„Innsbruck trifft …“ lädt Forscher:innen ein, die sich mit stadtgesellschaftlichen Prozessen im Zeitalter der Globalisierung auseinandersetzen und einen lebensweltlichen sowie stadtplanerischen Praxisbezug herstellen. Beim Auftakt zur Veranstaltung wurde intensiv über die neue Rolle der Stadt angesichts globaler Krisen diskutiert. Zu Gast waren auch Studierende aus dem Seminar „Solidarität im Zeitalter der Globalisierung“, die wichtige Impulse für ihre Studien mitnahmen und sich vernetzen konnten. Mit dem neuen Veranstaltungsformat soll auch zukünftig der Austausch zwischen Universität und Öffentlichkeit weiter gestärkt werden.
Für „Innsbruck trifft …“ hat Marc Hill Felicitas Hillmann interviewt
Marc Hill: Welche Rolle spielt Migration für Städte?
Felicitas Hillmann: Migration ist überlebenswichtig für Städte. Sie war es immer – man hat es nur nicht so wahrgenommen. Städte sind immer durch Zuwanderung gewachsen. Doch in Europa kommt heute noch etwas hinzu: durch den demographischen Wandel, d.h. durch die schon stattfindende Alterung der Bevölkerung sind die Städte auf mehr junge Menschen angewiesen. Schon jetzt ist es für viele Branchen schwierig, Personal zu finden – es fehlen Fachkräfte. Aber es geht noch um viel mehr: wie lebendig, wie innovativ unsere Städte sind, das hängt auch davon ab, dass es viele Menschen mit unterschiedlichen Ideen gibt. Darum konkurrieren die Städte beispielsweise um internationale Studierende und sie hoffen, dass die möglichst später auch vor Ort bleiben, Familien gründen und damit der Stadt eine Zukunft geben. Die Vielfalt in den Städten, also internationale Küche und Verbindungen in unterschiedlichste Kulturen, ist kein Selbstläufer, da ist die Migrationspolitik und Stadtentwicklung gefragt. Je eher die Städte begreifen, dass sie sich um ihre Weltoffenheit und Migration kümmern müssen, desto besser für sie. Lange hat man sich damit abgefunden, dass die Städte Migration einfach verwalten, d.h. dass sie Angebote zum Wohnen, Schulen und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stellen. Das reicht schon seit einigen Jahren nicht mehr: die Städte müssen sich aktiv um Newcomer bemühen, sie müssen ihre Attraktivität und Lebendigkeit gestalten. Eine weltoffene Kultur, die Grundlage für Zuwanderung, bildet sich durch einen langfristigen und vorausschauenden Umgang mit Migration aus.
Warum sind Städte zu neuen Hoffnungsträger:innen für Migrant:innen geworden?
Felicitas Hillmann: Städte bieten Aussichten auf ein besseres und gutes Leben für alle. Deshalb sind Menschen unterwegs. Entweder sie sind auf der Flucht, weil ihre Lebensgrundlagen sich verschlechtern oder sie sind auf der Suche nach einem Lebensentwurf, der ihren Vorstellungen entspricht. Städte bieten vor allem Ausbildung und Arbeitsplätze, eine Kultur der Vielfalt.
Was bedeutet „Nations talk, Cities Act”?
Felicitas Hillmann: Das ist ein Satz, den ich vor vielen Jahren bei einem Vortrag von der Soziologin Saskia Sassen gehört habe. Er stammt ursprünglich von Michael Bloomberg, damals Bürgermeister von New York City. Wie wahr das ist, sehen wir gerade in der aktuellen Situation: Während die Nationalstaaten beim Thema Fluchtmigration endlos über die Zulassung von Migrant:innen über Kontingente diskutieren, müssen die Städte mit der Situation vor Ort längst umgehen. Wir sehen fast schon eine David gegen Goliath-Situation: mit kleinen, oft kaum vorhandenen finanziellen Mitteln müssen die Städte langsame Entscheidungen auf der nationalen und vor allem auch europäischen Ebene aushalten. Die Städte müssen nicht nur diese Situation von „oben“ ausgleichen, sie müssen auch Vermittlerinnen für eine Stadtbevölkerung sein, die zwischen einer willkommensorientierten Gruppe, im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise auch als „Gutmenschen“ verhöhnt, und zunehmend populistischen Bevölkerungsteilen vermitteln. Die sozialen Medien haben teilweise zu einer Aufheizung dieser Spaltung beigetragen. Migration ist ein emotional besetztes Thema, leider. Um mit ihrer Komplexität klarzukommen, braucht es aber einen klaren Kopf. Die Komplexität von Migrationsprozessen wird allgemein unterschätzt, es ist viel mehr als ein „Jemand geht von da nach hier“ – sie betrifft alle Facetten einer gesellschaftlichen Grundordnung. Die basiert mit Blick auf nationalstaatliche Regelungen hauptsächlich auf Sesshaftigkeit, d.h. Wohlfahrtsstaaten, wie sie derzeit gelebt werden, wurden für Sesshaftigkeit entwickelt. Ein Umbau in Richtung Globalisierung, Mobilität, Flexibilität und Weltoffenheit ist also alles andere als trivial. Denken Sie nur einmal an die vielen Läden und unternehmerischen Aktivitäten von Migrant:innen: hier muss man teilweise grenzüberschreitende Regelungen finden, das ist nicht einfach.
