Im Rahmen des FSP-Tages zu „Gewalt- und Konfliktforschung“ sowie eines Workshops zur Forschungsethik stand die gemeinsame, analytische Auseinandersetzung mit individueller, kollektiver, physischer, psychischer, struktureller, epistemischer, symbolischer und politischer Gewalt im Zentrum – also mit Gewalt in all ihren Ambivalenzen, Facetten und Vielschichtigkeiten.
Gewalt als Herausforderung
Gewalt fordert uns heraus – nicht nur als Menschen, sondern auch als Forschende. In der Moderne gilt sie weithin als illegitim und unangemessen, sofern sie nicht in legitimierenden Kontexten verortet ist. Zugleich ist sie im Alltag in vielerlei Formen normalisiert: staatlich autorisiert wie bei der Polizei, popkulturell inszeniert im Rap oder in Hollywood-Actionfilmen, aber auch eingebettet in (Kampf-)sport, in Bräuche wie den Krampuslauf oder in bestimmte Bereiche der Sexualität.
Manchmal erscheint Gewalt als etwas, das über ein Geschehen hineinbricht und nicht aus ihm heraus verständlich ist; als etwas das eskaliert und kaum beherrschbar scheint. Als strukturelle, ökonomische und soziale Gewalt wiederrum wirkt sie auf Gesellschaft und ihre Subjekte, ohne dabei sichtbar oder gar jederzeit spürbar zu sein. Als allzeitige menschliche Handlungsoption scheint sie damit omnipräsent und abwesend zugleich.
Gewalt hat vor allem aufgrund ihrer zerstörerischen Wirkung eine nachvollziehbare Anziehungskraft auf Menschen, die durchaus zwischen heftiger Abwehr, gruselndem Interesse und zugewandter Faszination changieren kann. Gerade ihre eruptive Kraft lässt sie als etwas ausnahmehaftes Anderes, a-normales. erscheinen. Doch sie ist keineswegs ein düsteres Anderes der Gesellschaft, „sondern steht in einem konstitutiven Wechselverhältnis zur sozialen Ordnung.“[i] Wissenschaftler:innen haben daher die Aufgabe, sie ihres vermeintlich exotischen Charakters zu entkleiden und sich ihr nüchtern als ein analysierbares Phänomen des Alltags zuzuwenden. Denn wie Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl betonen, ist Gewalt „ein alltägliches Phänomen (…) und damit nicht grundsätzlich anders zu behandeln als andere Alltagsphänomene auch“[ii] Dies bedeutet, Forschende sollten sowohl die Gründe und Dynamiken, die zu Gewalt führen, als auch die Gewalt selbst in den Blick nehmen – die Situationen, in denen sie ausgeübt wird, ihren Vollzug und auch das, was sie mit anderen Menschen anrichtet. Eine solche Analyse der Gewalt ist, so argumentiert es der Soziologie Tobias Hauffe, zentral, um überhaupt erst etwas über die Gründe der Gewalt zu erfahren: „Erst wenn wir von konkreten Phänomenen der Gewalt ausgehen, kann es möglich sein, auch etwas über das Gesellschaftliche zu sagen, das in ihnen zum Ausdruck kommt.“[iii] Es gehe darum, „Gewalt, handwerklich gewissenhaft frei(zu)legen, um an Aspekte heranzukommen, die nicht augenscheinlich sind, die uns aber zu verstehen helfen, was hier vor sich geht.“[iv]
Doch, was bedeutet es in unseren Feldern, wenn wir Gewalt begegnen? Wie nehmen wir uns ihr nüchtern, analytisch klar und forschungsethisch angemessen an? Diese Fragen standen im Zentrum meines Forschungsaufenthalts an der Universität Innsbruck, durch den ich die Möglichkeit hatte in einen interdisziplinären Austausch mit Forschenden zu kommen, die sich mit verschiedenen Formen von Gewalt beschäftigt haben.
Die Ambivalenzen der Gewalt
Ich habe 2021 mit einer ethnografischen Studie zu Affekt und Gewalt im polizeilichen Alltag promoviert, bei der ich aus einer praxistheoretischen Perspektive Wut und Aggressivität als Teil staatlicher Gewaltarbeit argumentiert und Gewaltsamkeit als Körpertechnik begriffen habe. Seit 2022 beschäftige ich mich mit den aktuellen Entwicklungen algorithmischer Kriegsführung und autonomen Waffensystemen in Militär und der Rüstungsindustrie. Diese militärische (letale) Gewalt und vor allem die Versuche der Auslagerung dieser Gewaltsamkeit an verschiedene Formen Künstliche Intelligenz stehen im Kontext von Imaginationen eines „besseren“ Kriegshandelns und den damit verbunden Diskursen um KI in algorithmisch basierten Waffensystemen. Doch was es bedeutet es, wenn Gewalt, und im Fall des Krieges sogar das Töten, zur Arbeit gehört und welche ethischen und gesellschaftlichen Implikationen gehen mit dem Versuch einher, diese Arbeit vom Menschen an die Maschine auszulagern?
