behandlung erarbeitet und jüngst in einer neuen Publikation vorgestellt. 

Zunahme an Schlaganfällen

Weltweit hat die Zahl der Schlaganfälle in den vergangenen Jahren zugenommen. „Alarmierend sind vor allem die Zahlen bei den jüngeren Menschen unter 50“, erklärt Prof. Golubnitschaja. „Hier hat sich die Zahl innerhalb von drei Jahren verdoppelt. Hinzu kommen außerdem die unentdeckten Fälle. Schätzungen besagen, dass der Anteil in der Bevölkerung etwa 14-mal größer ist als der Anteil der diagnostizierten Fälle, auf die reaktive medizinische Maßnahmen angewendet werden.“

Die Forscher:innen haben deshalb ein innovatives Konzept erarbeitet, das zur Verhinderung von Schlaganfällen beitragen soll und auf „prädiktive“ anstelle der „reaktiven“ Medizin setzt. Den Wissenschaftler:innen geht es darum, die Wahrscheinlichkeit von Erkrankungen vorherzusagen und darauf basierend Maßnahmen zu treffen, um das Krankheitsrisiko zu verringern, anstatt auf eine bereits etablierte Krankheit zu reagieren. „Die Entwicklung von einer Prädisposition zum klinisch nachgewiesenen Schlaganfall oder auch zum Herzstillstand passiert nicht von heute auf morgen, sondern über Jahre. Daher ist die Zeit für eine gezielte Prävention geräumig und soll zugunsten der anfälligen Bevölkerungsgruppen kosteneffektiv genutzt werden. Es gibt verschiedene Risikofaktoren und Parameter, die darauf hinweisen und die vorab untersucht werden können“, so Prof. Golubnitschaja. Gemeinsam mit ihrer Forschungsgruppe der Universität Bonn und dem internationalen 3PM-Konsortium (European Association for Predictive, Preventive and Personalsed Medicine, EPMA) hat sie einen nicht-invasiven, schmerzfreien Ansatz entwickelt, der eine Gesundheitsrisikobewertung durch Tränenflüssigkeit, Mitochondrien als lebenswichtigen Biosensor und eine KI-gestützte Dateninterpretation nutzt. Beteiligt ist auch ein Team um den Molekularbiologen und Systemischen Neurowissenschaftler Ass.-Prof. Alexander Karabatsiakis von der Universität Innsbruck: „Das Bedeutsame an unserem Ansatz ist, dass die medizinische Diagnostik neu auch auf biologischen Analysen fundiert werden soll.“ Das Innsbrucker Team um Alexander Karabatsiakis verfolgt mit der Analyse von Haarproben im Kontext von Depression und Suizid einen ähnlichen 3PM-Ansatz.

Mitochondrien dienen als natürlicher Biosensor

„Mitochondrien sind in jeder Zelle unseres Körpers vorhanden und fungieren als lebenswichtiger Partner und strenger Beobachter, ob mit unserer Gesundheit alles stimmt“, erklärt Prof. Golubnitschaja. „Wenn etwas nicht in Ordnung ist, melden sich die Mitochondrien durch Mitophagie und signalisieren an alle Systeme, dass wir ein gesundheitliches Problem haben. Diese Signale sind objektiv anhand von Flüssigbiopsien messbar.“ Durch die nicht-invasive und für den Betroffenen schmerzfreie Entnahme der Tränenflüssigkeit kann somit ein individuelles Profil der Patient:innen erstellt werden. 

Ergänzt durch zusätzliche routinemäßige Befragungen bei den regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen, zum Beispiel über familiäre Veranlagungen, psychische Belastungen, aber auch Lebensgewohnheiten wie Schlaf- und Ernährungsverhalten, entsteht somit eine Reihe von Parametern für eine individualisierte Risikobewertung. Aufgrund der Vielzahl an Parametern setzen die Forschenden auf künstliche Intelligenz (KI), um Algorithmen zu entwickeln, die eine präzise prädiktive Diagnose und damit das Ausarbeiten von gezielten Vorsorgemaßnahmen ermöglichen.

„Die Umsetzung der 3PM-Innovation spart sowohl menschliche als auch finanzielle Ressourcen“, sagt Prof. Golubnitschaja. „Die geschätzte weltweite wirtschaftliche Belastung durch Schlaganfälle beträgt über 891 Milliarden US-Dollar jedes Jahr. Das ist ein wirtschaftliches Desaster, dem wir durch prädiktive Medizin entgegenwirken wollen, indem wir durch unseren ganzheitlichen Ansatz Schlaganfällen entgegenwirken können, bevor sie entstehen.“ Alexander Karabatsiakis ergänzt: „Hier spielen neben der neu vorgestellten Analyse von Tränenflüssigkeit – Omics-Analysen zur Identifikation von Biomarkern – auch die Beteiligung der Mitochondrienfunktion eine zentrale Rolle. Sowohl Omics-Analysen als auch Mitochondrienfunktion sind essentieller Bestandteil auch unserer Innsbrucker Forschungsbereiche und sollen bedeutsame Verbesserungen im medizinischen Kontext bewirken.“

Publikation:
Olga Golubnitschaja et al.; The paradigm change from reactive medical services to 3PM in ischemic stroke: A holistic approach utilising tear fluid multi-omics, mitochondria as a vital biosensor and AI-based multi-professional data interpretation; DOI: https://doi.org/10.1007/s13167-024-00356-6

(Uniklinik Bonn/red)

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