Welche Rolle spielen die SDG´s für die neue Rolle der Städte?
Felicitas Hillmann: Die Einführung der Sustainable Development Goals, quasi die von den Vereinten Nationen proklamierten Leitplanken für die global wünschenswerte nachhaltige Entwicklung, hat dazu geführt, dass die Städte zunehmend als Orte zur Umsetzung der Entwicklungsziele angesehen werden. Diese 17 Ziele sind weich formuliert und müssen in eine konkrete Maßnahme gebracht werden. Hierbei entstehen Spielräume. Neu ist, dass Migration eine Rolle spielt – das war bei den vorherigen Millenium Development Goals noch nicht der Fall. Hinzu kommt, dass auf Globaler Ebene das Thema „Migration“ durch den Global Compact on Migration, dem ersten internationalen Regelungswerk, seit 2015 intensiv diskutiert wurde. Zwei Experten-Communities, die vorher in Silos nebeneinander diskutierten, vernetzten sich jetzt. Internationale Städtenetzwerke begannen sich über Migration (und globale Krisen wie den Klimawandel) auszutauschen, für die Migrationsforschung rückten wiederum die Städte stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Durch diese gemeinsamen Diskussionen können überhaupt erst neue Lösungswege entstehen.
Was ist unter einen „neuen Solidarität der Städte“ zu verstehen?
Felicitas Hillmann: Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich von „Solidarität der Städte“ sprechen können. Mit wem sind sie solidarisch? Wir haben während des Krieges in Syrien und jetzt seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine seit etwa einem Jahr eine enorme Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft und sozialen Initiativen in den Städten erlebt. Zu sehen war, dass sich Verbände wie Seebrücke für die zusätzliche Aufnahme von an den Mittelmeerküsten gestrandeten Menschen in unseren Städten einsetzen. Wir sehen auch eine Solidarität zwischen Städten, weil sie Informationen über mögliche Handlungswege austauschen. Und wir sehen eine Solidarität des Nationalstaates für die Bedürfnisse der Kommunen. „Neu“ ist, dass der Umfang der Anforderungen an die Städte schnell steigt. Es muss langfristig gedacht werden: den Krieg in der Ukraine konnte man nicht voraussehen, doch dass es beispielsweise durch die zunehmenden Umweltveränderungen durch den Klimawandel in Zukunft zu mehr Fluchtmigration kommen wird, kann man absehen. Es kommt also darauf an, mit einer Situation anhaltender Zuwanderung umzugehen – obwohl die hiesigen wohlfahrtsstaatlichen Systeme weiterhin auf Sesshaftigkeit und nationale Zugehörigkeit ausgerichtet sind.
Was bedeutet für Sie Stadtentwicklung heute?
Felicitas Hillmann: Stadtentwicklung bedeutet: nach vorne denken und anerkennen, dass wir in einer globalisierten Welt leben. Jeder hat Zugang zum Internet, es gibt ganz andere Anforderungen als noch vor einigen Jahren. Falschinformationen im Netz können einerseits schnell zu einem faktischen Problem für Städte werden, andererseits kann man über die sozialen Medien viele Menschen aber auch sehr schnell erreichen. Es gibt keine Bedienungsanleitung für diese Situation, es nutzt aber auch nichts, den Kopf in den Sand zu stecken. Man kommt nur weiter, wenn man möglichst viele verschiedene Akteur:innen aus Gesellschaft, Kultur, Soziales und Wirtschaft sowie Wissensbestände miteinander verknüpft: man muss inter- und transdisziplinär denken, um es einmal hochtrabend auszudrücken.
Was raten Sie einer Stadt wie Innsbruck?
