Schwarz-weiß-Foto: Ludwig von Ficker in seinem Arbeitszimmer in Mühlau um 1910, er sitzt vor einem großen Bücherregal an seinem Schreibtisch

Ludwig von Ficker in seinem Arbeitszimmer in Innsbruck, ca. 1910.

Ein neuer Blick auf den Kul­tur­be­trieb im frü­hen 20. Jahr­hun­dert

Nach mehreren Jahren intensiver Arbeit am Forschungsinstitut Brenner-Archiv ist der erste Teil der umfangreichen Korrespondenz Ludwig von Fickers in Form einer digitalen Edition frei im Internet zugänglich. Die Edition wirft ein neues Licht auf den Kulturbetrieb der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Ludwig von Ficker (1880–1967), der Innsbrucker Verleger und Herausgeber der Kulturzeitschrift „Der Brenner“, ist heute fast in Vergessenheit geraten. Dabei nahm er von der Jahrhundertwende bis zu seinem Tod nicht nur in Tirol, sondern im gesamten deutschen Sprachraum als Autor, Juror und Kulturvermittler eine bedeutende Rolle ein. Neben dem „Brenner“ stellt sein umfangreicher Briefwechsel die zweite große Lebensleistung Fickers dar: Insgesamt sind über 13.500 Briefe von mehr als 2.200 Korrespondenzpartner*innen an Ludwig von Ficker überliefert, hinzu kommen mehr als 4.000 Briefe aus der Feder des „Brenner“-Herausgebers. Ein Großteil ist nun in einer kommentierten Edition online zugänglich. 

Fickers Briefe bilden den Kernbestand des Forschungsinstituts Brenner-Archiv der Universität Innsbruck. „In diesem Bestand finden sich zahlreiche Namen, die für die österreichische wie für die europäische Literatur- und Kulturgeschichte von großer Bedeutung waren. Die wissenschaftliche Aufbereitung und Veröffentlichung der Korrespondenz stellt der Forschung eine breite Quellenbasis zur Verfügung und liefert damit neue Impulse“, betont Univ.-Prof. Ulrike Tanzer, Leiterin des Brenner-Archivs und Vizerektorin für Forschung der Uni Innsbruck.

Who’s Who der Literaturszene

Sämtliche Briefe, die Ludwig von Ficker mit Schriftsteller*innen und Philosoph*innen wie beispielsweise Georg Trakl, Karl Kraus, Ludwig Wittgenstein, Carl Dallago, Theodor Haecker, Theodor W. Adorno oder Martina Wied gewechselt hat, können in der kommentierten Online-Edition eingesehen werden. Der Großteil davon wird das erste Mal publiziert. Da sich Ficker brieflich auch mit bildenden Künstler*innen und Musiker*innen ausgetauscht hat, ist es nicht verwunderlich, dass sich auch Briefe von Max Weiler, Alfred Kubin, Werner Berg oder des Komponisten Josef Matthias Hauer unter den Korrespondenzen finden. 

Die Edition bietet der kulturwissenschaftlichen Forschung eine in dieser Form bisher noch nicht dagewesene Materialsammlung, sowohl, was die Quantität als auch die inhaltliche Dichte der Dokumente betrifft. Schon der Blick auf die nüchternen Zahlen ist beeindruckend: In der ersten Version wird die Edition über 4.500 kommentierte Briefe enthalten. Der Editionsplan sieht vor, dass in regelmäßigen Veröffentlichungszyklen nach und nach alle 17.500 bekannten Korrespondenzen von und an Ludwig von Ficker ausgerollt werden.

Die Herausgeber*innen arbeiten dabei nach strengen editionswissenschaftlichen Richtlinien, was nicht selten in großen Anstrengungen mündet. „Kaum jemand hat eine Vorstellung davon, wie aufwändig sich der Prozess gestaltet, bis eine solche Edition freigeschaltet wird“, sagt Herausgeber Dr. Markus Ender. „Alte Dokumente auf den Scanner zu legen und die Bilder ins Internet zu stellen – damit hat unsere Arbeit nur sehr wenig zu tun.“ Stattdessen braucht es große Sorgfalt, wissenschaftliche Kompetenz und breite Fachkenntnis, die auch über den eigenen Forschungsbereich hinausreicht. 

Digitale Geisteswissenschaften

Allein die Transkription der zum größten Teil in Kurrentschrift verfassten Briefe stellt eine Leistung für sich dar, denn viele Handschriften sind nicht leicht zu entziffern, und nur mehr wenige Expert*innen beherrschen das Lesen der nicht mehr gebräuchlichen Schrift. Der eigentliche Wert der digitalen Edition wird aber auf einer anderen Ebene deutlich: Die Herausgeber*innen haben viel Sorgfalt dafür aufgewendet, die Korrespondenzen auch inhaltlich zu erschließen. Mehr als 29.000 Annotationen und Kommentare liefern Kontextinformationen, erläutern schwer verständliche Zusammenhänge, erklären Anspielungen und verweisen z.B. auf erwähnte Werktitel. Die Edition verfügt zudem über ein breites Register von mehr als 6.000 Einträgen, das kontinuierlich erweitert wird und in dem gezielt nach Personen- und Ortsnamen gesucht werden kann. Letzteres kann sogar interaktiv auf einer Weltkarte unternommen werden; hier wird besonders deutlich, dass der Gesamtbriefwechsel Ludwig von Fickers ein weltumspannendes Unternehmen war.

„Insbesondere kommt es auf es eine gute Kommunikation zwischen den Mitarbeiter*innen, die die technische Arbeit erledigen, und den Literaturwissenschaftler*innen an“, ergänzt Ender. Es müsse von Anfang an klar gemacht werden, welche Ziele mit der Edition verfolgt werden sollen und wie diese erreicht werden können, erläutert er: „Joseph Wang-Kathrein, der sich am Digital Science Center (DiSC) der Universität habilitiert und für die technische Umsetzung der Edition verantwortlich zeichnet, ergänzt dabei das Projektteam ideal: Er ist ein kompetenter und versierter Philosoph, der sich ebenso souverän im Fahrwasser der Programmiersprachen behaupten kann.“

Einen ersten Einblick in die Online-Edition bot das Team um Markus Ender und Ulrike Tanzer bei der Langen Nacht der Forschung am 20. Mai 2022, seit kurzem ist der Briefwechsel auch öffentlich zugänglich: https://edition.ficker-gesamtbriefwechsel.net/ 

Die Edition ist im Rahmen zweier vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierter Projekte entstanden.

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