Alltag in der Pandemie
Der Alltag der Menschen hat sich während der Pandemie stark verändert. Wissenschaftler*innen wollen die für die unterschiedlichen Gruppen jeweils besonders belastenden Faktoren identifizieren, um sie bestmöglich zu unterstützen.

Schlei­chende Spu­ren

Wir stellen unser Leben um, verbringen ungewohnt viel Zeit daheim, sind alleine oder lernen den Umgang mit neuen Technologien. Die Corona-Pandemie stellt den Menschen viele Aufgaben, die von allen unterschiedlich wahrgenommen werden und ihre Spuren hinterlassen. Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe hat viele Facetten der psychosozialen Auswirkungen von COVID-19 untersucht.

Menschen in allen Lebenslagen erfahren die Krise, ihre Auswirkungen und Einschränkungen des täglichen Lebens auf unterschiedliche Weise, erleben die Herausforderungen aus verschiedenen Blickwinkeln und entwickeln individuelle Strategien, um mit den Veränderungen umzugehen. Manchen gelingt dies gut, viele leiden aber unter der erhöhten Stressbelastung, den Unsicherheiten und Zukunftsängsten. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen an der Universität Innsbruck, der Medizinischen Universität Innsbruck und Gesundheitsexpertinnen und -experten vom Krankenhaus Hall haben sich gemeinsam im Rahmen des kürzlich gegründeten Forschungszentrums „Gesundheit und Prävention über die Lebensspanne“ zusammengeschlossen und untersuchen in zahlreichen Studien die Auswirkungen der Krise auf die Menschen. „Die Ausbreitung des SARS-COV2-Erregers ist für die öffentliche Gesundheit weltweit von zentraler Bedeutung. Kinder und Jugendliche, Studierende, Frauen, ältere Menschen oder das Gesundheitspersonal sind vulnerable Gruppen, die wir in unseren Forschungen zu den psychosozialen Auswirkungen von COVID-19 besonders berücksichtigen. Ziel der Forschungsgruppe ist ein koordiniertes Vorgehen der Forschungsaktivitäten und der Lehre sowie gemeinsame, interdisziplinäre Publikationen im Rahmen der Corona-Krise“, so Barbara Juen vom Institut für Psychologie.

Eine sichere Basis

Potentiell lebensbedrohliche und stressreiche Situationen erfordern Schutz und Sicherheit. „Wir haben die Auswirkungen und Folgen der Pandemie auf die psychische Gesundheit der Tiroler Bevölkerung untersucht. Erste Ergebnisse zeigen, dass eine sichere Bindung einen wesentlichen Schutzfaktor für Menschen darstellt“, erläutert Anna Buchheim vom Institut für Psychologie und Vizerektorin für Personal. Vor allem jüngere Menschen seien von den Auswirkungen des Lockdowns besonders betroffen, da das Gefühl von Hilflosigkeit und die noch mangelnden Erfahrungen im Umgang mit Krisen große Herausforderungen für sie darstellen. „Ältere Menschen berichten insgesamt von weniger psychischen Belastungen durch die Corona-Pandemie, den Lockdown und die beschränkenden Maßnahmen. Viele geben sogar an, in dieser Situation Ruhe, Entspannung und Entschleunigung zu erfahren“, erzählt Buchheim. Sorgen um die eigene Zukunft und finanzielle Situation belasten das Leben von älteren Menschen weit weniger, als jenes ihrer Enkelkinder, um deren Wohlergehen sich die ältere Generation aber dennoch sorgt. Die Sehnsucht nach einer sicheren und haltgebenden Umgebung ist ein zentrales Ergebnis der Studie geleitet von Karin Labek und Jeff Maerz. „Im ersten Lockdown sind viele junge, vor allem alleinlebende Erwachsene in ihre Ursprungsfamilien zurückgekehrt. In Zeiten, in denen Angst, Hilflosigkeit, Krankheit oder Einsamkeit das Leben bedrohen ist die Suche nach Sicherheit und Unterstützung bei Bezugspersonen besonders wichtig“, so Buchheim und ihr Team. Diese „sichere Basis“ hilft vor allem jungen Menschen durch diese schwierige Zeit.

