Hoteltexte aus der Slavia und ihre raum-zeitlichen Erzählmuster

Yana Lyapova

 

Das Hotel ist ein beliebter Handlungsort literarischer Texte, der „großes narratives Potenzial birgt“ (Wichard). Diese Feststellung kann mit einer Vielzahl an Werken belegt werden, die das Hotel oder seine räumlichen Abwandlungen Gasthaus, Sanatorium, Grand Hotel etc. als Schauplatz quer durch verschiedene nationalliterarische Kanons etabliert haben. Die bemerkenswerte Flexibilität und Verwandlungspotenz des Schauplatzes Hotel lässt sich auch anhand der breiten Genre- und Gattungsvielfalt der literarischen Texte nachzeichnen. Die Arbeitshypothese meiner Dissertation lautet wie folgt: Hoteltexte bespielen nicht lediglich ihren Schauplatz, sondern entfalten räumlich-narrative, um die Hotelarchitektur und ihre zeitlich sich wandelnde Funktion innerhalb der Gesellschaft aufgebaute Erzählschemata. Die Arbeit zielt darauf ab, die räumliche Organisation der Narration in Hoteltexten aufzuzeigen und in zeitlich lokalisierbare Kategorien von Erzählschemata einzuordnen. Zu diesem Zweck wird die These aufgestellt, dass das erzählte Hotel einen Verwandlungsraum darstellt, der in unterschiedliche räumliche Denkfiguren überführt werden kann, die das Erzählschema lenken. Das Hotel ist laut meiner These also nicht nur ein Lokus, sondern auch ein Modus der Narration und liefert eine komplexe Antwort auf die Frage nach der Rolle und Funktion eines Schauplatzes innerhalb der erzählten Handlung. Dieser Betrachtungsansatz speist sich aus Untersuchungen zur literarischen Topologie, semiotischen Ansätzen wie dem Chronotopos von Michail Bachtin, der Semiosphäre von Jurij Lotman sowie neueren Studien zu „ludisch-räumlichen“ (Dettke/Heyne) Texten, die an der Schnittstelle zwischen Raum- und Spieltheorie arbeiten. Die räumlichen Denkfiguren, die eine Entwicklung im Erzählschema der Hoteltexte nachzeichnen und lose mit zeitlichen Etappen korrespondieren, sollen vorläufig als „Liminal“ (Ruthner), „Labyrinth“ und „Gussform“ (Egenhofer) charakterisiert werden. Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass diese Figuren sowohl als Manifestation des Erzählschemas als auch als Semantisierung des Verwandlungsraums Hotel zu verstehen sind. Zum vorläufigen Textkorpus der Dissertation gehören literarische Texte, hauptsächlich Romane und Erzählungen, die eine Zeitspanne von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zur zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts und sechs slawische Sprachen umfassen. Aufgrund der großen Anzahl der in Frage kommenden Werke (bisher knapp 30) wurden für die Arbeit zunächst elf Fokustexte ausgewählt, die in drei große Kapitel mit jeweils einer übergeordneten räumlichen Denkfigur unterteilt werden und in dieser Teilung sowohl den paradigmatischen Wechsel des Erzählschemas stützen als auch Variationsmöglichkeiten desselben anschaulich machen.

Nach oben scrollen