BeimFSP-Tag zu „Gewalt- und Konfliktforschung“ hatte ich die Gelegenheit einen Vortrag über jene Imaginationen moderner Kriegsführung zu halten, die den militärisch-industriellen Komplex aktuell bestimmen. In diesen wird militärische KI nicht als Bedrohung verstanden, sondern als Garant demokratischer Werte vermarktet und ist eng mit der Vorstellung eines „präziseren“ und damit vermeintlich „humaneren“ Tötens verknüpft. In Feldern wie dem Militär und der Rüstungsindustrie, in denen die Durchführung und Ermöglichung (letaler) Gewalt zur Arbeit gehört, erscheint sie notwendig und unhinterfragt. Zugleich wird sie – gerade deswegen – in einen normativen, moralischen Rahmen gesetzt, der es für die staatliche Institution und die einzelnen Soldat:innen vertretbar macht gewaltvoll zu handeln.[v]
Doch auch eine institutionell, organisational und moralisch eingehegte Gewalt ist zerstörerisch in ihrer Wirkung – dies gilt umso mehr, wenn es sich um tödliche Gewalt handelt. Laut Marion Näser-Lather sind solche Ambivalenzen charakteristisch für das Phänomen der Gewalt. Gewalt ist disruptiv wie produktiv, zerstörerisch wie gesellschaftserhaltend zugleich. So wundert es kaum, dass sie Menschen als „bestialisch und abstoßend, aber auch als faszinierend oder gar anziehend“[vi] erscheint. Sie ist damit ein Phänomen, so argumentiert Näser-Lather, das oft genug zwischen einem Tremendum (dem Erschreckenden) und einem Fascinosum (dem Faszinierenden) changiert.[vii] Beides fällt zusammen, wenn uns Gewalt bspw. von gewaltsamen, politischen Stürzen autoritärer Regime über Social Media erreichen und die als eine Form des riot oder violence porn mit einer spezifischen Lust und Abwehr zugleich betrachten werden.
Die Spuren der Gewalt: Materialität, Erinnerung und Gerechtigkeit
Gewalt dimensioniert sich auch räumlich und zeitlich, darauf verwiesen die Vorträge von Barbara Hausmair und Katja Seidel. Denn Gewalt vergeht nicht einfach so, sondern schreibt sich ein – in Körper, in Landschaften, in Materialien, in kollektive Erinnerung. Es sind diese Spuren, denen sich eine Archäologie moderner Massengewalt widmet und mit denen sich Barbara Hausmair auseinandersetzt. Ihre Forschungen beschäftigen sich mit den materiellen Spuren von Kriegen, Genoziden und Kontexten einer systematischen Unterdrückung.[viii] Gewalt steht hier eng verknüpft mit einer Materiellen Kultur, gesellschaftlichen Kontexten und einer Erinnerungskultur, die Fragen um die Gefahr und den Umgang einer politischen Instrumentalisierung von Forschung und damit verbunden auch Fragen nach einem forschungsethisch angemessenen Umgang aufwerfen. Gewalt ist zeitlich wie räumlich gebunden und steht immer in sozialen und gesellschaftlichen Kontexten, gleichzeitig weist sie auch eine gewisse Überzeitlich- und Überräumlichkeit auf – vor allem hinsichtlich dessen, was Gewalt anrichtet und wie Gesellschaften damit umgehen. Was das bedeutet, zeigen die Forschungen von Katja Seidel zu internationalen Gerichtsbarkeiten. In ihren Forschungen untersucht sie die Rolle transnationaler Gerichtsverfahren in Bezug auf die Gestaltung von Gerechtigkeit und einem kollektiven Gedächtnis nach der Erfahrung von Massengewalt. Es geht dabei zum einen um das danach, also die Einordnung, das Überleben einer Gesellschaft nach Ereignissen monströser, zerstörerischer Gewalt. Zum anderen geht es um das woanders, nämlich die Möglichkeit von Gerichtsbarkeit außerhalb des Landes, vor allem dann, wenn die Justiz im eigenen Land versagt.[ix]
Methodische und ethische Herausforderungen der Gewaltforschung
Allein diese Perspektiven zeigen, wie vielfältig, ambivalent und analytisch herausfordernd Gewalt als Forschungsgegenstand ist – und wie sehr ihre Untersuchung uns als Forschende in methodisch, ethische und politische Spannungsfelder führt. Gerade weil Gewalt niemals nur Objekt der Analyse ist, sondern immer auch Teil unserer Forschungssituationen, unserer Positionierungen und unserer sozialen Beziehungen im Feld, erfordert ihre Erforschung eine besondere Sensibilität, Reflexion und analytische Distanznahme. Vor allem bei Forschungen in politisch sensiblen oder ethisch herausfordernden Kontexten sind Wissenschaftler:innen mit komplexen Dilemmata konfrontiert, die methodische und ethische Fragen aufwerfen und einen sicheren Raum brauchen, in dem diese offen diskutiert sowie Probleme und Belastungen angesprochen werden können. Ein solches Angebot machte der Workshop „Forschen in politisch wie forschungsethisch brisanten Feldern“, der in Anlehnung an die AG Forschung im Konflikt und im Anschluss an den FSP-Tag einen interdisziplinären Rahmen für Dialog, Austausch und methodische Reflexion für empirisch und ethnografisch Forschende in politisch wie forschungsethisch brisanten Feldern bot. Der intensive Austausch dort, wie auch der am FSP-Tag hat gezeigt, dass gerade die Vielfalt der Zugänge und Perspektiven neue Einsichten und fruchtbare Diskussionen ermöglicht.
