Gruppenfoto Ringvorlesung
Der Vortragende, Igor Narskij (3. von links) mit Organisatorinnen und Organisatoren der Uni Innsbruck (von links): Gunda Barth-Scalmani, Kurt Scharr, Ingrid Böhler und Dirk Rupnow.

Brest-Litowsk: Weder Krieg noch Frieden?

Dem Anfang März 1918 geschlossenen Sonderfrieden von Brest-Litowsk zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten kommt im Vergleich zu den Friedensverträgen, die von den Alliierten in Paris verhandelt wurden, meist nur eine geringere Aufmerksamkeit zu. Am 9. Mai 2018 lenkte der Historiker Igor Narskij von der Süd-Ural-Universität Tscheljabinsk den Blick auf diesen Vertrag.

Nach der Oktoberrevolution bemühten sich die neuen Machthaber Russlands rasch um einen Waffenstillstand und Ausstieg aus dem Weltkrieg. Am 22. Dezember 1917 kam es zu einem ersten Aufeinandertreffen der bolschewistischen Delegation mit den Vertretern der Mittelmächte. Die Leitung der Verhandlung lag auf Seiten der Bolschewisten zunächst bei Adolf Abramowitsch Joffe. Die deutsche Delegation wurde von General Max Hoffmann, jene Österreich-Ungarns von Ottokar Graf Czernin von und zu Chudenitz angeführt.

Laut Narskij lassen sich die nun anlaufenden Verhandlungen in drei Phasen einteilen. In einer ersten Phase, vom 22. bis 28. Dezember 1917, sorgten Erklärungen und ein äußerst freundschaftlicher Ton für eine vermeintliche Annäherung zwischen den Parteien. Tatsächlich diente ein solches Verhalten jedoch vor allem dazu, die eigentlichen Absichten zu verschleiern. Ein Treffen, um konkrete Punkte eines Friedensvertrages auszuarbeiten, wurde indessen vertagt. Am 7. Jänner 1918 übernahm Leo Trotzki die Leitung der Verhandlungen. Damit begann die zweite Phase. Sie brachte eine Änderung der diplomatischen Strategie. Während Joffe für rasche Verhandlungen eingetreten war, spielte Trotzki auf Zeit, weshalb sich die Verhandlungen bis zum 10. Februar 1918 ergebnislos hinzogen. In seinen Memoiren sollte Trotzki geringe Wertschätzung für die anderen Konferenzteilnehmer offenbaren, wie etwa für den adeligen Graf Czernin. Es trafen aber nicht nur unterschiedliche Weltvorstellungen aufeinander. Die maßlosen Gebietsforderungen der Gegenseite bewogen Trotzki Anfang Februar dazu, einen Verhandlungsboykott zu erklären. Daraufhin beendete das deutsche Heer den Waffenstillstand. Eine erneute Ost-Offensive, die Operation Faustschlag (18. Februar bis 3. März 1918), der die Bolschewiken militärisch nichts entgegenzusetzen hatten, sorgte dann aber für deren schnelles Einlenken. In der dritten Phase der Verhandlungen von Brest-Litowsk, ab dem 1. März 1918, blieb der russischen Seite keine andere Wahl, als alle nachteiligen Bedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Bereits am 3. März wurde der Vertrag unterzeichnet. Er sollte als „Raubfrieden“ in die sowjetische Geschichtsschreibung eingehen.

