Haftraum in einer österreichischen Justizanstalt.
Blick in einen Haftraum in einer österreichischen Justizanstalt.

Straf­voll­zug: 72 Pro­zent berich­ten von Ge­walt in der Haft

Das Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie der Uni Innsbruck hat erstmals umfassend die Anhaltbedingungen und Gewalterfahrungen von Inhaftierten in österreichischen Gefängnissen erforscht. Fast drei Viertel berichten von Gewalterfahrungen, Jugendliche und Personen im Maßnahmenvollzug sind besonders betroffen.

Rund 100 von 100.000 Menschen, die in Österreich wohnen, befinden sich in Haft. Diese Gefangenenrate ist deutlich höher als in Deutschland oder der Schweiz – und führt auch dazu, dass viele der heimischen Gefängnisse überfüllt sind. Das Wiener Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie (IRKS), seit März 2021 Teil der Universität Innsbruck, hat noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie mit einer umfassenden Umfrage repräsentativ erhoben, wie sich unter anderem diese Überfüllung auf die Anhaltebedingungen auswirkt und konkret nach Gewalterfahrungen von Inhaftierten in ihrer Zeit im Gefängnis gefragt. Die Studie wurde nun publiziert; es ist die erste derartige Erhebung in Österreich. Fast drei Viertel der Befragten, genau 72 Prozent, berichten von mindestens einem Gewaltvorfall jemals in Haft in einer österreichischen Justizanstalt – also irgendeiner Form von psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt, wobei die überwiegende Mehrheit innerhalb der letzten drei Jahre stattfand. „Wir fokussieren in der Studie nicht nur auf strafrechtlich relevante Gewalt, sondern auch auf andere Formen psychischer, körperlicher und sexueller Übergriffe. Die Bandbreite der Erfahrungen, die uns Befragte erzählt haben, reicht von leichteren Formen psychischer Gewalt, wie aggressivem Anschreien, über Tritte und Schläge bis hin zu Vergewaltigung“, erläutert Dr. Veronika Hofinger, Leiterin der Studie. „Erwartungsgemäß gibt es am meisten Berichte über psychische Gewalt – 70 Prozent wurden mindestens einmal in Haft aggressiv angeschrien, beleidigt, bedroht, erpresst oder in ähnlicher Weise behandelt. Vier von zehn Befragten geben einen Vorfall körperlicher Gewalt an, sie wurden getreten, geschlagen, unnötig hart angefasst, gewürgt oder in ähnlicher Weise viktimisiert.“ Männer erleben in drei Monaten in Haft mehr körperliche Gewalt als in drei Jahren außerhalb des Gefängnisses. Jede/r Zehnte berichtet von sexueller Belästigung bzw. Gewalt – wobei die Bandbreite hier von objektiv eher harmlosen Situationen bis hin zu schwerer sexueller Gewalt reicht. „Aufgrund der großen Hürden, gerade in Haft einer fremden Person über Opfererfahrungen zu berichten, gehen wir besonders im Bereich der sexuellen Gewalt von massivem ‚Underreporting‘ aus, die Dunkelziffer ist vermutlich deutlich höher“, sagt Veronika Hofinger. Insgesamt zeigt die Studie, dass Jugendliche und Personen im Maßnahmenvollzug besonders von Gewalt in Haft betroffen sind. Auch Personen, die in ihrer Kindheit bereits Gewalt erfahren haben, haben ein höheres Risiko, in Haft viktimisiert zu werden.

