Vortragssituation in einem Ausstellungsraum

Studierende des Seminars „Biografie und Subjekt in der (Post)Migrationsgesellschaft“ von Univ.-Prof. Marc Hill lauschen dem Gastvortrag von Schlingensief-Expertin Dr.in Sarah Hegenbart im Kunstraum Innsbruck.

Seminar mit Sarah Hegenbart über Schlingensiefs Operndorf

Am 15. Juni 2023 hielt die ausgewiesene Schlingensief-Expertin und Kunsthistorikerin Dr.in Sarah Hegenbart im Rahmen des Seminars Biografie und Subjekt in der (Post)Migrationsgesellschaft einen Gastvortrag „Oper der Ambiguität“ über Christoph Schlingensiefs Opera-Village. Studierende des Seminars von Univ.-Prof. Marc Hill diskutierten im Kunstraum über die kontroversen Aktionen von Schlingensief.

Für das Seminar im Kunstraum hat Marc Hill vom Institut für Erziehungswissenschaft ein Interview mit der international ausgewiesenen Schlingensief-Expertin Sarah Hegenbart geführt.

Marc Hill: Was verbindet Dich persönlich mit dem „Village Opéra de Christoph Schlingensief“?

Sarah Hegenbart: Meine eigene Forschung zum Operndorf begann mit einem Ausstellungsprojekt in Großbritannien. Im Mai 2012 kuratierte ich die erste Einzelausstellung Christoph Schlingensiefs an der Deutschen Botschaft in London. Dabei wurde mir bewusst, dass Schlingensiefs Ironie, sein Spiel mit Ambiguitäten und Friktionen und seine zahlreichen Bezüge zu gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Ereignissen möglicherweise jenseits des deutschen Sprachraums unverständlich bleiben, da sie ein Grundwissen über sprachliche und zeithistorische Kontexte erfordern. Meine Lesart des Operndorfs habe ich entwickelt, indem ich mich wie Schlingensief auf eine Reise von Bayreuth nach Burkina Faso begeben habe, die einem kontinuierlichem (Selbst-)Erkenntnisprozess geähnelt hat. Das Operndorf selbst habe ich im Jahre 2015 besucht.

Mit welchen Ambiguitäten warst Du als Schlingensief-Forscherin im Operndorf selbst konfrontiert?

Sarah Hegenbart: Als weiße Akademikerin mit zahlreichen Privilegien fühlte ich mich dort mit folgendem Dilemma konfrontiert: Beteilige ich mich durch die voyeuristische Beobachterinnenperspektive als Forscherin im Operndorf nicht an der Fortschreibung (neo-)kolonialer Ungleichheiten oder gelingt es mir, einen kleinen Teil zur Aufarbeitung davon zu leisten? In der Hoffnung, dass Letzteres der Fall sein würde, war es mir ein großes Anliegen, endlich auch die Akteur:innen vor Ort zu Wort kommen zu lassen, die in den nach Deutschland medialisierten Diskursen kaum präsent sind.

Welche neue Perspektive hast Du gewonnen?

Sarah Hegenbart: Für mich war die Beschäftigung mit dem Operndorf transformierend, weil es mir die Augen geöffnet hat für einen Teil der deutschen Geschichte, mit dem ich mich bis dahin eher weniger beschäftigt hatte: den Kolonialismus und die damit verknüpften rassistischen Ideologien. Leider ist der durch den Kolonialismus forcierte Rassismus auch in der Ära der Dekolonialisierung nie verschwunden. Im Gegenteil. In einem Zeitalter der postfaktischen Politik, in dem populistische Politiker:innen mit dem Denken der weißen Vorherrschaft Massen mobilisieren und sich rechtsextreme Politiker:innen in Deutschland nun auch parlamentarisch institutionell verankert haben, ist ein Bewusstsein und eine Kenntnis rassistischer Denkmuster und deren perfide Resonanz in politischen und gesamtgesellschaftlichen Diskursen fundamental. Es ist Zeit, aus „Happyland“ aufzuwachen, um an dieser Stelle Tupoka Ogette zu zitieren (Tupoka Ogette: exit RACISM. Rassismuskritisch denken lernen, Münster: UNRAST, 2019, S. 21).

Welche Alltagserfahrungen hast Du als Forscherin auf dem Schulgelände in Burkina Faso gemacht?

Sarah Hegenbart: Ich durfte einige Tage beim Unterricht der Kinder dabei sein. Obwohl es draußen 30 Grad heiß war, blieb es im Klassenraum angenehm kühl. Das klimatische Konzept von Francis Kéré, seine „organische Klimaanlage“, funktioniert bestens. Der Architekt hat auf vor Ort vorhandene Materialien wie Lehm, Holz und Stein gesetzt, die, richtig verbaut, auf natürliche Weise klimatisieren. In seine massiven Decken baute er außerdem kleine Öffnungen ein, so dass die warme Luft aus dem Innenraum nach außen fließen kann.

Was hat Dich in pädagogischer Hinsicht inspiriert?

Sarah Hegenbart: Eine besonders interessante Begegnung hatte ich während der Mittagspause an der Ecole de Village Opéra. Vier etwa zehnjährige Mädchen hatten sich im Schatten eines Baums am Rande des Fußballfeldes niedergelassen, dessen Markierungen aus Steinen gelegt sind. „Pas de photos“, bitte keine Fotos, riefen mir die Schülerinnen zu. Das selbstbewusste Auftreten der vier Mädchen wirkt wie ein erster Hinweis, dass es hier anders zugeht als an klassischen burkinischen Grundschulen, die einen autoritären Erziehungsstil pflegen. Die Schüler:innen im Operndorf durchlaufen nicht nur das normale burkinische Curriculum, sondern nehmen zusätzlich an Kunstklassen und Workshops teil, in denen sie ihre Kreativität entfalten können und zu selbstständigen Persönlichkeiten heranwachsen sollen.

