Das Unsichtbare sichtbar machen.
Munchs „Schrei“ als phantasma?
Elisa Losito
Welches Verständnis von phantasmen lässt sich in der symbolistischen Kunst um 1900 beobachten und wie zeigen sich diese in der künstlerischen Darstellung innerer Zustände, Erinnerungen und existenzieller Erfahrungen? Edvard Munchs „Der Schrei“ (1893) untersucht, wie die Psyche durch formale und symbolische Mittel sichtbar wird und welche Rolle das Konzept des phantasmas dabei als Bindeglied zwischen innerer Vorstellung und bildlicher Darstellung spielt.1
„Der Schrei“ zählt zu den eindrucksvollsten Bildfindungen der symbolistischen Malerei, weil es einen inneren Zustand visualisiert. Die ikonische Gestalt, auf der Brücke isoliert und verzerrt dargestellt,2 wirkt wie aus der Wirklichkeit herausgelöst. Die Landschaft – fließend, strudelnd, grell kontrastierend – spiegelt nicht den Naturraum, sondern eine affektiv aufgeladene Innenwelt. Linien, Farben und Formen verlieren ihre Stabilität und lösen ein Gefühl der Unruhe aus. Die Grenzen zwischen Subjekt und Umgebung scheinen aufgehoben.3 In dieser Durchlässigkeit entfaltet sich das Bild als phantasma – als bildgewordene Vorstellung, in der das Sichtbare das Unsichtbare berührt.
Hans Belting beschreibt die Fantasie als mentale Bildform, die zwischen Körper, Erinnerung und kulturellem Imaginären zirkuliert. Sie entsteht nicht aus der Beobachtung der Welt, sondern aus inneren Spannungen, Erfahrungen und Erinnerungsfragmenten.4 In diesem Zusammenhang lässt sich „Der Schrei“ als Verdichtung eines inneren Erlebens verstehen – nicht als Abbild eines konkreten Ereignisses, sondern als bildhafte Form eines psychischen Zustands. Bereits in „Das kranke Kind“ (1885/86)5 zeigt sich eine ähnliche Auseinandersetzung, die jedoch verhaltener erscheint. Das Motiv ist konventionell, doch die Technik nicht. Die Oberfläche wirkt skizzenhaft, aufgewühlt; die Bearbeitungsspuren verweisen auf eine emotionale Unruhe. Es handelt sich um Malerei, die nicht auf naturgetreue Wiedergabe abzielt, sondern von innen heraus Spannung erzeugt.6 Diese Tendenz zur Auflösung, angedeutet im „Kranken Kind“, wird in „Der Schrei“ konsequent weitergeführt.
Obwohl biographische Erfahrungen, wie familiäre Verluste und psychische Belastungen,7 Munchs Werk prägen, lässt sich „Der Schrei“ nicht rein autobiographisch deuten. Die dargestellte Angst steht für eine allgemeine kulturelle Erfahrung um 1900: ein Gefühl des Ordnungsverlusts angesichts säkularer und gesellschaftlicher Umbrüche. In der Moderne ersetzt Desorientierung stabile Weltdeutungen,8 die Munch durch räumliche Auflösung, formale Instabilität und expressive Übersteigerung zeigt. Diese Unsicherheit spiegelt, im Sinne von Friedrich Nietzsches „Tod Gottes“, ein metaphysisches Vakuum wider, in dem alte Deutungsmuster ihre Gültigkeit verlieren. Die offene Bildstruktur symbolisiert somit den Verlust verlässlicher Orientierung in Denken und Wahrnehmung der Zeit.9
Auch die frühe Psychoanalyse bietet eine hilfreiche Perspektive zur Deutung von Munchs Werk, v.a. im Kontext seiner vermuteten Neurasthenie Erkrankung.10 Sigmund Freud beschreibt Träume als symbolisch codierte Ausdrucksformen des Unbewussten11 – eine Struktur, die sich auch in Munchs „Der Schrei“ erkennen lässt. Es vermittelt innere Zustände nicht über klare Inhalte, sondern durch Linien, Farben und Gesten.12 In diesem Sinne fungiert das Bild als phantasmatisches Bindeglied zwischen subjektiver Vorstellung und sichtbarer Darstellung, indem es psychische Erfahrungen als bildhafte phantasmen sichtbar macht. phantasmen lassen die Grenzen zwischen innerer und äußerer Welt verschmelzen und ziehen somit auch die Betrachter*innen mit in das Erleben der Angst.
[1] Überblicksartig und grundlegend zum Begriff der Fantasie in der Kunst, vgl. Hans Belting, Über Phantasie und Kunst, in: Venanz Schubert (Hg.), Gedächtnis und Phantasie, St. Ottilien 1997, 183-203, bes. 183f.
[2] In der Forschung wird die abstrahierte Darstellung des Kopfes in Verbindung mit der expressiven Handhaltung auf mögliche Anleihen bei peruanischen Mumien aus dem Pariser Musée de l`Homme gedeutet, vgl. Ulrich Bischoff, Edward Munch. 1863 – 1944. Bilder vom Leben und vom Tod, Köln 2016, 56. Die maskenhafte Physiognomie wiederum evoziert Assoziationen zu den grotesken Gestalten in den Gemälden James Ensors – eines Zeitgenossen Munchs, der dem Symbolismus zugerechnet wird und als „Maler der Masken“ bekannt ist, vgl. G. Hayden Huntley, Munch and Ensor, Gazette des Beaux-Arts, 6/24 (1943), 363-374. 2021 widmet sich auch eine Ausstellung der Kunsthalle Mannheim dem Werk Ensors, vgl. Inge Herold / Johan Holten (Hg.), James Ensor, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Mannheim, Berlin / München 2021; sowie https://www.kuma.art/de/ausstellungen/james-ensor (5.4.2025).