Gewalt zu erforschen bedeutet, sich einem Phänomen zu nähern, das gleichzeitig alltäglich wie außeralltäglich ist, faszinierend und abstoßend, gegenwärtig und vergangen – und das auch die Forschenden selbst affizieren, aufwühlen und sogar schädigen kann. Räume des kritischen Austauschs und einer methodischen Reflexion sind daher notwendig, um verantwortungsvolle Gewaltforschung zu ermöglichen und sich der Gewalt nüchtern, analytisch klar und forschungsethisch angemessen zu begegnen.
Biographische Notiz:
Dr. Stephanie Schmidt ist Kulturanthropologin und promovierte 2021 an der Universität Innsbruck in Europäischer Ethnologie mit einer Arbeit zu „Affekt und Polizei. Eine Ethnografie der Wut in der exekutiven Gewaltarbeit".
Seit Mai 2022 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg im Forschungsverbund „Meaningful Human Control. Autonome Waffensysteme zwischen Regulation und Reflexion (MEHUCO)" zu Künstlicher Intelligenz, menschlichem Sinnverstehen, Recht und Autonomen Waffensystemen. Seit Februar 2025 leitet sie zusätzlich ein Forschungsprojekt zu sozialen Konflikten um KI-gestützte Sicherheitstechnologien.
Sie forscht zu Gewaltarbeit (insbesondere Polizei und Militär), rechtsanthropologischen Fragestellungen des Völkerrechts sowie Emotionspraktiken. Seit 2023 ist sie assoziiert im Forschungszusammenhang „Kulturen des Konflikts" an der Leuphana Universität Lüneburg, wo sie die „AG Forschung im Konflikt" gründete, die forschungsethische Fragestellungen in konfliktiven Feldern behandelt.
________________
[i] Vgl. Näser-Lather, Marion (2019): Das Ziel bekämpfen. Der Vorgang des Tötens und seine Diskursivierung in der Bundeswehr. In: kuckuck 1. Sonderheft “Töten”, S. 20-24.
[ii] Marion Näser-Lather: Tremendum et fascinosum. Versuch einer Annäherung an die Ambivalenzen gewaltförmiger Praktiken, auf: https://www.uibk.ac.at/de/fsp-kultur/activities/fsp-tage/fsp-tag-gewalt-und-konfliktforschung/
[iii] Ebd.
[iv] Hausmair, Barbara: Überlegungen zur Archäologie moderner Massengewalt: Motivationen, Themen, Herausforderungen, auf: https://www.uibk.ac.at/de/fsp-kultur/activities/fsp-tage/fsp-tag-gewalt-und-konfliktforschung/
[v] Seidel, Katja: History on Trial. On the Role of Courts as Agents for Justice and Memory. Some Prompts for Critical Analysis, auf: https://www.uibk.ac.at/de/fsp-kultur/activities/fsp-tage/fsp-tag-gewalt-und-konfliktforschung/, ähnliches hat auch
[i] Näser-Lather, Marion/Schmidt, Stephanie (Im Erscheinen): Gewalt als Arbeit. Forschungsethische Herausforderungen in gewaltvollen Feldern.
[ii] Hoebel, Thomas/Knöbl, Wolfgang (2019): Gewalt erklären! Plädoyer für eine entdeckende Prozesssoziologie, Hamburg: Hamburger Edition, S. 8.
[iii] Hauffe, Tobias (2025): Die Leere im Zentrum der Tat. Eine Soziologie unvermittelter Gewalt, S. 8.
[iv] Ebd. S. 13
[v] Vgl. Näser-Lather, Marion (2019): Das Ziel bekämpfen. Der Vorgang des Tötens und seine Diskursivierung in der Bundeswehr. In: kuckuck 1. Sonderheft “Töten”, S. 20-24.
[vi] Marion Näser-Lather: Tremendum et fascinosum. Versuch einer Annäherung an die Ambivalenzen gewaltförmiger Praktiken, auf: https://www.uibk.ac.at/de/fsp-kultur/activities/fsp-tage/fsp-tag-gewalt-und-konfliktforschung/
[vii] Ebd.
[viii] Hausmair, Barbara: Überlegungen zur Archäologie moderner Massengewalt: Motivationen, Themen, Herausforderungen, auf: https://www.uibk.ac.at/de/fsp-kultur/activities/fsp-tage/fsp-tag-gewalt-und-konfliktforschung/
[ix] Seidel, Katja: History on Trial. On the Role of Courts as Agents for Justice and Memory. Some Prompts for Critical Analysis, auf: https://www.uibk.ac.at/de/fsp-kultur/activities/fsp-tage/fsp-tag-gewalt-und-konfliktforschung/,
