„Das Fortgehen und Heimatfinden ist kein linearer Prozess der Ablösung und des Ankommens. Es ist ein komplexer Prozess der Vernetzung“, so Silke Meyer, Professorin für Europäische Ethnologie am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, die gemeinsam mit Fatma Haron und Claudius Ströhle Migration aus einer transnationalen Perspektive untersucht. Im kulturellen Reisegepäck werden Gegenstände, Ideen und Lebensweisen mitgebracht, die dann den lokalen Verhältnissen angepasst und erneuert werden. Dadurch verändern sich nicht nur die Individuen, sondern auch die Gesellschaft. Mit ihren Forschungen will das Team zeigen, dass sich Menschen ihre neue Umgebung aneignen und dort zu Hause fühlen, gleichzeitig aber auch in vielfacher Art und Weise mit der alten Heimat verbunden bleiben können. „Migration ist kein einmaliger Schritt von A nach B, sondern ein zirkulärer Prozess des Austauschs auf vielen Ebenen. Es gibt nicht nur ein ‚entweder-oder‘, sondern ein ‚sowohl-als-auch‘“, betont Claudius Ströhle.
Sozialer Austausch
Im dreijährigen Forschungsprojekt „Follow the Money. Remittances as Social Practice“ untersuchen Fatma Haron und Claudius Ströhle unter der Leitung von Silke Meyer die langjährige intensive Verbindung zwischen Uşak im Südwesten der Türkei und Fulpmes im Stubaital. Als Remittances werden Geldtransfers von Migrantinnen und Migranten in ihre Herkunftsorte bezeichnet, die dort Familie und Freunde finanziell unterstützen. Remittances sind aber mehr als nur Geldsendungen, sie umfassen auch soziale Praktiken, Weltanschauungen und Normen. So erbauen Rückkehrer und Rückkehrerinnen Häuser nach Tiroler Vorbild, richten im Keller Fitnessstudios ein und bringen einen Kaffee-Vollautomaten als Gastgeschenk mit in das Tee- und Mokkaland Türkei. „Man kann Stubaier und gleichzeitig Uşaker sein. Mit unserer Arbeit wollen wir der Vorstellung entgegenwirken, dass sich Menschen entscheiden müssen“, so der junge Wissenschaftler, der nicht nur in Fulpmes, sondern auch in der Türkei forscht, denn Migration verändert den Ankunfts- und den Herkunftsort. „Transnational zu forschen bedeutet, Menschen, die selbst oder in ihrer Familie Erfahrung mit Migration haben, nicht als ‚zwischen den Stühlen‘ zu imaginieren. Vielmehr bringen diese Menschen Wissen, Ideen, Ressourcen und Erfahrungen in Gesellschaften ein, und zwar an mehreren Orten“, erläutert Meyer. Das Projekt wird vom Wissenschaftsfonds FWF und dem Land Tirol im Rahmen des Tiroler Matching Funds gefördert. Anhand unterschiedlicher Aspekte und Zeitepochen möchten die Forscherinnen und Forscher verschiedene Migrationsbewegungen nachzeichnen, mit dem Ziel, ein transnationales Verständnis für Migration zu schaffen. Gemeinsam mit Studierenden haben Ströhle und Meyer auch eine Ausstellung zum Thema „Fortgehen und Heimatfinden“ erarbeitet. Neben den klassischen Themen wie Arbeitsmigration und Flucht beschäftigen sie sich mit der Frage, in welchem Verhältnis das Fremde mit dem Eigenen steht, zum Beispiel Geranien und Tirol.
Döner und Geranien
Mit Pelargonien, oder besser bekannt als Geranien, dekorierte Holzfenster stehen nicht nur in Tirol für Tradition und Heimat. Dass diese Blumen aber gerade keine Tiroler Wurzeln haben, ist nur Wenigen bekannt. „Ihren Ursprung haben Geranien in der Kap-Region in Afrika und sie werden noch heute aus diesen Ländern importiert. Beim ‚Fest der Wissenschaft‘ möchten wir auch zeigen, dass das vermeintlich Typische, oder das, was uns ausmacht, oft schon eine sehr weite Reise hinter sich hat. So sind heute die eigentlich exotischen Gewächse nicht mehr von den dekorativen Blumenkisten an vielen Tiroler Häusern wegzudenken“, so Ströhle. Neben den vermeintlich typischen Tiroler Geranien wurde das Skateboarden beleuchtet. In Deutschland stationierte amerikanische Soldaten haben diesen Trend nach Europa gebracht. Der Verein „Skaid – all together“ in Innsbruck verbindet den Sport mit der Unterstützung für geflüchtete Jugendliche. So wird den Jugendlichen ermöglicht, Freundschaften zu schließen und gemeinsam Sport auszuüben. „Das Skaten wird auch symbolisch so gesehen, dass es keine Konkurrenz schürt, sondern das Miteinander in den Vordergrund stellt. Gemeinsam werden Dinge ausprobiert, man darf auch hinfallen und lernt, wieder aufzustehen und weiterzumachen“, vertieft Ströhle. Auch die Geschichte des Döner-Kebabs, der sich von einem türkischen Tellergericht zu einem Take-Away-Essen entwickelt hat und heute dem urbanen Lifestyle angepasst wird, wird als Teil der Ausstellung erzählt. „Aus unserer Sicht ist es unerlässlich, Migration und Mobilität als historisches Phänomen zu betrachten. Erst die Geschichte der Geranie, des Skateboards oder des Döners zeigen, wie viel Fremdes im vermeintlich Eigenen steckt und umgekehrt“, so Meyer. Auch kritische Tönen dürfen dabei nicht ausbleiben, wie ein Plakat über Saison- und Erntearbeit, am Beispiel von Tiroler Radieschen, zeigt. „Menschen dürfen nur noch zu uns kommen, um hier zu arbeiten, nicht aber um hier zu leben. Die zeitlich limitierten Aufenthaltsbewilligungen für Erntearbeiter oder die 24-Stunden-Pflegerinnen und -Pfleger sind Ausdruck neuer Migrationsregime, die prekäre und diskriminierende Lebensbedingungen mit sich bringen“, so das Forschungsteam.
Ausstellung
Ausgehend von dem im Forschungsprojekt entwickelten transnationalen Verständnis von Migration und Gesellschaft erarbeiteten Claudius Ströhle und Silke Meyer gemeinsam mit Studierenden der Europäischen Ethnologie Plakate für eine Ausstellung, die ab 6. Juni 2019 am Innsbrucker Domplatz zu sehen sein wird. Die Ausstellung ist Teil einer Kooperation mit dem Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck und trägt den Titel „Fortgehen und Heimatfinden. Innsbrucker Migrationsgeschichten“. In drei Teilen, die von den Fächern Geschichte der Neuzeit, Europäische Ethnologie und Zeitgeschichte bespielt werden, widmet sie sich vom 14. März bis 29. November 2019 der historischen und gegenwärtigen Migration von und nach Innsbruck. Die Ausstellung ist das Ergebnis von einem Lehrforschungsprojekt, das über zwei Semester erarbeitet wurde. Neben den Inhalten der Migrationsforschung erlernten Studierende auch Möglichkeiten des Wissenstransfers und der Vermittlung von Forschungsergebnissen an eine breitere Öffentlichkeit. Die Ausstellung wird auch als Teil des „Fest der Wissenschaft“ gezeigt.
Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der „Zukunft Forschung“, dem Forschungsmagazin der Universität Innsbruck, erschienen. Eine digitale Version des Magazins ist hier zu finden.