[3] Jens Thiis, Edvard Munch, Berlin 1934, 6.
[4] Belting 1997 (wie Anm. 1), 183 f. Laut Belting triumphiere die Übertragung subjektiver Wahrnehmungen der Phantasie in Bilder über jede realistische Naturnachahmung: Vgl. Belting 1997 (wie Anm. 1), 199.
[5] Das Motiv des kranken Kindes findet sich auch in dem Werk „Krankes Mädchen“ von Kristian Krohg, einem der Lehrer Munchs, vgl. hierbei Matthias Arnold, Edvard Munch: mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1986, 31.
[6] Bischoff 2016 (wie Anm. 2), 10-12. Laut Munch spiegelt das Bild seine Kindheit und sein Zuhause, geprägt von Krankheit und dem Tod, wider. Das Kind stellt vermutlich Munchs früh verstorbene Schwester dar: Vgl. Arnold 1986 (wie Anm. 5), 21.
[7] Edward Munchs Mutter und seine Schwester starben in frühem Alter an Tuberkulose, was ihn stark belastete. Zudem wurde er durch die pietistische Erziehung seines religiösen Vaters sehr beeinflusst: Vgl. Arnold 1986 (wie Anm. 5), 13 ff.
[8] „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!(…) Das heiligste und das mächtigste was die Welt besaß, es ist unter unseren Messern verblutet“, Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Alfred Baeumler (Hg.), Friedrich Nietzsche Werke, Bd. 3, Leipzig 1930, 141. Indem er von einem „wir“ spricht, deutet er an, dass der „Tod Gottes“ der gesamten modernen Gesellschaft zuzuschreiben ist. Die Leser*innen selbst werden mitverantwortlich gemacht für den Zusammenbruch traditioneller Werte und Normen. Der einzelne Mensch ist einer Welt ohne feste Normen und Moral ausgesetzt, was eine existenzielle Verzweiflung hervorruft. Munchs Kunst beinhaltet viele existenzielle Motive und kann somit als Vorläufer des Existenzialismus gesehen werden: Vgl. Arnold 1986 (wie Anm. 5), 47.
[9] Munch kannte Nietzsche nicht persönlich, jedoch war er ein begeisterter Leser Nietzsches und malte 1906 ein überlebensgroßes Bild von ihm: Vgl. Arnold 1986 (wie Anm. 5), 77 f.
[10] Der norwegische Kunstkritiker Andreas schrieb Munch – wie auch anderen Künstler*innen des Symbolismus – die seinerzeit vielzitierte „Modekrankheit“ der Neurasthenie zu – eine nervliche Erschöpfungskrankheit. Munchs Angst steht symptomatisch für das psychische Leid der nervösen Moderne im Symbolismus. Zur weiteren Auseinandersetzung, vgl. Felix Krämer, Das unheimliche Heim: Zur Interieurmalerei um 1900, Köln 2007, 80 ff.
[11] Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Über den Traum (Nachdruck der Ausgabe von 1942), in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke: chronologisch geordnet: 2/3, Frankfurt am Main 1999, 345. Freud erklärt, dass das Unbewusste ein eigenständiger Bereich ist, der verdrängte Inhalte speichert. Diese können jedoch im Traum oder auch in künstlerischen Darstellungen als phantasmen wieder auftreten: Vgl. Freud 1999 (wie Anm. 11), 614ff.
[12] Freuds zentrales Werk „die Traumdeutung“ wurde 1900 veröffentlicht, deswegen konnte sich Munch nicht direkt auf ihn beziehen: Vgl. Freud 1999 (wie Anm. 11). Munch geht in seinen Werken teilweise noch weiter als Freud, in dem er nicht nur auf das Unbewusste anspielt, sondern auch das Wirken übersinnlicher Kräfte einbezieht. Von besonderer Bedeutung war dabei wahrscheinlich Munchs persönliche Verbindung zum Vikar E.F.B. Horn, der zum Spiritualismus publizierte: Vgl. Krämer 2007 (wie Anm. 10), 90.
Bibliographie
Matthias Arnold, Edvard Munch: mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1986.
Hans Belting, Über Phantasie und Kunst, in: Venanz Schubert (Hg.), Gedächtnis und Phantasie, St. Ottilien 1997, 183-203.
Hans Belting, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001.
Ulrich Bischoff, Edward Munch. 1863 – 1944. Bilder vom Leben und vom Tod, Köln 2016.
Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Über den Traum (Nachdruck der Ausgabe von 1942), in: Anna Freud (Hg.), Gesammelte Werke: chronologisch geordnet: 2/3, Frankfurt am Main 1999.
Inge Herold / Johan Holten (Hg.), James Ensor, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Mannheim, Berlin / München 2021.
Felix Krämer, Das unheimliche Heim: Zur Interierumalerei um 1900, Köln 2007.
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Alfred Baeumler (Hg.), Friedrich Nietzsche Werke, Bd. 3, Leipzig 1930.
Joachim Seidel, Edvard Munch, in: Maler: Leben, Werk und ihre Zeit 74 (1978), 2337-2368.
Jens Thiis, Edvard Munch, Berlin 1934.