Konflikte und Disparitäten unter den Verhandelnden

Eine erfolgreichere Diplomatie seitens der russischen Delegation war nicht zuletzt an der eigenen Uneinigkeit gescheitert. Es gab unterschiedliche Spekulationen, ob überhaupt bzw. wann die deutsche Armee die Kampfhandlungen wieder aufnehmen würde. Daran orientierten sich dann die Positionen der Befürworter bzw. Gegner eines schnellen Abschlusses der Friedensverhandlungen. Bei der Wahl vom 25. November 1917 zur konstituierenden Versammlung des russischen Parlaments hatten die Bolschewisten zudem ihre absolute Mehrheit verloren und damit die alleinige Entscheidungsgewalt über die Zukunft Russlands. In dieser sowohl außen- als auch innenpolitisch heiklen Situation waren verschiedene Lager entstanden: zum einen jenes, dem Trotzki angehörte, das für eine Verzögerung der Verhandlungen plädierte, und zum andern das Lager Lenins und Swerdlows, das sich für eine schnelle Unterzeichnung des Vertrages einsetzte. Als am 19. Jänner 1918 die Bolschewisten das gewählte Parlament, die „Russische konstituierende Versammlung“, entmachteten, stärkte dies Trotzki den Rücken und er konnte seine taktische Ausrichtung, die Verhandlungen zu verzögern, durchsetzen. Dies trieb er auf die Spitze, indem er sich schließlich von den Verhandlungen entfernte und weitere Gespräche ablehnte. Diesen „Ausweg“ nannte er „weder Krieg noch Frieden“. Was darauf folgte, war die Operation Faustschlag.

Konsequenzen des Friedens: damals und heute

Das stalinistische Narrativ

Stalin suchte ab den 1930er-Jahren die Darstellung der Friedensverhandlungen für sich zu nutzen. In seiner Version, die auch die der sowjetischen Schulbücher bis in die 1970er sein sollte, wurden die Lager neu zusammengesetzt. Die vermeintlichen „linken Kommunisten“, wie Trotzki, Bucharin, Radek und Pyatakow, hätten eine Opposition zu Lenin, Swerdlow und Stalin selbst gebildet. Es verwundert nicht, dass keiner dieser angeblichen Verräter der Revolution, in denen Stalin seine gefährlichsten Konkurrenten sah, die Große Säuberung in den Jahren 1937 bis 1940 überleben sollte. Paradoxer Weise wurde Trotzki der Abschluss des verlustreichen Friedens zur Last gelegt, während sich Stalin den Umstand, dass der Vertrag in wichtigen Punkten nicht umgesetzt wurde, auf seine Fahnen heftete: Die endgültige Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns und die militärischen Erfolge der Roten Armee nach Ende des Ersten Weltkriegs verhinderten die vernichtende Schwächung des sowjetischen Einflussraums. Laut diesem Narrativ, in dem die russische Seite gegenüber den Mittelmächten ein kluges, weitsichtiges Spiel gespielt hatte, kam Trotzki jedoch nicht mehr vor, Stalin ersetzte ihn durch seine eigene Person.

„Weder Krieg noch Frieden“ in der Retrospektive

Wie Igor Narskij zum Abschluss seines Vortrags darlegte, wendete sich das Blatt nach dem Abschluss des so genannten Diktatfriedens grundlegend. Während Deutschland und Österreich zunächst augenscheinlich als die großen Gewinner des Abkommens hervorgingen – so sicherten sie sich Polen und das Baltikum als Einflussgebiet, außerdem erreichten sie die Loslösung der Ukraine und Finnlands aus dem bolschewistischen Staatengebilde sowie die Zahlung beträchtlicher Reparationen – sollte Sowjetrussland dagegen seine Verluste zu großen Teilen revidieren können.

Darüber hinaus stellten die Verhandlungen laut Narskij das erste Beispiel einer neuen Diplomatie dar, die sich nicht nur, wie sonst üblich, an nationalen Interessen orientierte. Der Kommunismus eines Trotzki oder Lenin dachte in internationalen Klassen und nur bedingt in nationalstaatlich abgesteckten territorialen Ansprüchen.

In seinem letzten Punkt wies der Vortragende darauf hin, dass in der heutigen Geschichtspolitik Russlands der Frieden von Brest-Litowsk nur mehr eine marginale Rolle spielt. Das vorherrschende Narrativ orientiert sich als klassische „top-down“-Inszenierung vornehmlich am „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Nazi-Deutschland, der die Ereignisse des Ersten Weltkriegs überlagert, nicht zuletzt durch die heroisierte Schlacht um die Brester Festung 1941.

(Paul Csillag, Christian Konz)

Der Vortrag zum Nachsehen

    Nach oben scrollen