Zahlreiche Personen in einem Seminarraum blicken in die Kamera

Studierende eines Seminars unter der Leitung von Ulrike Tanzer mit dem Autor Norbert Gstrein.

Tie­fen­boh­run­gen: Zu Nor­bert Gstreins Poe­tik

Mitte November war der aus Tirol gebürtige Autor Norbert Gstrein zu Gast im Forschungsinstitut Brenner-Archiv und im Literaturhaus am Inn. Eine internationale Tagung widmete sich verschiedenen Themen und Aspekten in Gstreins Oeuvre. Studierende erhielten die einzigartige Gelegenheit, mit dem Autor und den Referent:innen ausführlich ins Gespräch zu kommen und schildern ihre Eindrücke.

Norbert Gstrein ist in Innsbruck wahrlich kein Unbekannter – er studierte Mathematik an der Universität Innsbruck und veröffentlichte seine ersten Arbeiten in Tiroler Kulturzeitschriften wie dem von Wolfgang Pfaundler herausgegebenen fenster.  Seit seinem fulminanten Debüt Einer (Suhrkamp 1988) ist Norbert Gstrein eine fixe Größe innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Österreichischen Buchpreis 2019 und mit dem Thomas-Mann-Preis 2021.

Stimmen der Student:innen:

Nach vier gehaltenen Vorträgen gab es eine zweistündige Pause bis zur Lesung des Autors. Diese Zeit war für mich besonders spannend. Studierende kamen in den Austausch mit Literaturwissenschaftler:innen, alle kamen in den Austausch mit dem Autor und viele hatten das Gefühl, diese zwei Stunden könnten ruhig länger dauern. „Können wir diesen ersten Tagungstag nicht auf dem Balkon ausklingen lassen?“ – so oder so ähnlich brachte dies der Autor selbst auf den Punkt. Doch bin ich trotzdem froh, dass dies nicht der Fall war. Bei der Lesung sprach Gstrein mit Joachim Leitner, Redakteur der Tiroler Tageszeitung, was sich als besonders amüsant erwies, da sich die beiden Personen schon kannten und somit mit dieser Lockerheit in den Austausch traten. Im Zuge der Lesung las der Autor drei seiner Kolumnen vor, von welchen ich sehr überrascht war. Im Vergleich zu seinen Werken waren diese in sich geschlossen und boten ein geschlossenes Ende, welches man in seinen Werken vergeblich sucht. Es ist ein besonderer Genuss, wenn ein:e Autor:in selbst seine:ihre Schriften vorliest – Gefühle und Gedanken schwingen mit, das Publikum hängt gebannt an seinen:ihren Lippen und selbst die Kritiker:innen schweigen für diesen Moment. Der Kolumnist Norbert Gstrein war für mich ein anderer als der Schriftsteller Norbert Gstrein.

Thomas Hainz

Eine internationale Tagung widmete sich verschiedenen Themen und Aspekten in Gstreins Oeuvre. Der Titel der Tagung „Tiefenbohrungen“ spielt einerseits auf Walter Methlagls Aufsatzsammlung Bodenproben (2002) an, die kulturgeschichtliche Reflexionen vor allem zur Zeitschrift Der Brenner enthält, andererseits auf ein geologisches Verfahren. Geologische Bohrungen dienen dazu, Regionen unterhalb der Erdoberfläche zu erreichen, die mit anderen Methoden nicht zugänglich sind. Anhand des geförderten Bohrkleins sowie von Bohrkernen können die geologischen Verhältnisse im Untergrund untersucht werden. Sie geben Aufschluss über unsere Erd- und Klimaentwicklung, sind also so etwas wie ein Archiv.

Ein Tag voll mit neuen Impulsen zu Themen und Strukturen, die ein breites Feld öffnen und als Leser:in häufig unberücksichtigt bleiben. Vor allem zwei Aspekte waren für mich sehr eindrücklich. Zum einen die Rolle der anti-immersiven Erzählstruktur, die versucht, mithilfe eines unzuverlässigen Erzählers, das Eintauchen in die Welt der Protagonisten zu vermeiden oder einzugrenzen. Dies zeigt sich in Norbert Gstreins Romanen sehr häufig, zieht sich durch seine Narrative und wurde von Anke Detken und Gerhard Kaiser thematisiert. Zum anderen wurde Gstreins Roman Vier Tage, Drei Nächte von Jelena Spreicer in den Fokus genommen, der für mich neu war und erstmals das Thema „Rassimus“ darlegt, wo Norbert Gstrein anmerkte, dass die Figuren bei den Leser:innen fortwährend als weiß in den Köpfen vorherrschen. Für ihn war es eine Herausforderung, seine Figur „farbig“ zu machen, ohne es in Worte zu fassen. Das war für mich ein neuer Blickwinkel und zeigt auf eine gewisse Weise ein Bild, das ohne es zu merken, auf Rassismus beruht.

Elisabeth Walter

Neue, ja überraschende Zusammenhänge brachten auch die Vorträge von Expert:innen aus Deutschland, Kroatien, Österreich und der Schweiz zu Tage: Anke Detken und Gerhard Kaiser (Göttingen) untersuchten Norbert Gstreins anti-immersive Erzählstrategien und zeigten Kontinuitäten des „Spurenverwischens“ von Einer bis Der zweite Jakob. Werner Michler (Salzburg) referierte über Krieg, Journalismus und Literatur bei Gstrein. Der Roman Das Handwerk des Tötens (2003) vermittelt etwa exemplarisch eine Mediengeschichte in nuce. Jelena Spreicer (Zagreb) widmete sich erzähltheoretisch dem Roman Vier Tage, drei Nächte (2022) und analysierte das Zusammenspiel von Form und Inhalt. Die Globalisierungseffekte bei Gstrein standen im Mittelpunkt von Alexander Honolds (Basel) Vortrag, der von Nordamerika als Schauplatz bis zum Nahen Osten reichte.

