Beleuchtetes Zelt vor einem Altar

Kirchenasyl zum Schutz von Flüchtlingen wird seit der Antike und in nahezu allen Kulturen und Religionen praktiziert.

Migra­tion als Moral­po­li­tik

Migration ist oft ein Schauplatz für Wertekonflikte. Religiöse Gruppen, zivilgesellschaftliche Organisationen und lokale Regierungen zeigen dabei nicht selten eine liberalere Haltung als der Staat. Diesem bisher nicht erforschten Aspekt widmet sich die Politikwissenschaftlerin Julia Mourão Permoser mit einem neuen analytischen Ansatz.

Flucht und Migration sind mehr denn je Thema gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Während die Politik mit strengen Gesetzen und Regelungen reagiert, protestieren engagierte Bürger:innen dagegen oder schützen von Abschiebung bedrohte Asylwerber:innen. In Österreich erregten in den vergangenen Jahren drei Fälle Aufsehen, in denen Asylwerbende abgeschoben werden sollten und von der Kirche geschützt wurden: Im Juli 2018 gewährte der Salzburger Erzbischof dem 23-jährigen Ali Wajid, der trotz bestehender Lehre nach Pakistan abgeschoben werden sollte, Kirchenasyl. Im November 2019 nahm der Pfarrer von Unken im Pinzgau den 26-jährigen Sayed Moshtaq Sadat bei sich auf, dem wenige Monate vor seiner Lehrabschlussprüfung die Abschiebung nach Afghanistan drohte. Einen Monat später drang die Polizei in den Klausurbereich des Klosters in Langenlois ein, um den dort aufgenommenen afghanischen Schüler Ziaulrahman Zaland abzuholen – ein Tabubruch.

Kirchenasyl hat eine lange Tradition

Kirchenasyl zum Schutz von Flüchtlingen wird seit der Antike und in nahezu allen Kulturen und Religionen praktiziert. In Deutschland und in den USA gebe es in der Gegenwart eine große Kirchenasylbewegung, erklärt die Politikwissenschaftlerin Julia Mourão Permoser, die an den Universitäten Innsbruck und Wien forscht und lehrt. Teilweise kommunizieren Kirchengemeinden ihre Bereitschaft zur Aufnahme von verfolgten Asylwerber:innen sehr offen.

In den USA, aber auch in Europa gebe es außerdem ganze Städte, die sich als „Sanctuary Cities“ bezeichnen, und deren Verwaltungspersonal etwa nicht nach dem Aufenthaltsstatus einer Person fragt oder das Wissen darüber nicht an die Einwanderungsbehörden weitergeben darf, erzählt Mourão Permoser. Für ihr Forschungsprojekt „Migration als Moralpolitik“, das vom Wissenschaftsfonds FWF im Rahmen des Elise-Richter-Programms gefördert wird, untersucht sie die moralischen Konflikte rund um Migration in Europa und den USA multi-methodisch: Sie führt Tiefeninterviews mit Menschen, die Kirchenasyl oder andere Formen von sanctuary gewähren, analysiert Selbstdarstellungen und Debattenbeiträge von Gruppen, die sich dafür einsetzen, und beleuchtet die Haltungen der Gegenseite.

Hilfe als eine Form von Protest

Die dritte Form von Unterstützung für irreguläre Menschen auf der Flucht, mit der sich die Forscherin auseinandersetzt, sind Rettungsschiffe im Mittelmeer wie die Sea Watch sowie Organisationen, die Geflüchtete in der Wüste zwischen Mexiko und den USA vor dem Tod retten. „Alle diese Gruppen setzen mit ihrem aktiven Protest ein moralisches und politisches Statement gegen die Einwanderungs- und Asylpolitik verschiedener Länder“, erläutert Mourão Permoser. Teilweise würden sie in direkte Konfrontation mit dem Staat treten, wie beispielsweise diverse Zwangsmaßnahmen der Behörden gegen Rettungsschiffe im Mittelmeer und der Widerstand der NGOs dagegen zeigen.

Forschungslücke schließen

Obwohl Flüchtlingsrettungsorganisationen, Asyl gewährende Kirchen und Asylstädte Migrationspolitik „von unten“ betreiben und sich auf Menschenrechte und Menschlichkeit berufen, sei dieses Phänomen bisher weder in der Literatur zu Migrationspolitik noch zu Moralpolitik ausreichend berücksichtigt worden, betont die Wissenschaftlerin: „In der Migrationsforschung wurden bisher hauptsächlich Sicherheitsinteressen oder wirtschaftliche Interessen behandelt, aber nicht Wertvorstellungen.“ In der Literatur zu Wertkonflikten in der Politik wiederum, der sogenannten Moralpolitik, werde die Rolle der Religionen bei Diskussionen zu Sexualität, Frauenrechten, Abtreibung, Homo-Ehe oder Stammzellenforschung behandelt, wobei diese meist eine konservative Haltung einnehmen. Dass religiöse Akteur:innen in der Migrationspolitik eine liberale Haltung einnehmen, sei ein besonderes Phänomen, das bisher nicht näher betrachtet wurde. Interessant sei, dass ihre Haltung dabei auf denselben traditionellen Werten – Verteidigung von Menschenleben und Menschenwürde – basiere. „Mit dem neuen Fokus auf die Rolle von Werten kann ich gleichermaßen zur Forschung von Migration und Moralpolitik beitragen“, so Mourão Permoser.

Zur Person

Julia Mourão Permoser ist zurzeit Gastprofessorin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Projektleiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Innsbruck. Darüber hinaus ist sie assoziierte Forscherin in der Kommission für Migration und Integrationsforschung der Österreichische Akademie der Wissenschaften und am European University Institute in Florenz. Sie studierte Internationale Beziehungen an der Georgetown University in Washington, D. C., sowie an der Diplomatischen Akademie Wien und promovierte in Politikwissenschaft. Ihr Projekt „Migration als Moralpolitik“ (2019–2024) wird durch das Elise-Richter-Programm mit rund 375.000 Euro und den Ukraine Support Fund des Wissenschaftsfonds FWF mit rund 41.000 Euro gefördert.

(scilog.fwf.ac.at)

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