Medienanalyse

Migration und Flucht sind heute alltägliche Themen, sowohl in den „sozialen“ Medien als auch in der Südtiroler Tagespresse. Dies war aber nicht immer der Fall. Vor 1990 wurde kaum über Migrant_innen berichtet, verständlicherweise, denn im Jahr 1990 lebten nicht mehr als 5.000 ausländische Staatsbürger_innen in ganz Südtirol (zum Vergleich: 2014 waren es bereits 45.469). Seit 1990/1991 nimmt das Sprechen über Zugewanderte und Geflüchtete in den Südtiroler Tageszeitungen jedoch rasant zu und auch im Internet ist das Thema Migration längst angekommen. In anhaltenden Diskursen zu Zuwanderung und Flucht und in der nach wie vor unreflektierten Verwendung von Begriffen, Zuschreibungen und Argumentationen wird die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft, Politik und Medien sichtbar.


Ob nun Mainstream oder soziale Netzwerke, Eva Pfanzelter und Sarah Oberbichler legen in ihren Forschungsschwerpunkte offen, wie Migration und Flucht in den Medien als Bedrohung dargestellt wird und wie Vorurteile und negative Zuschreibungen zwischen Gesellschaft, Politik und Medien weitergereicht werden. Eva Pfanzelter analysiert dabei deutschprachige Facebook-Gruppen aus Südtirol, die das Thema Migration zum Gegenstand haben und Sarah Oberbichler setzt sich mit der Wahrnehmung von Migration in den beiden Tageszeitungen „Alto Adige“ und „Dolomiten“ auseinander, die fraglos zu den wichtigsten Nachrichtenlieferanten in Südtirol gehören.

 

von Sarah Oberbichler

Dissertationsprojekt: Wahrnehmung von Migration in den Tageszeitungen

Minderheiten – den Deutschsprachigen, den mit ihnen verbundenen Ladinischsprachigen und den Italienischsprachigen – gegenüber. Mittels quantitativer und qualitativer Medienanalyse (Argumentationsanalyse) wurden die deutschsprachige „Dolomiten“ und die italienischsprachige „Alto Adige“, (beide repräsentieren die jeweilige Sprachgruppe) nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Argumentation über Migration und Migrant_innen untersucht. Die durch das Projekt entstandene Dissertation gibt Aufschluss, wie  Migrant_innen in diesem besonderen Setting repräsentiert und wahrgenommen werden und ob ein differenzierter Diskurs beider Sprachgruppen vorhanden ist. Ergänzt wird die Medienanalyse durch die Auswertung von Archivmaterial, Landtagsprotokollen sowie statistischen Daten. Dadurch ist ein kontextueller Rahmen zu den einzelnen Diskursen geschaffen worden, wodurch erstmalig historische Einblicke in die Migrationsgeschichte Südtirols gegeben werden können.

Die Forschungsfragen

  • Welchen Stellenwert nehmen die Migrant_innen und die dadurch gewachsenen „neuen“ Minderheiten in Südtirol, als einem „von Minderheiten bewohnten Gebiet“, ein? Welcher Raum wird ihnen zugesprochen? Wie werden sie von deutsch- und ladinischsprachiger Seite unterschiedlich wahrgenommen? Wie werden sie thematisiert, politisiert, instrumentalisiert?
  • Ist ein differenzierter Diskurs vorhanden und wenn ja, wie sieht dieser aus? Inwiefern wird in den Berichterstattungen eine Bedrohung des besonderen Südtirol-Modells durch die Zuwanderung ausländischer Bürger gesehen und inwieweit wird damit das etablierte Arrangement durcheinander gebracht?
  • Ab wann wird Migration ein öffentlich diskutiertes Thema und in welchem Kontext? Welche politischen und historischen Ereignisse (regional, national, international) beeinflussen die Wanderungsbewegungen?
  • Wie wirkt sich die Zuwanderung auf die ethnische Debatte in Südtirol aus? Wie wirken sich die historischen Konflikte (Italianisierung, Majorisierung) auf die Zuwanderung aus?

Der Zeitungskorpus „Migration in Südtirol“ umfasst insgesamt 19.813 ausgewählte Zeitungsartikel zum Thema Migration und Südtirol. Grundlage für den Korpus bilden die zwei auflagestärksten Tageszeitungen Südtirols, die italienischsprachige „Alto Adige“ und die deutschsprachige „Dolomiten“. Der Korpus setzt sich aus Daten aus den Jahren 1990 bis 2014 zusammen. Dieser Zeitrahmen ergibt sich durch die Tatsache, dass sich Südtirol erst in den 1990er-Jahren von einem Auswanderungsland zu einem Einwanderungsland entwickelte. 9.081 Artikel im Korpus sind der „Dolomiten“ zuzuschreiben und 10.723 Artikel der „Alto Adige“. Da die Forschungsfragen sich auf Südtirol beziehen, wurde bei der Erstellung des Datenkorpus  lediglich die regionale Berichterstattung beider Tageszeitungen berücksichtigt.