Eine Aussage Gstreins ist mir ebenfalls in Erinnerung geblieben, da sie meine Perspektive auf die unzuverlässigen Erzählerfiguren stark verändert hat. Zunächst fand ich es beim Lesen sehr irritierend, dass man bei vielen der Erzählungen nicht eindeutig herausfindet, was passiert ist und viele Fragen offen bleiben. Gstrein meinte dazu, dass jede Art der Erzählung im Grunde genommen unzuverlässig sei und man nie davon ausgehen könne, dass die übermittelten Informationen der Realität entsprächen. Darüber dachte ich noch lange nach und mich faszinierte diese Ansicht. Außerdem fand ich die Diskussion rund um die Namensgebung der Charaktere interessant, da mir nicht bewusst war, welches Ausmaß die Bedeutung eines Namens haben kann und wie stark sich die Melodie eines Textes durch die Verwendung unterschiedlicher Namen verändert.

Jana Menghini

Die Bandbreite war groß: von anti-immersiven Erzählstrategien bis zu Globalisierungseffekten war vieles dabei - in besonderer Weise der Autor selbst. Norbert Gstrein war - wie er später selbst preisgab - mit gemischen Gefühlen zur Tagung nach Innsbruck gereist.
Die Konstellation im Literaturhaus mit den eloquent und schlüssig Referierenden voran, den etwas schüchternen Seminarteilnehmern als Hörern und den Autor einzeln und beobachtend im Nacken. Diese Anordnung dauerte eine Zeit und löste sich spätestens in der Pause bei Kaffee und Kuchen in spontanen Gesprächen zwischen Rednern, Hörerinnen und dem Autor auf. Dem glücklichen Umstand, sich nicht nur im Literaturhaus, sondern auch in Archivnähe zu befinden, war das Hervorbringen einiger einzigartiger Archivstücke geschuldet. Norbert Gstrein schien den kurzen Aufmerksamkeitsverlust an Georg Trakls handschriftliche Besonderheiten gerne hinzunehmen. Seinen eigenen literarischen Archivausgrabungen in Form von früher Lyrik trat er entschieden entgegen. Die volle Aufmerksamkeit des Publikums hatte Norbert Gstrein spätestens wieder bei seiner gut besuchten Lesung am Abend. Die Kolumnen, aus denen er las, waren von Bescheidenheit im Stil und Aktualität im Kontext geprägt. Viele verließen zufrieden den Abend, es mag unter ihnen auch der Autor gewesen sein.

Manuel Maierhofer

Eine Führung durch das Brenner-Archiv rundete den Vortragsteil ab. Anton Unterkircher zeigte wertvolle Autographen aus dem Archiv, von Georg Trakl über Rainer Maria Rilke bis Ludwig Wittgenstein und Karl Kraus. Im Redaktionsarchiv der Zeitschrift das fenster finden sich – auch zur Überraschung des Autors – dessen frühe Gedichte.

Norbert Gstrein mag zwar auf seinen Bildern ernst, bestimmend, gar überheblich wirken, doch dieser Schein trügt! Er ist ein ruhiger, besonnener und äußerst herzlicher Mensch. Selten wich er einer Frage aus, faszinierte das Publikum mit Hintergrundgeschichten zu seinen Werken, welche uns teils tief in sein Leben Einblicken ließen. Er hörte stets aufmerksam zu und unterbrach niemals die sprechende Person. Sein mathematischer Werdegang spiegelte sich stets in der Akkuratheit seiner Wortwahl wider.

Kevin Lachberger

Das Publikum setzte sich u.a. aus den Teilnehmer:innen des Seminars zu Norbert Gstrein (Leitung: Ulrike Tanzer) zusammen. Die Studierenden erhielten damit die einzigartige Gelegenheit, mit dem Autor und den Referent:innen ausführlich ins Gespräch zu kommen.
Die abendliche Lesung im voll besetzten Literaturhaus am Inn zeigte eine völlig andere Facette Gstreins. Im Gespräch mit dem Literaturkritiker Joachim Leitner (Tiroler Tageszeitung) las der Schriftsteller aus Kolumnen für die Zeitschrift Volltext.

Dem Unnahbaren so nah

Den Protagonisten auf die Spur zu kommen, die ausgestreuten Kieselsteine zu Fährten zu verbinden, dem Bandenspiel zu folgen, als das versuchten wir an den Gstrein-Tagen. Die Vortragenden erklärten, veranschaulichten, machten Vieles sichtbar, spürten aber den Autor im Nacken, der befreit zuhörte und auch manches einwarf. Die Lesung war sein großer Auftritt, jetzt war er auf der Bühne. Einer, der seine Heimat versuchte abzuwerfen. Erst am zweiten Tag gab es Einblicke und Ausblicke, in sein Werk, in seine Intention. Jetzt war er ganz nah, der Unnnahbare.

Isabella Kindler

Ein Höhepunkt der Veranstaltung war schließlich das Konversatorium am Samstag vormittags, wo Norbert Gstrein offen und zugewandt auf die zahlreichen Fragen der Studierenden einging. Insgesamt war das Seminar samt Tagungsbesuch, Lesung und Gespräch ein gelungener Versuch, sich intensiv mit einem zeitgenössischen Schriftsteller auseinander zu setzen und einen Blick in dessen Dichterwerkstatt zu werfen.

(Ulrike Tanzer)

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