Ein Mann hält eine Computermaus in der Hand, die Tastatur und ein Bildschirm von hinten sind auch zu sehen.

Zwei Wirtschafstinformatiker haben visuelles Gatekeeping in Online-Foren erforscht.

Ganz auf Linie

Wie Online-Foren Meinungen steuern, obwohl sie offen wirken, haben sich die Wirtschaftsinformatiker Andreas Eckhardt und Khalid Durani anhand eines Russland-Forums auf Reddit im Frühjahr näher angesehen, mit einem speziellen Blick auf Gatekeeping mittels Bildern.

Welche Nachrichten wichtig genug sind, in der Zeitung zu stehen, entscheiden Journalist*innen im Idealfall nach klaren, möglichst objektivierbaren Regeln: Direkte oder zumindest erwartbare Betroffenheit der Leser*innen, räumliche und oder zeitliche Nähe, Konflikte und Kontroversen, etwa der aktuelle Krieg in der Ukraine und seine Auswirkungen auf die Wirtschaft auch in Österreich lösen eher eine sehr breite Berichterstattung in Tirol aus als eine indische Regionalwahl mit wenig überraschendem Ausgang. Zeitungen und ihre Angestellten werden so zu sogenannten „Gatekeepern“: Mit ihrer Entscheidung, über bestimmte Themen groß zu berichten und über andere kleiner oder gar nicht, beeinflussen sie den öffentlichen Diskurs. Zumindest war das vor der weiten Verbreitung des Internets so: Heute findet jede*r zu jeder Zeit nahezu alle Informationen im Netz und ist nicht zwangsläufig darauf angewiesen, dass Zeitung, Radio oder Fernsehen darüber berichten. Dass Gatekeeping allerdings auch online und abseits von etablierten Medien stattfindet, und dass das auch Probleme mit sich bringt – vor allem, wenn die Kriterien, nach denen Nachrichten gewählt werden, nicht sichtbar sind oder die Auswahl sogar bewusst der Manipulation dient –, das haben sich der Wirtschaftsinformatiker Univ.-Prof. Dr. Andreas Eckhardt und sein Doktorand Khalid Durani anhand eines Beispiels näher angesehen, mit speziellem Blick auf Gatekeeping anhand von Bildern.

Krieg in der Ukraine

„Wir wollten überprüfen, inwiefern in Online-Foren Radikalisierung über Bildmaterial nachvollziehbar wird und ob sie stattfindet. Dafür hatten wir mehrere Ideen, was wir uns genauer ansehen könnten“, erklärt Khalid Durani den Ansatz. Darunter waren etwa Foren für US-Republikaner*innen, aber auch solche für Anhänger von Parteien mit liberaler bzw. linker Ausrichtung. „In allen diesen Foren ist uns aufgefallen, dass die Darstellung bereits sehr extrem ist und wenig Nuancen sichtbar werden, vor allem eben bei der Auswahl der Bilder.“ Schon vor Beginn des Kriegs in der Ukraine landeten die beiden Wissenschaftler schließlich bei einem Forum über Russland – genauer gesagt beim Subreddit „Russia“. „Reddit ist ein amerikanischer News-Aggregator, ursprünglich gegründet, um Links zu Nachrichtenseiten zu sammeln und darüber zu diskutieren. Nachrichtenlinks machen dabei immer noch einen großen Teil des Inhalts aus. In sogenannten ‚Subreddits‘ diskutieren User*innen zu spezifischen Themen – und solche Subreddits gibt es zu fast jedem denkbaren Thema, unter anderem eben auch zu Russland“, erläutert Andreas Eckhardt. „Wir haben einen Themenbereich mit klaren Meinungsunterschieden gesucht, und sind da über einen längeren Weg letztlich bei Russland gelandet. Der Aufmarsch russischer Truppen an der ukrainischen Grenze wurde ja schon zu Jahresbeginn kontrovers diskutiert. Ehrlich gesagt sind wir zu Beginn der Untersuchung am 10. Februar auch gar nicht davon ausgegangen, dass der Krieg ausbricht.“ Die beiden Forscher haben sämtliche Postings im Subreddit, die zwischen 10. Februar und 10. April 2022 gepostet wurden, kategorisiert – über 2.100 Bild- und Videoelemente in über 1.600 Postings.