Der Korpus hätte nicht ohne die Hilfe mehrerer Institutionen und Personen erstellt werden können: Bereits digitalisierte Bestände der „Alto Adige“ wurden  freundlicherweise von der Bozner Stadtbibliothek „Cesare Battisti“ zur Verfügung gestellt, bei der Beschaffung von Textdateien der „Dolomiten“ aus dem „Dolomiten-Archiv“ der Athesia GmbH stand Armin Sparer stets zur Verfügung und die Landesbibliothek Dr. Friedrich Teßmann kooperierte bei der Digitalisierung von Teilen der „Alto Adige“.

Folgende interaktive Grafik zeigt den Zeitverlauf der Berichterstattung. Die „Dolomiten“ und die „Alto Adige“ werden dabei gegenübergestellt. Wichtige Ereignisse und Diskurse, Wahlen und Gesetze, die die Berichterstattung beider und in einzelnen Fällen auch nur einer der beiden Tagesblätter beeinflussten, werden in der interaktiven Grafik angezeigt. Um zusätzlich zu ausgewählten Zeitungsartikeln beider Tageszeitungen zu gelangen, klicken Sie auf das Feld „Zu thematisch ausgewählten Artikeln aus dem Korpus“.

Grafik aus technischen Gründen derzeit nicht aufrufbar. 

Themen, die in den 1990er-Jahren die Migrationsberichterstattung beherrschten, waren einerseits die Errichtung illegaler Barackensiedlungen in Bozen von Zugewanderten aus Nord-, Zentral- und Südafrika und andererseits die Ankunft von Flüchtlingen aus Albanien und Ex-Jugoslawien. Während die Migrant_innen in den Barackensiedlungen jedoch mit überwiegend negativen Schlagzeilen etikettiert wurden, gab es für Flüchtlinge in den 1990er-Jahren mehr Verständnis und Hilfsbereitschaft – mit Ausnahme der Roma-Flüchtlinge aus Mazedonien, die in sogenannten „Zigeunerlagern“ Unterkunft fanden. 1996 wurde das „Lager“ der Roma-Flüchtlinge am Ex-Vives Gelände in Bozen schließlich aufgelöst und die Flüchtlinge in Vahrn und Meran untergebracht – nicht ohne Protestkundgebungen durch die Bewohner der beiden Orte. Im Jahr 2002 waren Saisonarbeitskräfte aufgrund fehlender Kontingentzuweisungen ein wichtiges Gesprächsthema in Südtirol, aber lediglich die deutschsprachige „Dolomiten“ berichtete regelmäßig über die einzelnen Umstände. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die sogenannten „Gastarbeiter_innen“ in den Bereichen Tourismus und Landwirtschaft dringend gebraucht wurden, beides Sektoren, in denen vorwiegend Deutschsprachige tätig waren und sind. Die italienischsprachige Bevölkerung arbeitete und arbeitet hingegen eher in der Industrie.

Wie häufig und wann in den Tageszeitungen über Saisonarbeitskräfte oder andere „Einwanderungsgruppen“ gesprochen wurde, kann hier eingesehen werden: Einwanderungsgruppen

Debatten um Integration, Wohnbauförderung für Zugewanderte sowie Moscheebauten dominierten in den Jahren zwischen 2006 und 2009 die Migrationsberichterstattung beider Tageszeitungen. In der „Alto Adige“ führten außerdem bevorstehende Wahlen (2006: Parlamentswahl, 2008: Landtagswahl und Parlamentswahl sowie 2009: Europawahl) zu einer erhöhten Präsenz von Migrationsthemen in der Presse. In der „Dolomiten“ schien hingegen lediglich die Landtagswahl 2008 großen Einfluss auf den Umfang der Berichte zu haben. Eine Korrelation zwischen einzelnen politischen Wahlen und Nachrichteninhalten, die Migration zum Thema machten, ließ sich in den Jahren zwischen 2006 und 2009 in beiden Tageszeitungen demzufolge herstellen.

