„Die Straße wird in Sachen Rente nicht den Rückzug antreten!“: ein Protestschild der Demonstrationen in Frankreich – und der Titel des Gastvortrags von Patrick Borràs.

„Die Straße wird in Sachen Rente nicht den Rückzug antreten!“: ein Protestschild der Demonstrationen in Frankreich – und der Titel des Gastvortrags von Patrick Borràs.

Protestkultur in Frankreich

Patrick Borràs, französischer Unternehmensberater mit Arbeitsschwerpunkt in Österreich und Coach mit multikulturellen Wurzeln, hielt auf Einladung des Frankreich-Schwerpunkts der Universität Innsbruck einen Gastvortrag zur Kultur Frankreichs am Beispiel der Proteste gegen die Rentenreform.

„La rue ne battra pas en retraite“ war der Slogan, der ihm als Aufhänger diente: ein Wortspiel zwischen der Bedeutung von „retraite“ (Pension/Rente) und dem komplexen Ausdruck „battre en retraite“ (den Rückzug antreten). Das wichtigste Wort ist aber „la rue“ (die Straße, gleichbedeutend mit „la manifestation“, die Demonstration), ist doch Frankreich bekannt für seine Kultur der Straßenproteste, in der Regel kombiniert mit Streiks. (Ein Vergleich der Streikstatistiken Frankreichs mit denen Österreichs und Deutschlands zeigt das ganz plakativ!) Man erinnert sich noch gut an die Gelbwestenproteste 2018–19, und jetzt sind schon wieder alle auf der Straße, dabei hat inzwischen nicht einmal der Präsident gewechselt …

Was ist das für eine Reform, was regt die Leute inhaltlich so auf? Warum versteift sich Emmanuel Macron darauf, diesen Konflikt einfach auszusitzen? Und warum protestieren die Menschen weiter, obwohl das Gesetz inzwischen unter Dach und Fach ist? All das erfuhr man in diesem Vortrag, und darüber hinaus noch viel soziologischen und philosophischen Hintergrund zum politischen Stil in Frankreich, zum französischen System, seinen Akteuren und deren Beweggründen.

Es handelt sich um eine Art Spiel zwischen den jeweiligen Regierungen (seien sie rechts oder links), den Bürger:innen und den Gewerkschaften. Traditionell wird dieses Spiel in Frankreich als ein Ringen, als ein Konflikt konzipiert, in gewisser Weise das Gegenteil der österreichischen „Sozialpartnerschaft“. Es liegt also gewissermaßen in der Natur der Dinge, dass – per Streik und auf der Straße – protestiert wird. Das gehört einfach dazu, wobei – wie bei den Gelbwestenprotesten, die sich ja zuerst gegen die Treibstoffpreise und erst später gegen vieles andere Reformbedürftige gewandt haben – die Anliegen sich weiterentwickeln können. Auch derzeit geht es vielleicht nur vordergründig um die Renten, in Wirklichkeit aber um etwas viel tiefer Liegendes.

Was nun die Rentenreform betrifft, so zieht sich der Konflikt schon seit über zwanzig Jahren hin: genauer, seit dem historischen Wahlsieg von Präsident François Mitterrand 1981. Dieser hat – im Jubel über die erste Linksregierung seit ewigen Zeiten – neben anderen sozialen Reformen (35-Stunden-Woche) – das Rentenalter von 65 auf 60 Jahre heruntergesetzt. Alle folgenden Präsidenten und Regierungen versuchen seither, ganz einfach aus Kostengründen, das Rentenalter wieder in die Höhe zu schrauben. In diese Linie reiht sich auch Emmanuel Macron ein, der sich schon vor seiner Wiederwahl ein Rentenalter von 65 Jahren auf die Fahnen geschrieben hatte. Was er – der nicht mehr um die nächste Wiederwahl bangen muss – nun auch durchgezogen hat, gegen die Straße und gegen die Gewerkschaften (übrigens mit Duldung durch die Front-National-Opposition).

Er ist der gewählte Präsident, er hat das Recht, das zu tun: Auch das gehört zu den Regeln des politischen „Spiels“ in Frankreich. Überprüft man die kulturellen Einstellungen in den Hofstede-Dimensionen, liegt Frankreich weit voran im Kriterium „Power Distance“. Die Hierarchie wird als gegeben hingenommen, aber ebenso gegeben ist in den Spielregeln das Recht, dagegen zu demonstrieren. (Daher kommt vielleicht das Image der Franzosen/Französinnen als aufrührerisch, ungehorsam, protestierfreudig etc., wie es von Asterix bis zur Französischen Revolution gepflegt wird.)

Wenn es nicht wirklich um die Renten geht, weil es ja auch immer wieder um andere Anliegen geht, das Muster dabei aber immer dasselbe bleibt: Worum geht es den Protestierenden (und ihrem Antagonisten, dem Präsidenten mit seinem Machtapparat), dann wirklich? Gestützt auf die Theorien des Soziologen Philippe d’Iribarne, gibt Patrick Borràs darauf eine klare Antwort: „Es geht ihnen – oder es geht eigentlich beiden Parteien – in dieser Kontroverse im Grunde um die Ehre. Es geht um das Wahrgenommen-Werden, um das In-seiner-Tätigkeit-und-Leistung-geschätzt-Werden. Um etwas, das den beruflichen Stolz des Arbeiters/Angestellten seinem Chef, sich selbst und der Gesellschaft gegenüber ausmacht. Es geht um die Empörung: DAS kann man UNS SO nicht antun!“ Man fühlt sich übergangen, gering geschätzt, zur Unterwürfigkeit gezwungen. Das Gesetz zur Rentenreform war eigentlich mit den Gewerkschaften besprochen und ausgehandelt worden. Und dann hat der Präsident im letzten Augenblick, ohne Rücksprache, die 64 Jahre hineingeschrieben. Das und nichts anderes war der Punkt, an dem die Straße reagiert hat. Die Proteste sind sofort ausgebrochen und dauern bis heute an.

Jetzt wissen wir ein bisschen besser, warum.

(Eva Lavric)

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