Was findet im Kunstunterricht statt?

Sarah Hegenbart: In einem Workshop mit der deutschen Fotografin Marie Köhler konnten die Schüler:innen ihre eigenen Fotografie-Projekte verwirklichen. Da Köhler die Sprache Mòoré gelernt hatte, konnte sie so mit einem Großteil der Schüler*innen in ihrer Muttersprache kommunizieren, und ihnen so auch verdeutlichen, dass sie ihr Recht am eigenen Bild haben. Ganz im Sinne des Filmemachers Schlingensief gibt es im Operndorf Kameras, mit denen die Kinder ihren Blick auf das Leben in Burkina Faso festhalten können. Das dreht die Perspektive um: Die Kinder aus Burkina Faso machen sich ihr Bild von sich selbst – nicht die „Weißnasen“, wie Schlingensief Europäer nannte, von ihnen.

Warum nennst du die Schule „Oper der Ambiguitäten“?

Sarah Hegenbart: Mit „Oper der Ambiguitäten“ beziehe ich mich weniger auf die Schule als auf das Gesamtprojekt Operndorf, das durch seine Mehrdeutigkeit gezielt Missverständnisse provoziert, durch die es einen Diskursraum zu transkulturellen Aushandlungsprozessen eröffnet. Das Operndorf fungiert dabei als Plattform für die Erzeugung von Bildern, die durch unterschiedliche transkulturelle Vorstellungen geprägt werden. Indem diese miteinander in Friktion gesetzt werden, entsteht ein Dialog auf bildlicher Ebene. Ich nenne dieses Bildkonzept „dialogisches Bild“. Der Dialog manifestiert sich zunächst im Bild selbst; nämlich dadurch, dass eine Ambiguität zwischen verschiedenen Informationen im Bild erzeugt wird. Diese Ambiguität fordert die Rezipient:innen auf, in einen Dialog mit dem Bild zu treten, um einen Sinnzusammenhang für diese Ambiguitäten zu generieren. Schlingensief orchestriert somit eine Oper der Ambiguitäten, deren Gelingen immer auch abhängig von der Mitwirkung der Rezipient:innen ist.

Was waren die Reaktionen der Studierenden während des „Seminars im Kunstraum“ auf das Operndorf?

Sarah Hegenbart: Ich habe mich sehr über die große Offenheit und das Interesse der Studierenden an dem Thema gefreut. Obwohl es gerade aus der Perspektive eines Seminars zu „Biografie und Subjekt in der (Post-)Migrationsgesellschaft“ sicherlich einiges an Kritik zu äußern gibt an einem weißen Künstler wie Schlingensief, der durch die Gründung eines Operndorfs natürlich auch die Machtasymmetrien zwischen reichen Ländern wie Deutschland im Globalen Norden und wirtschaftlich ärmeren Regionen im Globale Süden aufzeigt, erschien den Studierenden Schlingensiefs Selbstkritik wie in der besprochenen Arbeit „Via Intolleranza II“ plausibel. Wir diskutierten noch einige Zeit über die Lesbarkeit der Biografien von burkinischen Schauspieler:innen in „Via Intolleranza II“ und konzentrierten uns dabei auf die Frage, wie hier Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen. Durch diese Form des Umgangs mit Biografien konnten wir auch zahlreiche Überschneidungen zum Seminarthema eruieren.

Welche Rolle spielt Christoph Schlingensief heute im internationalen Kunstbetrieb?

Sarah Hegenbart: Schlingensief knüpft mit seinem partizipativen Kunstexperiment Operndorf Afrika an ein Narrativ an, das charakteristisch für künstlerische Praxis im globalen Kontext ist. Die Grenzen zwischen Kunst und alltäglichem Leben werden hier aufgelöst, ein Phänomen, das häufig mit dem Künstler Joseph Beuys und seinem Konzept der sozialen Skulptur verknüpft wird, obwohl es in zahlreichen außereuropäischen Regionen schon weitaus länger praktiziert wird. Wie Chinua Achebe es formulierte: „Art for art’s sake is just another piece of deodorized dog shit”. Kunst um ihrer selbst willen ist somit verzierter Kot. Stattdessen bedarf es direkter Auswirkungen auf die Lebensrealität der Menschen. Eine ähnliche Forderung findet sich auch im Werk von Dan und Lia Perjovschi wieder, in deren Ausstellung im Kunstraum Innsbruck unsere Veranstaltung stattfand. Die beiden schaffen ihre Kunst mit Materialien des Alltags und nehmen in ihrer Kunst immer wieder auch auf die alltägliche Lebensrealität und den politischen Kontext, in dem dieser Alltag situiert ist, Bezug.

Zur Referentin

Dr.in Sarah Hegenbart ist Kunsthistorikerin und Philosophin. Sie befasst sich mit dem Œuvre von Christoph Schlingensief und war im Zuge ihrer Dissertation im Operndorf vor Ort. Vor ihrer Promotion am Courtauld Institute of Art in London absolvierte sie einen M. St. in Ancient Philosophy an der University of Oxford und einen Magister in Philosophie und Kunstgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin. Aktuelle Publikation: Hegenbart, Sarah: From Bayreuth to Burkina Faso: Christoph Schlingensief's Opera Village Africa as postcolonial Gesamtkunstwerk? Leuven University Press, 2022.

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