Nennung politischer Parteien im Migrationsdiskurs: Parteien

Auffällig ist zudem, dass in beiden Tageszeitungen in den Jahren 1998 (Landtagswahl) und 2002 (Bossi-Fini Gesetz) deutlich häufiger über Migrant_innen gesprochen wurde, die „illegal“ nach Südtirol kamen oder durch Südtirol reisten, als dies sonst der Fall war. Auch hier konnte ein eindeutiger Zusammenhang  zwischen einem politischen Ereignis und der Medienzuwendung hergestellt werden. Ebenfalls im Jahr 2006 (Parlamentswahl) füllten Berichterstattungen über illegal Zugewanderte die Schlagzeilen, diesmal jedoch lediglich in der „Alto Adige“. Während lokale Wahlen sich auf den Migrationsdiskurs beider Tagesblätter auswirkten, beeinflussten nationale oder europäische Wahlen vorwiegend die Nachrichteninhalte der „Alto Adige“ (2006 oder 2009) . Nicht mit regionalen bzw. nationalen Wahlen, sondern mit der Verabschiedung des Landesgesetzes „Integration ausländischer Bürgerinnen und Bürger“(aus technischen Gründen derzeit nicht aufrufbar) im Jahr 2011, hing eine erneut aufflammende Integrationsdebatte in den Jahren 2010 und 2011 zusammen. Ebenfalls wurde der Ankunft von Flüchtlingen als Folge des „Arabischen Frühlings“ große Beachtung geschenkt. Im Rahmen der hoch emotional geführten „Stopp der Gewalt„-Debatte der „Dolomiten“, die sich gegen Übergriffe von Eingewanderten richtete, wurde das Thema Migration erneut stärker aufgegriffen. Ab 2014 waren hingegen die Flüchtlinge aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten Hauptaugenmerk der Migrationsberichterstattung. Natürlich gab es auch Sachverhalte, die durchgehend eine wichtige Rolle spielten. Dazu gehörten die Frage nach der Unterbringung von Zugewanderten und Flüchtlingen sowie die Gewalt- und Kriminalitätsberichterstattung (darunter auch Illegalität): Beides Themen, denen in diesen 25 Jahren in Relation gesehen überproportional viel Raum zugesprochen wurde.

Die Auswertung der Tageszeitungen stützt sich auf geäußerte Argumente (die immer Bestandteil von Diskursen sind) und auf deren tiefensemantische Analyse. Argumentiert wird, um Meinungen zu erklären, politische Maßnahmen durchzusetzen oder Handlungen zu rechtfertigen. Die im Alltagswissen gespeicherten Muster des Argumentierens bzw. im kollektiven Gedächtnis vorhandenen Denkfiguren werden in den Medien für politische Zwecke und Intentionen eingesetzt. Da die Argumente in den Diskursen meist nicht explizit genannt werden, sondern implizit bleiben, muss das Gesagte zunächst interpretativ erschlossen werden. Dies geschieht, indem aus den impliziten Argumenten Schlussregeln, also Argumentationsmuster/Topoi abgeleitet werden. Denn verglichen werden können nicht die Argumente, sondern die Schlussregel bzw. Topoi. Diese können dann aus einer Vielzahl von Texten und aus verschiedenen Zeiträumen gegenübergestellt werden. Diese Methode der diskurshistorischen vergleichenden Argumentationsanalyse geht zurück auf den deutschen Sprachwissenschaftler Martin Wengeler.¹

Argumentationen:

„Der Staat habe Südtirol völlig unvorbereitet vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Frage Franz Pahls, ob er für künftige Flüchtlingsfälle Strukturen schaffen wolle, lehnte Durnwalder mit der Begründung ab, er wolle nicht, daß Südtirol eine Sogwirkung auf Asylanten ausübe.“
(Dolomiten 11.07.1991)

„Wenn man für diese Flüchtlinge eine Lösung gefunden
habe, könnten über Mundwerbung neue angezogen werden. Die Gemeinde solle auf einem Provisorium beharren, sagte Messner“ (Dolomiten 10.05.1996)

„Südtirol darf kein Schlaraffenland für Zuwanderer werden und auch kein Elderado für Wirtschaftsflüchtlinge aus Nicht-EU-Ländern, denn so etwas spricht sich sehr schnell herum.“ (Dolomiten/Leserbrief 18.07.2007)

Argumentationsmuster/Topos:

Weil Großzügigkeit gegenüber Migrant_innen und Flüchtlingen die Zuwanderung verstärkt, sind Handlungen zu unterlassen, die Südtirol zu „attraktiv“ für Zuwanderung machen.

In Südtirol stoßen wir auf die Tatsache, dass die zwei großen Tagesblätter in zwei unterschiedlichen Sprachen berichten und auch ihre jeweilige Sprachgruppe und Kultur repräsentieren. Auch deshalb ist die Argumentationsanalyse besonders geeignet, da die Lexik nicht im Vordergrund steht. Bei der Gegenüberstellung der „Alto Adige“ und der „Dolomiten“ kann zwar nicht von einem internationalen Vergleich gesprochen werden, trotzdem haben wir es mit zwei unterschiedlichen Kulturen zu tun, die zwei unterschiedliche Sprachen sprechen und eine Art Parallelgemeinschaft führen. Dieser interlinguale und doch intranationale Aspekt ist für die Auswertung nicht unbedeutend, da auch die Denkmuster/das kulturelle Gedächtnis kein Gemeinsames sind. Die unterschiedlichen Sprachgruppen argumentieren auch unterschiedlich, diese Divergenz wird besonders deutlich, wenn es prototypische Argumente gibt, die nur für eine Sprachgruppe charakteristisch sind.

¹Wengeler, Martin, Topos und Diskurs. Begründung einer argumentationsanalytischen Methode und ihre Anwendung auf den Migrationsdiskurs (1960–1985), Tübingen 2003 (Reihe Germanistische Linguistik 244)

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Institut für Zeitgeschichte

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