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Kalkulative Praktiken gestalten unsere Welt.

„Vir­tuelles Zen­trum“ der in­ter­na­tio­nalen Ac­counting­for­schung

Die Uni Innsbruck war Anfang Juli das „virtuelle Zentrum“ der sozialwissenschaftlich orientierten, kritischen Accountingforschung. In dieser Woche fanden die 13th Interdisciplinary Perspectives on Accounting Conference und das zugehörige Emerging Scholars Colloquium statt.

In der gegenwärtigen Situation erleben wir hautnah, wie Zahlen – Inzidenzen, R-Werte, Hospitalisierungsraten – unser Handeln sowie politische und wirtschaftliche Entscheidungen beeinflussen. Die interdisziplinäre Accountingforschung befasst sich mit der Rolle, die Indikatoren, Quantifizierung, Reporting - zusammengefasst häufig unter dem Stichwort „kalkulative Praktiken“ – auf gesellschaftlicher, organisationaler und individueller Ebene haben. Forschungsthemen reichen von Fragen des Rechnungswesens und Controllings über Nachhaltigkeitsberichterstattung und Steuervermeidung bis hin zum Beitrag des Accounting zur Reproduktion von Herrschafts- und Machtverhältnissen und zur Finanzialisierung der Welt. Wissenschaftler*innen erforschen diese und andere Themen vor dem Hintergrund vielfältiger, meist sozial- und geisteswissenschaftlicher methodologischer Orientierungen, von Husserls Phänomenologie bis hin zu Foucault, Deleuze und naturwissenschaftlich inspirierten Ansätzen der relationalen Ontologie einer Karen Barad.

Mit dieser sozialwissenschaftlich orientierten kritischen Accountingforschung beschäftigten sich die 13th Interdisciplinary Perspectives on Accounting Conference und das zugehörige Emerging Scholars Colloquium. Auf Grund der Pandemie mussten beide Veranstaltungen virtuell abgehalten werden – sehr zum Bedauern übrigens derjenigen Konferenzteilnehmer*innen, die bereits 2009 bei der damals neunten Auflage dieser Konferenz in Innsbruck waren.

Insgesamt wurden 125 wissenschaftliche Papers präsentiert und es nahmen mehr als 300 Wissenschafter*innen aus 39 Ländern teil. Neben dem fachlichen Austausch haben Konferenzen auch die wichtige Funktion, eine wissenschaftliche Community durch vielfältige informelle Kontakte lebendig zu erhalten. Dies stellt bei virtuellen Konferenzen sicherlich die größte Herausforderung dar. Aus diesem Grunde fand die Konferenz auf Basis einer virtuellen Plattform statt, die es möglich machte, einfach persönliche Videogespräche der Teilnehmer*innen untereinander zu ermöglichen. Es wurden daneben auch virtuelle Cafés eingerichtet, in denen sich die Konferenzteilenhmer*innen 24/7 informell „treffen“ konnten.

Die Konferenz wurde nach Grußworten von Vizerektorin Ulrike Tanzer und Dekanin Annette Ostendorf mit der Keynote von Professor Katherine Gibson, Western Sydney University, eröffnet. Weitere Keynotes wurden von Professor Emily Barman, Loyola University Chicago, und Professor David Cooper, University of Alberta, gehalten.

In ihrer Keynote mit dem Titel „What is the role of accounting in making other worlds possible?“ setzte sich die Wirtschaftsgeografin Katherine Gibson mit dem Potenzial kalkulativer Instrumente auseinander, alternative Formen des Wirtschaftens, die sie unter dem Begriff der Community Economics zusammenfasst, zu unterstützen. Sie ging damit insofern über bekannte Ansätze der Accountingforschung hinaus, als diese zumeist in kritischer Perspektive aufzeigen, wie kalkulative Praktiken zu Ausbeutung und der Reproduktion von Ungerechtigkeiten beitragen. Gibson kann dabei nicht nur auf mehrere Jahrzehnte der Grundlagen- und Anwendungsforschung zurückgreifen, sondern auch auf ihre praktischen Erfahrungen in Community Economics Projekten.

