Migrant_innen-Vereinigungen

von Kurt Gritsch und Julia Tapfer

Südtirol ist als nördlichste Provinz Italiens kein klassisches Einwanderungsland. Während im benachbarten Österreich bereits Anfang der 1960er-Jahre nationale Anwerbeabkommen mit der Türkei und Jugoslawien abgeschlossen wurden, war Italien – und so auch Südtirol – noch über Jahrzehnte vor allem ein Abwanderungsland. Einwanderung nahm in Südtirol erst Ende der 1980er-Jahre langsam Fahrt auf. Diese im Vergleich mit seinen nördlichen Nachbarn verspätete Entwicklung wirkt sich bis heute auf die Migrationslandschaft aus.

Der Forschungsgegenstand

Dieser Forschungsschwerpunkt innerhalb der Projektes „(Arbeits-)Migration in Südtirol seit dem Zweiten Autonomiestatut“ setzt Vereinigungen und Vereine von Migrant_innen in den Fokus. Kurt Gritsch und Julia Tapfer haben sich diesem bisher kaum erforschten Teilgebiet Südtiroler Migration mit der Hilfe des Sozialpsychologen Fernando Biague genähert. Erst durch die Kenntnisse der Südtiroler Migrationslandschaft von Biague, der selbst aus Guinea Bissau stammt, war es möglich, Kontakt zu über 40 Zeitzeug_innen herzustellen und mit ihnen Interviews zu führen.

Das Projektteam klassifizierte die Vereinigungen in Vereine für Migrantinnen und Migranten, die aus der Mehrheitsgesellschaft entstanden sind und sich des Themas Migration annahmen (z. B. die Caritas), und Vereine von Migrantinnen und Migranten, die Zugewanderte gegründet hatten und deren Mitglieder vorwiegend selbst nach Südtirol migriert waren. Diese Klassifizierung ist allerdings etwas starr und nicht auf alle Zusammenschlüsse anwendbar, da es auch hybride Vereinsformen gibt, die etwa von autochthonen Südtiroler_innen gegründet wurden, aber die als Mitglieder sowohl Einheimische als auch Migrant_innen führen.

Quellen und Methoden

Anhand der generierten digitalen Oral-History-Videodokumente, systematischer Durchsicht der Vereinsregister der größten Gemeinden des Landes sowie der Sammlung und Archivierung von vereinzelt vorhandenen Text- und Bildquellen konnte das bis dato umfassendste Netzwerk Südtiroler Migrant_innen-Vereinigungen gezeichnet werden. Die Liste der in Südtirol tätigen Vereinigungen umfasst mittlerweile beinahe 100 Einträge − dazu ist anzumerken, dass die Vereinslandschaft in Bezug auf Migration sehr schnelllebig ist und vielen raschen Veränderungen unterliegt. Eine statische Liste kann diesen Veränderungen kaum gerecht werden − neu gegründete Vereinigungen sind vielleicht noch nicht aufgenommen worden, einige der älteren Vereine existieren vielleicht schon nicht mehr. Nichtsdestotrotz ist diese Liste die umfassendste derzeit bestehende.

Forschungsergebnisse

Die Südtiroler Migrationsnetzwerke zeichnen sich in besonderem Maße durch ihre Kleinteiligkeit aus: Um die 100 – in unterschiedlichem Maße aktive und in ihrer Größe stark variierende – Vereinigungen agieren in einem relativ kleinen Raum, der sich auf die Städte und insbesondere auf die Hauptstadt Bozen konzentriert. Weitere Bezugspunkte, die im Zuge der Forschung herausgearbeitet werden konnten, sind etwa die Referenzsprache Italienisch, die Einbindung von autochthonen Südtiroler_innen in die Vereinigungen sowie thematische Zielsetzungen der Vereine, aber auch ihre Vereinsstrukturen. Neben dem etischen Zugang wird anhand der Oral-History-Quellen auch die emische Forschungsperspektive abgedeckt: Migrant_innen in Südtirol kommen selbst zu Wort und geben bisher noch nicht dokumentierte Einblicke in ihren Verein.