Überfüllung

Jede sechste der für die Studie 386 befragten Personen ist in einem überfüllten Haftraum untergebracht und muss sich mit mehr Personen als eigentlich vorgesehen einen Raum teilen. „Wegen dem Überbelag wurden beispielsweise Zweimann-Hafträume zu Viermann-Zellen umfunktioniert, indem man einfach Stockbetten hineingestellt hat. Diese Enge, verbunden mit langen Einschlusszeiten und Unterbeschäftigung, stellt eine massive Belastung für die Inhaftierten dar, die über den reinen Freiheitsentzug hinausgeht“, sagt Hofinger. Der Strafvollzug ist nicht nur voll, die Insassenpopulation ist auch in vieler Hinsicht herausfordernd: Psychische Erkrankungen nehmen zu, über die Hälfte der Inhaftierten besitzt nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. Mehr als die Hälfte der Befragten empfindet Anspannung und Stress und jede dritte Person leidet unter schlechten Anhaltebedingungen, wobei sich diese Werte stark zwischen den Justizanstalten unterscheiden. „Für die Studie ist relevant, wie die Wahrnehmung des Klimas und die Anhaltebedingungen mit Gewalt in Zusammenhang stehen. Überfüllung und schlechtes Klima in Haft erhöhen die Wahrscheinlichkeit für Gewalt. Außerdem können bestimmte Zustände selbst als psychische oder strukturelle Gewalt verstanden werden. Die Belastungen, die daraus resultieren, aber auch die speziellen Charakteristika von Gewaltdynamiken in Haft haben wir in vertiefenden Interviews beleuchtet“, erklärt die Kriminalsoziologin. „Unsere Daten zeigen, dass die Unterbringung in überbelegten Hafträumen bei langen Einschlusszeiten erstens per se als strukturelle Gewalt wahrgenommen wird und zweitens zu mehr psychischen und körperlichen Übergriffen führt. Die Befragten haben zum Beispiel mangelnde Möglichkeiten, sich sinnvoll zu beschäftigen oder Sport und Bewegung zu machen, um aufgestaute Aggressionen abzubauen, als Ursache für Gewalt benannt. Die Jugendlichen stufen diese Aspekte sogar als deutlich belastender ein als leichte körperliche Gewalterfahrungen: Für die war es wichtiger, dass sie sich beim Fußball austoben haben können, auch wenn es dabei vielleicht eine Rangelei gab, als wenn sie den Sportraum über längere Zeit nicht nutzen durften.“

Anstaltskultur

Die Anhaltebedingungen und das Haftklima unterscheiden sich deutlich zwischen verschiedenen Justizanstalten: In Österreich gibt es moderne, mit Architekturpreisen ausgezeichnete Gefängnisse mit fortschrittlicher Anstaltskultur und engagierten Leitungspersonen, aber auch Anstalten in schlechtem Zustand. Die Studie fragt danach, wieviel Stress und Anspannung die Haftsituation auslöst: „Ein sehr negatives Anstaltsklima kann ja schon für sich genommen als Gewalt empfunden werden. Ein Positivbeispiel mit gutem Anstaltsklima und auch wenig berichteter Gewalt ist Korneuburg, wo nur je ein Drittel der Befragten von Anspannung und Stress während des Aufenthalts erleben, während es zum Beispiel in Innsbruck keinen einzigen Befragten gab, der nicht von Anspannung oder Stress berichtet.“ Die Befragung wurde vor der Covid-19-Pandemie durchgeführt, die Lage dürfte sich seither allerdings keinesfalls verbessert haben. Während der Pandemie werden keine Besuche, Ausgänge und Freigänge gewährt. Auch wenn man im Strafvollzug bemüht sei, den Einschränkungen durch die Pandemie durch Video-Telefonie und verstärkte Aktivitäten nach innen entgegenzuwirken, führe die derzeitige Situation auch in Haft zu großen zusätzlichen Belastungen: „Die Gefängnisse sind derzeit zwar weniger voll, weil man großzügiger Strafaufschübe gewährt. Das wird aber keinen dauerhaften Effekt auf die Belagszahlen haben. Es bräuchte eine langfristige Senkung der Haftzahlen und noch mehr Investitionen in veraltete Anstalten. Die Studie zeigt klar, dass es einen sehr großen Unterschied macht, in welcher Justizanstalt man inhaftiert ist und dass die Bedingungen mancherorts stark verbesserungsbedürftig sind.“