Die Ergebnisse sind durchaus aufschlussreich und zeigen die Dynamiken des Gatekeepings exemplarisch auf: „Vor Ausbruch des Krieges bestand das Subreddit in großen Teilen aus, flapsig gesagt, schönen Bildern aus und über Russland. Landschaft, Architektur, russisches Kulturgut dominierten bis Kriegsausbruch am 24. Februar deutlich, über 80 Prozent aller geposteten Bilder und Videos konnten wir dieser Kategorie zuordnen. Ziel der Poster*innen hierbei war wohl recht eindeutig, Russland als kulturell und landschaftlich vorbildliches Land zu zeigen“, sagt Khalid Durani. Ab dem russischen Einmarsch am 24. Februar überwiegen mit 85 Prozent Postings zum Krieg. „In beiden Phasen gibt es auch Memes, also mit Text versehene, häufig ironisch oder lustig gemeinte Bilder. Vor dem Krieg gibt es hier noch Memes, die sich über vermeintlich westliche Kriegstreiberei lustig machen“, erläutert Andreas Eckhardt: „Bemerkenswert ist dann aber die Geschwindigkeit, mit der sich der Diskurs nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar geändert hat. Das passierte nämlich wie bei einem Donnerschlag. Die Divergenz zwischen vorher und nach dem 24. Februar in diesem Subreddit, und zwar schlagartig von einem Tag auf den anderen, ist Wahnsinn.“

Auf Kreml-Linie

Seit dem Einmarsch gibt es kaum noch Bilder des „schönen“ Russland, kaum Kulturgut oder Natur, stattdessen häufen sich Fotos von militärischem Gerät, von Soldaten und vermeintlicher humanitärer Hilfe, die Russland den Ukrainer*innen zuteilwerden lässt. „Seit dem Einmarsch ist plötzlich alles auf Linie des Kremls“, sagt Andreas Eckhardt. So finden etwa Meldungen weite Verbreitung, die behaupten, die in der Ukraine zerstörten Städte seien durch ukrainischen Beschuss vernichtet und die Gräueltaten in Butscha von ukrainischen Soldaten verübt oder für die Fotos gestellt worden. Die Zielgruppe des hauptsächlich englischsprachigen Forums ist dabei klar: Westliche Russland-Sympathisant*innen, die der „westlichen Propaganda“ nicht glauben und die im russischen System nachahmenswerte Strukturen sehen. Das Gatekeeping lässt sich auch anhand der durch die Foren-Administrator*innen gelöschten Beiträge nachvollziehen: Spuren von gelöschten Postings waren mit der von Eckhardt und Durani verwendeten Software vereinzelt noch zu finden, dabei handelt es sich fast ausschließlich um Russland-kritische Beiträge.

Menschen, die den heimischen Massenmedien kritisch gegenüberstehen, finden in so einem kuratierten Forum eine Bestätigung für ihre Weltsicht: Die westlichen Medien lügen, hingegen erzählen Menschen auf Reddit aus ihrem Leben. „Jede*r kann selbst Inhalte produzieren. Ein verwackeltes Video aus dem Kriegsgebiet wirkt sehr authentisch und glaubwürdig und es ist kaum bis gar nicht möglich, die radikalen Anschuldigungen und Andeutungen zu verifizieren“, sagt Khalid Durani. Die beiden Forscher plädieren für deutlich mehr Aufklärung über die Prozesse, wie Nachrichten entstehen – Foren wie Reddit können zu immer radikaleren Ansichten führen, die Mitglieder steigern sich gegenseitig in immer absurdere Ansichten hinein. „Lösungswege für dieses Problem sind schon länger bekannt: Auf staatlicher Ebene wäre etwa Medien-Grundbildung in den Schulen gefragt. Und ganz aus der Verantwortung lassen können wir natürlich auch die Plattformen nicht, besonders jene, die sich wie Reddit die freie Rede auf die Fahnen heften und deshalb selten eingreifen.“ Reddit hat übrigens Ende März reagiert: Das Subreddit zu Russland ist seither in „Quarantäne“ – das heißt, die Inhalte sind nicht mehr komplett frei im Netz zugänglich, sondern nur noch für angemeldete Nutzer*innen der Seite. Hoch sind die Hürden seither aber dennoch nicht: Ein Reddit-Konto kann kostenlos und innerhalb weniger Minuten erstellt werden.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Juni-Ausgabe der wissenswert, unserer Beilage zur Tiroler Tageszeitung, erschienen: https://www.uibk.ac.at/de/newsroom/2022/wissenswert-juni-2022/

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