Im Konkreten ergab die statistische Auswertung von 29 Vereinigungen von Migrant_innen folgende Ergebnisse:

  • Die allermeisten Migrant_innenvereinigungen agieren in einem relativ kleinen Raum, der sich auf die Hauptstadt Bozen (62,1 Prozent) sowie auf die Städte Brixen (17,25 Prozent) und Meran (10,3 Prozent) konzentriert. Außerhalb der urbanen Zentren gelang eine Detailanalyse nur noch für die Vereinigung Marieta aus Mühlbach und die 2010 schon wieder aufgelöste Organisation ZuHaCa aus dem Vinschgau.
  • Rund ein Drittel (34,5 Prozent) stellen ethnonational ausgerichtete Organisationen, d. h. es handelt sich um Vereinigungen, die sich ausschließlich an Menschen aus demselben Herkunftsland wenden.
  • 31 Prozent entfällt auf interkulturelle Vereinigungen, die sich an Zugewanderte aus aller Welt richten und sich in erster Linie als Organisation definieren, deren Ziel eine bessere Unterstützung von Eingewanderten einerseits und eine gelungene Integration in die Arbeits- und Lebenswelt Südtirols andererseits ist.
  • Sechs der 29 untersuchten Selbstvereinigungen (20,7 Prozent) sind religiöse Vereine, wie z. B. das Centro Islamico in Bozen, oder Organisationen, deren Hauptaufgabenbereich trotz ethnonationaler Bezeichnung religiös definiert ist (wie die Comunità Romena).
  • Vier der untersuchten Organisationen (13,8 Prozent) von Eingewanderten sind Frauenvereinigungen.
  • Die meisten der untersuchten Organisationen bedienen sich der Referenzsprache Italienisch. 24 von 29 Interviews, also mehr als vier Fünftel (82,75 Prozent), wurden auf Italienisch geführt.

(Die Forschungsergebnisse im Detail finden sich in den Beiträgen von Kurt Gritsch und Julia Tapfer im Sammelband: Eva Pfanzelter/Dirk Rupnow, einheimisch – zweiheimisch – mehrheimisch. Geschichte(n) der neuen Migration in Südtirol. Bozen 2017.) 

 

Beim Österreichischen Historikertag 2015 in Linz konnte das Projektteam seine Arbeit anhand einer Posterpräsentation vorstellen. Das Poster liefert einen Überblick über das Forschungsvorhaben

Im Zuge der Forschung von Kurt Gritsch und Julia Tapfer wurde eine Liste mit den Namen aller Migrant_innen-Vereinen erstellt, die das Projektteam bei der Recherche ausfindig machen konnte. Beinahe 100 Vereinigungen konnten bisher verzeichnet werden. Diese Auflistung von Migrant_innen-Vereinen in Südtirol ist die umfassendste und aktuellste, die derzeit existiert. Dennoch kann sie nicht als vollständig betrachtet werden, da sich die Migrationsnetzwerke im ständigen Wandel befinden. Manche der verzeichneten Vereine mögen vielleicht bereits wieder inaktiv sein, andere konnten auch durch gewissenhafte Recherche noch nicht aufgespürt werden.

Auflistung der Südtiroler Migrant_innen-Vereinigungen, Stand: Jänner 2017

Interviews mit den Vereinen

Mit den Vertreterinnen und Vertretern folgender Organisationen aus der Mehrheitsgesellschaft wurden Videointerviews geführt. Sie sind alle (bis auf das Interview mit Edina Pusztai) im Migrationsarchiv in voller Länge abspielbar und nach Schlagworten durchsuchbar (diese Funktion ist derzeit aus technischen Gründen nicht verfügbar):

  • Haus der Solidarität (Alexander Nitz)
  • Caritas (Direktor Franz Kripp, Danilo Tucconi von der Erstaufnahmestelle Migrantes in Bozen, Edina Pusztai von der Migrant_innenberatung Input in Bruneck)

Mit folgenden Selbstvereinigungen von Migrant_innen wurden Videointerviews geführt, deren Aufzeichnungen ebenfalls im Migrationsarchiv zu finden sind. (Kurzbeschreibungen der Vereine erhalten Sie mit einem Klick auf den Vereinsnamen - diese Funktion ist derzeit aus technischen Gründen nicht verfügbar):