Die Soziologin Emily Barman setzte sich in ihrer Keynote mit dem Titel „Of concepts and calculations: Theorizing social impact“ kritisch mit den aktuellen Trends des „caring capitalism“ auseinander. Damit ist einerseits das Impact Investment gemeint, Investitionsstrategien bzw. -fonds, die neben dem finanziellen Erfolg auch explizit soziale oder ökologische Verbesserungen erzielen wollen. Andererseits sind damit etwa die so genannten „philanthrocapitalists“ und ihre einflussreichen Stiftungen gemeint. In beiden Fällen, so Barman, kommt es letztlich zu einer Monetarisierung, d.h. einer Reduktion der vielfältigen möglichen sozialen Effekte auf einen ihnen zugeschriebenen ökonomischen Wert. Damit werden aber alle qualitativen Aspekte von Wohlfahrt praktisch eliminiert und eine inhaltliche Abwägung zwischen unterschiedlichen Interessen und Werten ist nicht mehr verantwortungsvoll möglich.

David Cooper, einer der Gründer der Interdisciplinary Perspectives on Accounting Conference in 1985, sprach in seiner abschließenden Keynote über „Observations on accounting and power“. Darin reflektierte er sein Werk, in dem die Beschäftigung mit dem Verhältnis von kalkulativen Praktiken, Institutionen des Accountings und Macht eine zentrale Rolle spielt. David Coopers Keynote bildete die Brücke, die die scheinbar komplett gegensätzlichen Ansätze von Katherine Gibson und Emily Barman verbinden konnte. Einerseits betonte und unterstützte er die kritische Perspektive Barmans, indem er anhand vielfältiger Beispiele demonstrierte, wie kalkulative Praktiken, Institutionen und Regulierung soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeiten hervorbringen, unterstützen und legitimieren können. Gleichzeitig betonte er aber auch, dass die kritische Accountingforschung die Basis dafür bildet, dass Akademiker*innen eine aktive Rolle als kritische Intellektuelle wahrnehmen und aktiv für die Verbesserung ungerechter Verhältnisse eintreten können. Indikatoren, Kennzahlen und kalkulative Praktiken können eben auch selektiv genutzt werden, um gesellschaftliche Probleme aufzudecken.

An den beiden Tagen vor der Hauptkonferenz fand am 5. und 6. Juli das Emerging Scholars Colloquium statt. Hier hatten 23 PhD Studierende aus aller Welt die Gelegenheit, ihre Projekte vorzustellen und mit renommierten Wissenschafter*innen zu diskutieren. Stellvertretend sei hier das Feedback von Leonid Sokolovskyy, PhD Student an der University of Manchester, zitiert:

„My experience at the IPA ESC 2021 has been overwhelmingly positive and invigorating! The colloquium is conducted in a relatively informal and highly supportive atmosphere. This year it was online due to the pandemic. The feedback that I got from the faculty and fellow students was very developmental and encouraging. It helped me to make sense of some of the issues that I have been wrestling with or just started to touch on in my own research. It also opened up new avenues and angles for my investigation that I have not thought of previously. (...)

In addition to developing my own research project, I was also introduced into the inter-disciplinary accounting research community. I met lots of new people, made a number of friends and had plenty of very insightful conversations and discussions. I met my personal ‘accounting heroes’ – people whose personality, work, and insight continuously inspire me to do qualitative research in accounting. Most importantly, I got a better idea in what spirit inter-disciplinary accounting research is being done and what drives people as researchers: the excitement and emotion of research.“

Die 13th Interdisciplinary Perspectives on Accounting Conference und das Emerging Scholars Colloquium wurden vom Forschungszentrum Accounting Theory & Research organisiert (https://www.uibk.ac.at/atr/) und neben der Universität Innsbruck sowie der Fakultät für Betriebswirtschaft von den Fachzeitschriften Accounting, Organizations and Society sowie Accounting Forum unterstützt. Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte Albrecht Becker (albrecht.becker@uibk.ac.at).

(Albrecht Becker)

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