Felicitas Hillmann: Das Beste, was einer Stadt passieren kann, ist, dass alle gerne in ihr leben und bereit sind, sich in das Stadtleben einzubringen. Dann ist eine Stadt lebendig. Das können allerdings nicht alle Stadtbewohner:innen, manche haben wenig Zeit oder Ressourcen oder auch einfach keine Lust. Es geht also darum, Anknüpfungspunkte zu schaffen, um sich an der Stadt zu beteiligen, sie gewissermaßen „zu machen“. Um dies zu erreichen, stellen Newcomers immer eine gute Gelegenheit dar: man kann ihnen zeigen, was einem besonders gut gefällt oder was verändert werden kann. Die Stadtverwaltungen können diese Prozesse unterstützen, indem sie sich über Migration unterhalten, nicht nur über die Probleme, sondern auch über die Chancen. Und natürlich trägt jede Form von Bildungsangeboten, sei es die Uni oder Veranstaltungen wie „Innsbruck trifft …“ oder „Fest der Vielfalt“ zum weltoffenen Klima in der Stadt bei. Vor allem sind Schulen und öffentliche Orte (Plätze, Museen, Büchereien) heute die Orte, wo ganz unterschiedliche Milieus und Kulturen aufeinandertreffen – dies kann man bewusst nutzen. Ich kenne Innsbruck nicht gut genug, doch in den Tagen, in denen ich hier war, habe ich eine aufgeschlossene, attraktive Stadt gesehen. Sehr viele unterschiedliche Menschen kamen zu unserer Veranstaltung und auch die Veranstaltungen in Innsbruck über die Menschenrechte, das finde ich eine hervorragende Idee.
Vielen Dank für den Austausch und Ihren wichtigen Beitrag zu „Innsbruck trifft …“ – ein Veranstaltungsformat für die Stadt und das Stadtleben.
„Innsbruck trifft …“ lädt Forscher:innen ein, die sich mit stadtgesellschaftlichen Prozessen im Zeitalter der Globalisierung auseinandersetzen und einen lebensweltlichen sowie stadtplanerischen Praxisbezug herstellen.
Zum Vortrag im Plenarsaal der Stadt Innsbruck
Felicitas Hillmann hielt einen Impulsvortrag unter dem Titel „Gibt es eine neue Solidarität der Städte? Überlegungen zum Wandel der Städte in Reaktion auf globale Krisen“. Ausgangspunkt des Vortrages waren globale Krisen wie die Klimakrise, die Pandemie und der restriktive Umgang mit Fluchtmigration in den letzten 10 Jahren. Hillmann führte aus, dass Städte sehr gefordert waren und nach wie vor sind. Während nationalstaatliche Regulierungen nicht auf die unterschiedlichsten Herausforderungen reagieren (können), werden Städte, etwa für Geflüchtete, Migrant:innen und Displaced Persons, zu Hoffnungsträgerinnen. Der Vortrag stellte die neue Rolle der Stadt als Problemlöserin von globalen Krisen in den Mittelpunkt des Interesses und zeigte, dass dieser Wandel zumindest teilweise mit der Einführung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) durch die Vereinten Nationen im Jahr 2015 zusammenhängt. Am Beispiel des Umgangs der Städte mit Migration wurde herausgearbeitet, dass die „neuen Solidaritäten“, wie sie in Form der Arbeit von Nicht-Regierungsorganisationen (Non-Governmental Organisations, NGOs) und durch Aktionsforen zwischen den Städten bestehen, Teil einer weitreichenden urbanen Transformation sind. Abschließen hielt Hillmann fest: Ein wesentliches Merkmal dieser Transformation ist die Anforderung eines veränderten Umgangs und gezielter Steuerung von Migration und Mobilität.
Der Vortrag kann nachfolgend in gesamter Länge nachgehört werden:
Impressionen zum Vortrag
Zur Referentin
Felicitas Hillmann, Professorin, leitet aktuell das FIS-Vernetzungsprojekt „Paradigmenwechsel für die Migrationsgesellschaft“ (nups) am Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, Deutschland. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Rolle der Migration für die urbane Transformation und die Umstrukturierung internationaler Arbeitsmärkte, zunehmend auch unter den Bedingungen multipler und globaler Krisen. Im Juli 2023 erscheint bei Taylor and Francis ihr neuestes Buch „Cities, migration and governance: beyond scales and levels”, ein mit Michael Samers (USA) herausgegebener Sammelband. Kürzlich ist das Sonderheft der Zeitschrift „Glocalism“ (Download möglich) erschienen, das sich mit Technologischem Wandel, Migration und Zukunft der Arbeit beschäftigt. Die Website des Projektes findet sich hier: https://www.tu.berlin/isr/nups/ueber-uns