Zekirija Sejdini
Zekirija Sejdini, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Innsbruck.

„Religionen sprechen nicht!“

Zekirija Sejdini, Professor für Islamische Religionspädagogik am neuen Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Innsbruck, im Gespräch über Integration, ambivalente Religionen und religiöse Vielfalt als Chance.

Welche Chancen und/oder Gefahren sehen Sie in der Vielfalt?
Sejdini: In der Vielfalt selbst sehe ich eigentlich nur Chancen und keine Gefahren, weil die Welt von Natur aus vielfältig ist. Sorgen machen mir zunehmend unsere Inkompetenz und Unbekümmertheit im Umgang mit Pluralität. Auch wenn Vielfalt als potentielle Bereicherung gesehen werden kann, braucht es starke Fundamente und Kompetenzen, um sie für die Gesellschaft fruchtbar machen zu können. Daran muss noch gearbeitet werden.

Was genau ist Ihr Forschungsgebiet am Lehrstuhl für Islamische Religionspädagogik?
Gemeinsam mit meiner katholischen Kollegin beschäftige ich mich zurzeit vor allem mit interreligiöser Religionspädagogik. Dabei geht es u.a. um die Frage, was sich in der Begegnung von Menschen, die unterschiedlichen Religionen angehören, zeigt. Welche Probleme, welche Chancen tauchen hier auf? Was bedarf es an Aus-, Fort- und Weiterbildung in der LehrerInnenbildung, um die Vielfalt als Chance wahrzunehmen?

Sie bilden also mit den zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern auch Multiplikatoren eines Religionsverständnisses aus?
Ja, besonders für Lehrerinnen und Lehrer ist wichtig zu verstehen, dass Diversität eine Chance ist. Der Blick über den Tellerrand ist wichtig. Angesichts der kulturellen und religiösen Vielfalt in der Gesellschaft benötigen wir Multiplikatoren – Menschen, die sich in verschiedenen Kulturen beheimatet fühlen und das für Kinder und Jugendliche übersetzen.

Wie reagieren Sie auf Umfrage-Ergebnisse, die zeigen, dass vielen Musliminnen und Muslimen die Religion wichtiger ist als der Staat?
Ich finde die Fragestellung grundsätzlich falsch. Für Menschen, die glauben, dass sie irgendwann vor Gott stehen werden, besteht kein Zweifel daran, dass sie ihren Glauben über alles stellen. Daraus lässt sich aber keine Aufforderung zur Missachtung des eigenen Staates ableiten. Im Gegenteil, gläubige Menschen müssten Interesse daran haben, in einem säkularen demokratischen Rechtsstaat zu leben. Sie müssten diesen unterstützen, da dieser als einzige Staatsform eine freie Entfaltung des Glaubens ermöglicht. Wenn die Antwort jedoch dahingehend verstanden wird, dass gesetzliche Bestimmungen in Anlehnung an religiöse Autoritäten für irrelevant erklärt werden, dann handelt es ich um ein großes Problem, das nicht geduldet werden darf, da sie die Fundamente des säkularen demokratischen Rechtsstaates untergraben würde.

Wie sehen Sie die Stellung der Frau im Islam?
Es gibt nicht die Stellung der Frau im Islam, sondern bei den Muslimen. Und je nachdem welche Einstellung diese haben, ist sie unterschiedlich. Aus meiner Sicht ist die Situation der Frau in der muslimischen Gesellschaft nicht zu bewundern. Diesen Umstand sollte man aber nicht dem Islam zuschreiben, sondern den Muslimen.
Die Stellung der Frau im Islam im Kontext der vorherrschenden Sitten und Gebräuche vor 1400 Jahren war verhältnismäßig revolutionär: Der Frau wird keine Urschuld zugewiesen, sie erhält das Erbrecht und wird nicht mehr als reiner Besitz angesehen. Aber wenn man revolutionäre Gedanken nicht weiterentwickelt und lebendig hält, verblasst jede Revolution nach 1400 Jahren. Es liegt nicht daran, dass die Grundlagen fehlen, sich weiter zu entwickeln, es fehlt der Geist zu verstehen, dass man nur dann der Tradition treu bleiben kann, wenn man sich ständig erneuert. Die religiösen Bestimmungen über die Rechte der Frauen stellen keine Obergrenzen, sondern Untergrenzen dar, die nicht unterschritten werden dürfen. Ich sehe hier klar eine Herausforderung an die Muslime, sich zu erneuern – vor allem in den muslimischen Staaten. Hier in Europa sieht man, dass die muslimische Frau bereits ihre Rolle einnimmt, ca. 70% meiner Studierenden sind beispielsweise Frauen.