Distanzen überwinden

Distance Learning, Homeschooling oder die Verlagerung der sozialen Kontakte in die Virtualität sind neue Entwicklungen, mit denen vor allem junge Menschen und Studierende konfrontiert sind. Wie sich ihr Alltag im Lauf der Krise verändert hat, welche Strategien Studierende im Umgang mit Distance Learning entwickelt haben und wie sie die Herausforderungen meistern, untersuchen Tabea Bork Hüffer, Katja Kaufmann und Christoph Straganz vom Institut für Geographie sowie Maria Hildegard Walter, Vanessa Kulcar und Barbara Juen vom Institut für Psychologie. „Der momentane Alltag der jungen Menschen ist durch die parallele Nutzung einer Vielzahl digitaler Medien fürs Lernen, den sozialen Austausch, das Arbeiten und Freizeitaktivitäten wie Online Sportkurse, Onlinekonzerte oder zivilgesellschaftliches Engagement geprägt. Zwar überbrücken sie Distanzen und halten Beziehungen aufrecht, jedoch belastet sie das Verschwimmen digitaler und physischer Realitäten“, berichtet Bork-Hüffer. „Junge Menschen werden in der Öffentlichkeit als zentrale Treiber der Pandemie gesehen und leiden gleichzeitig stark unter den Folgen. Die Einstellungen und das Befinden von jungen Menschen zu verstehen ist zentral, auch um ihre Bereitschaft zur Einhaltung von Maßnahmen zu fördern und ihr psychosoziales Wohlbefinden zu schützen“, so Juen. Die wirtschaftlichen Folgen der Krise, die ohnehin bereits unstete, von Veränderungen geprägte Lebensphase, sowie die unsicheren Zukunftspläne machen diese Gruppe verletzlich. Die Forschung zeigt auch, dass Frauen in allen Altersgruppen psychisch mehr unter der Pandemie leiden als Männer. Diese Geschlechtsunterschiede haben Elisabeth Weiss und Markus Canazei untersucht: „Weibliche Studierende gaben erhöhten Stress, Depressivität, Sorgen und emotionale Erschöpfung an.“ Weiters sind auch Kinder von den Auswirkungen der Pandemie betroffen. „Kinder im Alter von drei bis zwölf Jahren betrifft die Krise weniger im Sinne der eigenen Bedrohung, als vielmehr die Belastung durch das Bedrohungserleben ihrer Bezugspersonen, aber auch durch den Wegfall von sozialen Kontakten und Schule. Mädchen nehmen dabei eine stärkere Bedrohung wahr und zeigen eher Trauma- und Angstsymptome“, so die Studienleiterinnen Silvia Exenberger und Kathrin Sevecke.

Besonderer Schutz

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Einsatzorganisationen, im Krankenhaus oder in Pflegeeinrichtungen sind stark von der Pandemie betroffen, da sie täglich im Kontakt mit infizierten Personen stehen. Ein veränderter Umgang mit Tod und Sterben, der erschwerte Umgang mit Angehörigen oder Ressourcenknappheit sind für das Gesundheitspersonal besonders herausfordernd. „Die Ergebnisse der ersten Welle zeigen, dass junges Alter und geringe Einsatzerfahrung sowie enger Kontakt zu COVID-19-Infizierten ein höheres Stresserleben verursachen. Besonders betroffen sind auch davon die Frauen“, erläutert Barbara Juen, die gemeinsam mit Alexander Kreh und Michael Lindenthal die Auswirkungen auf das Gesundheitspersonal untersucht. Auch Medizinstudierende sind als zukünftiges medizinisches Personal erhöhten Risiken ausgesetzt. Heidi Siller und Margarethe Hochleitner von der Medizinischen Universität Innsbruck erforschen die Auswirkungen der Pandemie auf diese Gruppe. „Vor dem Hintergrund, dass gerade Gesundheitsberufe einen hohen Anteil an weiblichem Personal verzeichnen, ist eine Untersuchung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen, besonders auch während der Pandemie, notwendig. Medizinstudierende stellen die medizinische Versorgung von morgen sicher und erfüllen somit wesentliche Funktionen in unserer Gesellschaft“, so die Expertinnen. Gemeinsam wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die für die Menschen in den verschiedenen Gruppen jeweils besonders belastenden Faktoren identifizieren, um sie bestmöglich zu unterstützen und so langfristige negative Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit und damit auf die Zukunft der Gesellschaft zu verhindern.

Dieser Artikel ist in der Dezember-2020-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).

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