Haftungsfragen im Sanitätswesen stellen nicht nur Juristinnen und Juristen, sondern die Gesellschaft als Ganzes vor komplexe Herausforderungen. Einerseits gilt es, dem Patienten Sicherheit in der medizinischen Behandlung zu gewährleisten und ihn bei groben Kunstfehlern angemessen zu schützen. Andererseits benötigt Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger, aber auch die Betreiber der Anstalten einen klaren Rechtsrahmen zur Ausübung ihrer Tätigkeit.
Dies gilt umso mehr in Italien, wo bei Behandlungsfehlern regelmäßig Schadensersatzzahlungen liquidiert werden, die um ein Vielfaches höher sind als im deutschsprachigen Raum. Kosten, die in einem öffentlich finanzierten Gesundheitssystem zulasten der Allgemeinheit gehen.
Mit dem Ziel, einen angemessenen Interessensausgleich wiederherzustellen, hat der italienische Gesetzgeber vor nunmehr fünf Jahren mit dem sog. Gelli-Bianco-Gesetz eine umfassende Reform der zivil- und strafrechtlichen Haftung erlassen. Diese wurde durch die Pandemie nun einem regelrechten stress test unterzogen.
Namhafte Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren aus dem In- und Ausland referierten dazu am 23.03.2022 an der Universität Innsbruck im Rahmen der Tagung „Die Haftung im Gesundheitswesen. Rückblick und neue Aussichten nach dem Gesetz Nr. 24 von 2017 und der Pandemie“.
Der Diskussion stand Prof. Guido Alpa vor, der als Vater der Gesetzesnovelle gilt. Für die wissenschaftliche Leitung zeichneten sich Prof. Francesco A. Schurr, der Leiter des Instituts für italienisches Recht an der Universität Innsbruck, und Prof. Marcello Maggiolo, Ordinarius für Privatrecht an der Universität Padua, verantwortlich.
In seinem Vortrag warnte der Mailänder Universitätsprofessor Giulio Ponzanelli: „Aus der medizinischen Pandemie wird eine juristische Pandemie werden“. Dr. Elsa Vesco, vormals Präsidentin des Landesgerichts Bozen, betonte in ihren Grußworten, dass auch in Südtirol eine steigende Anzahl an Haftungsklagen im Gesundheitsbereich zu verzeichnen sei – und zwar nicht erst seit der Pandemie.
Diskussionsgegenstand bildete auch die Thematik der informierten Einwilligung. Zwar habe Italien eine wegweisende Gesetzesbestimmung erarbeitet, um den Willen des Patienten zu ermitteln und zu respektieren, doch bestünde Potenzial für Verbesserungen und Vereinfachungen, betonte Prof. Teresa Pasquino der Universität Trient.
Auch auf verfahrensrechtlicher Ebene lässt die Reform noch zahlreiche Fragen offen. Wann muss die Versicherung eine Streitausdehnung auf die Gesundheitseinrichtung oder den Arzt vornehmen? Sind Vergleiche und Urteile gegen die einen den anderen entgegenhaltbar? Unter welchen Voraussetzungen kann Regress geübt werden? Dr. Paolo Spaziani, Richter am Kassationsgerichtshof und Forschungsmitarbeiter am Verfassungsgerichtshof, erläuterte die jüngsten Leitlinien der Rechtsprechung zu diesen äußerst praxisrelevanten Fragestellungen.
Prof. Roberto Pucella der Universität Bergamo referierte über den Kausalzusammenhang und ging der Frage nach, inwiefern bei Verlust der sog. Chance auf Heilung oder bei einer verspäteten Diagnose Schadensersatzansprüche bestehen können.
Prof. Margareth Helfer, assoziierte Professorin für Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Innsbruck, verglich die italienische Rechtslage mit dem in Österreich gewählten pragmatischen Ansatz des sog. Medizinerprivilegs, wo Angehörigen der Gesundheitsberufe bei leichter Fahrlässigkeit und leichten Körperverletzungen keine strafrechtlichen Folgen drohen. In substantiell ähnlicher Weise habe der italienische Gesetzgeber rasch auf die Pandemie reagiert und einen Straflosigkeitsgrund vorgesehen, so Assoz.-Prof. Helfer.
Die Tagung war eine Premiere. Denn es handelte sich um die erste vom Institut für italienisches Recht an der Universität Innsbruck, dem Dipartimento di Diritto Privato e Critica del Diritto der Universität Padua sowie der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Trient gemeinsam organisierte Tagungsversanstaltung.
Ein Tagungsband ist in Planung.
(Thomas Menegotto/Redaktion)