Im Zuge der Berichterstattung über die Flüchtlingsströme aus Syrien konnte man beobachten, wie in der medialen Berichterstattung ein Switch passierte. Plötzlich scheint es vertretbar zu sein vom Islam als etwas an sich Bedrohlichem zu berichten. Wie haben Sie diese Entwicklung empfunden?
Ja, auch ich habe das so beobachtet und es macht uns allen Angst. Diese Entwicklung sollte auch der Gesellschaft insgesamt zu denken geben. Nicht nur in Österreich, auch in Deutschland wird es plötzlich gesellschaftsfähig, Dinge zu sagen, die vielleicht immer schon gedacht wurden, aber nie ausgesprochen wurden. Eine bestimmte Kritik ist sinnvoll, jede Religion braucht Kritik, um sich zu erneuern. Aber was sich heute vor allem medial abspielt, hat mit konstruktiver Kritik nichts mehr zu tun. In Österreich ist der Islam seit ca. 100 Jahren offiziell anerkannt und ich würde sagen, es ist relativ gut gelaufen. Daher kann nicht pauschal behauptet werden, die Integration sei nicht gelungen, denn es stellt sich die Frage: welche Integration? Und wer ist dafür zuständig, dass sie funktioniert, sind es immer nur die Migranten? Ein Beispiel: Wir sind erst seit kurzem an den Universitäten – warum nicht schon seit 30 Jahren – dann wäre die Diskussion um einen europäischen Islam schon viel weiter.

Gibt es für Sie als Islamwissenschaftler eine religiöse Basis für den Glaubenskrieg, den der Islamische Staat (IS) führt?
Alle Religionen sind ambivalent. Es gibt in jeder Religion positive und negative Aspekte. Es hilft niemandem, eine der beiden Seiten auszublenden. Wichtig ist die Haltung, mit der man an die Religion herangeht. Wenn Religion als eine Möglichkeit des Menschwerdens verstanden wird, dann setzt diese eine anerkennende Haltung gegenüber der unantastbaren Würde aller Menschen voraus. Wenn jedoch Religion als unüberbrückbares Unterscheidungsmerkmal verstanden wird, um andere auszugrenzen, dann handelt es sich um eine problematische Haltung. Und natürlich sind die Texte im Koran vor 1400 Jahren in einem spezifischen Kontext entstanden. Wenn Fanatiker diese Texte mit einer bestimmten Brille lesen, können sie, indem sie andere Texte ausblenden, Stellen finden, die ihren Kampf legitimieren. Denn Religionen sprechen nicht, sie werden von Menschen zur Sprache gebracht. Deswegen benötigen wir die wissenschaftliche Auseinandersetzung und Ausbildung, um angemessene hermeneutische Zugänge zu entwickeln.

Sie stammen aus Mazedonien, haben in der Türkei studiert. Wie erleben Sie Ihren Alltag in Österreich, waren Sie je mit Anfeindungen konfrontiert?
In der letzten Zeit höre ich, dass sich die Anfeindungen österreichweit vermehrt haben. Ich persönlich habe noch keine negativen Erfahrungen gemacht. Ich hoffe, dass diese mir erspart bleiben und dass der aktuelle Anstieg, der ernstgenommen werden muss, nachlässt.

Zur Person

Zekirija Sejdini wurde in Mazedonien geboren, studierte Islamische Theologie, Philosophie und Religionspädagogik in Kairo und Istanbul und promovierte im Fach Islamwissenschaft an der Universität Heidelberg. Sejdini war Abteilungsleiter für das Lehramt an der Islamischen Religionspädagogischen Akademie in Wien, bevor er als stellvertretender Leiter des Schulamtes der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich tätig war. Seit 1. Jänner 2014 ist Sejdini Professor für Islamische Religionspädagogik zuerst am Institut für Fachdidaktik der School of Education und seit 1. Jänner im neugegründeten Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik in Innsbruck.

Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe der „Zukunft Forschung“, dem Forschungsmagazin der Universität Innsbruck, erschienen. Eine digitale Version des Magazins ist hier zu finden.

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