Personal

Die Personal-Insassen-Quote in Österreich ist im internationalen Vergleich niedrig, viele Planstellen sind unbesetzt. „Der Strafvollzug ist chronisch unterfinanziert, was sich auch im Personalstand in den Justizanstalten zeigt“, sagt Hofinger. Die Studie fragt auch nach Gewalterfahrungen von Gefangenen, die vom Gefängnispersonal ausgehen: 45 Prozent der Befragten berichten von psychischer Gewalt durch das Personal. Fokussiert man auf potenziell strafrechtlich relevante, schwerere psychische Gewalt, reduziert sich der Anteil derer, die das Personal als Gewaltausübende nennen, auf acht Prozent. „Jeder sechste Befragte gibt an, auch körperliche Gewalt durch das Personal erfahren zu haben. Hier sind aber auch Fälle dabei, die möglicherweise als legitime Zwangsgewalt im Zuge einer Amtshandlung einzustufen wären. Zwischen legitimer, verhältnismäßiger Gewalt und Misshandlung besteht mitunter eine feine, aber sehr wichtige Grenze, die immer wieder umstritten ist. Fachleute fordern daher Bodycams für die Einsatzgruppe, um solche Fälle besser aufklären zu können. Gewalt durch Mithäftlinge berichten häufiger österreichische Inhaftierte bzw. Personen ohne Migrationshintergrund – im Gegensatz dazu bezichtigen Personen islamischer Religionszugehörigkeit und Personen mit nicht-deutscher Muttersprache signifikant häufiger das Personal der Täterschaft“, erläutert die Soziologin. Drei Prozent der Befragten berichten von schweren körperlichen Übergriffen durch Angehörige des Personals. „Um Gewalt in Haft, auch durch Mithäftlinge, zu verhindern, kommt der Fähigkeit des Personals, respektvoll zu kommunizieren, Regeln fair durchzusetzen und professionelle Arbeitsbeziehungen aufzubauen, jedenfalls eine Schlüsselrolle zu.“

Details zur Studie

Kernstück der Studie ist eine Fragebogenerhebung unter 386 Insassen und Insassinnen in zehn österreichischen Justizanstalten (Wien-Simmering, Wien-Josefstadt, Korneuburg, Wiener Neustadt, Gerasdorf, Schwarzau, Hirtenberg, Stein, Garsten und Innsbruck). Mit einem 25-seitigen, mehrsprachigen Fragebogen, der die Befragung in 15 verschiedenen Sprachen ermöglichte, erhoben die Autorinnen nicht nur Erfahrungen psychischer, körperlicher und sexueller Gewalt durch Mithäftlinge und durch Angehörige des Personals, sondern auch das soziale Klima und die Anhaltebedingungen in den Anstalten der Untersuchung. Die Befragung der Zufallsstichprobe erfolgte in Face-to-Face-Interviews. „Zusätzlich zur Fragebogenerhebung haben wir zehn vertiefende Interviews mit von Gewalt betroffenen Inhaftierten geführt, außerdem haben wir die in die Studie involvierten Anstaltsleitungen mit einem Online-Fragebogen zu den Bedingungen und Herausforderungen in ihren Anstalten gefragt sowie sechs Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen, etwa den Fachdiensten, Anstaltsleitungen, Opferschutz, Beschwerdemanagement, Einsatztraining und Menschenrechte“, erklärt Veronika Hofinger. Die Studienergebnisse von Veronika Hofinger und Andrea Fritsche sind kürzlich mit dem Titel „Gewalt in Haft“ auch als frei zugängliches E-Book (Link siehe unten) in der Reihe „Schriften zur Rechts- und Kriminalsoziologie“ im LIT-Verlag erschienen. Die zugrundeliegende Studie „Sicherheit hinter Gittern“ wurde im Sicherheitsforschungs-Förderprogramm KIRAS vom Bundesministerium für Landwirtschaft, Regionen und Tourismus finanziert und von der Generaldirektion für den Strafvollzug im Bundesministerium für Justiz unterstützt.

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