  • Ala Incas (associazione latino americana)
  • Arbëria (associazione panalbanese)
  • Armonia Latina
  • Auxforce
  • Babagurgur
  • Bangladesh Bozen
  • Bangladesh Brixen
  • Centro culturale islamico di Bolzano (Il dialogo)
  • Centro di Ricerca e Formazione sull’Intercultura
  • Rumänische Gemeinde
  • Cooperativa Xenia
  • Dardania
  • Donne Nissá Frauen
  • Famiglie Magrebine
  • Giant-Bi
  • Impronta di Donna
  • Interkult
  • Kaleidoscopio
  • Marieta
  • Marocco Aaloi
  • Minhaj Ul Quran International – Brixen
  • Nelson Mandela
  • Pace Bolzano (Associazione culturale la Pace)
  • Rete dei Diritti dei Senza Voce
  • Rus’
  • Soniashnyck
  • Trait d’Union
  • ZuHaCa
Völkerfestival in Bozen

In beinahe allen Interviews mit Bozner Migrant_innen-Vereinigungen wurde als Form der Zusammenarbeit untereinander das Völkerfestival (festa dei popoli) in Bozen genannt. Seit 2011 findet dieses im Frühsommer auf den Bozner Talferwiesen statt. An verschiedenen Ständen präsentieren sich die Migrant_innen-Vereinigungen aus Bozen, Speisen aus den Heimatländern der Migrant_innen werden angeboten und auf einer Bühne tragen Gruppen traditionelle Tänze – meist in traditioneller Kleidung – vor.

Die Rumänische Gemeinde beim Völkerfestival 2015:

Völkerfestival Tanz 2015

Das Völkerfestival ist aus den Festivals zum „Welttag der Migranten und Flüchtlinge“ entstanden, die in den Jahren 2007 bis 2010 jeweils im Jänner stattfanden. Bereits in diesen Anfangsjahren wurden von einigen Gruppen traditionelle Tänze vorgeführt – dieses Element der Veranstaltung blieb über die Jahre hinweg erhalten. Durch den Erfolg dieser ersten Veranstaltungen und die Zusammenarbeit einiger Migrant_innen-Vereinigungen wurde das Fest in den Jahren 2008 und 2009 auf dem Bozner Gerichtsplatz veranstaltet. 2011 schließlich fand das Völkerfestival, das Pendants in Verona und Trient als Vorbild hatte, zum ersten Mal auf den Bozner Talferwiesen statt. Im Jahr 2015 feierte es bereits seine fünfte Auflage, aus den anfangs 15 mitwirkenden Nationen wurden 26. Für das Jahr 2016 wurde das Völkerfestival aus „verschiedenen wichtigen Gründen“ abgesagt, wie auf der Webseitenachzulesen ist. Nach jetzigem Stand ist eine Fortführung der Veranstaltung im Jahr 2017 geplant.

Auf dem Verkaufsstand präsentieren die Frauen ihre selbst gebastelten kolumbianischen Puppen.

Ein unvollständiges Bild der Südtiroler Migrationsnetzwerke

Auf dem Fest wird interkulturelle Begegnung ermöglicht, allerdings erscheint in der Praxis das Auftreten eher als ein Nebeneinander, weniger als ein Zusammenspiel der Migrant_innen verschiedener Nationalitäten. Dieser Anschein wird auch durch die streng nach Vereinigung und Nationen abgetrennten Verkaufs- bzw. Informationsstände und Darbietungen auf der Bühne verstärkt. Auf dem Völkerfestival wirken viele Vereinigungen wie reine Folkloregruppen – dies ist aber meist nur ein Tätigkeitsfeld unter vielen, wie die Interviews mit den Vorsitzenden der Vereine erkennen ließen. Das Bild der Südtiroler Migrationsnetzwerke, das bisher auf dem Völkerfestival gezeichnet wurde, ist daher ein unvollständiges. Nichtsdestotrotz soll die Bedeutung des Völkerfestivals insbesondere als Ort des Kennenlernens und der Kontaktaufnahme nicht geschmälert werden.

 

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Institut für Zeitgeschichte

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