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Wer sein, als Autorin - wer sein, als (lesbische) Frau?

[31.01.2023] María Elena Walsh und Gloria Fuertes haben in Argentinien bzw. Spanien als Kinderbuchautorinnen Kultstatus. Der Versuch, die Autorinnen auch als lesbisch-queere Dichterinnen zu lesen, erweitert den Blick auf diese herausragenden Figuren und offenbart auch die komplexen konzeptuellen Verflechtungen zwischen kulturellen Vorstellungen von Autor*schaft und Geschlecht.

Während meines Studiums in Madrid machte ich in Literaturseminaren erste Bekanntschaft mit den subversiven, spielerischen Gedichten von María Elena Walsh (Argentinien, 1930-2011) und Gloria Fuertes (Spanien, 1917-1998). Mich begeisterten ihre schlichte, einfache Sprache, die unprätentiöse Form, ihr feiner Humor, mit dem sie gehaltvolle und feministische Gesellschaftskritik durch scheinbar harmlose Verse und Sprachspiele tarnten und trotz Zensur veröffentlichen konnten. In ihren persönlichen Biographien brachen die beiden Autorinnen – beide lesbisch, unverheiratet, kinderlos – mit den patriarchalen und heteronormativen Konventionen ihrer Zeit. Umso erstaunlicher schien es mir immer, dass ihr Werk nicht nur von der Literaturwissenschaft kaum beachtet worden war, sondern die Autorinnen auch innerhalb von feministischen, queeren und LGTBQI+-Communitites bis heute selten als Vorbilder oder Identifikationsfiguren wahrgenommen werden. Ein Grund dafür liegt bestimmt in ihrem Kultstatus als Kinderbuchautorinnen: In Spanien bzw. Argentinien haben Fuertes und Walsh, ihre Kinderbücher und -lieder, ihre Auftritte in Radio und Fernsehen, die Kindheit ganzer Generationen geprägt.

Beide Autorinnen lebten von ihrem Image als Kinderbuchautorin, und auch aufgrund der repressiven politischen und gesellschaftlichen Lage – Spanien wurde bis 1975 von der faschistischen Franco-Diktatur regiert, in Argentinien endete die letzte mehrerer Diktaturen 1983 – wäre es undenkbar gewesen, sich in der Öffentlichkeit als lesbisch zu outen: Die eigene queere Identität also von ihrer öffentlichen Figur auszuschließen, war für beide Autorinnen in ihrem jeweiligen Kontext eine Frage des Überlebens.

Diese Beobachtungen haben mein Interesse an den Autorinnen als Figuren geweckt und die Frage aufgeworfen, welche Bilder, Legenden und Erzählungen von diesen Autorinnenfiguren in der Kultur zirkulieren, und mit welchen Strategien sie sich der Öffentlichkeit (nicht) zeigen: Wie präsentieren sie sich den Leser:innen in ihren Gedichten, in öffentlichen Auftritten oder Interviews? Wie versuchen sie, sich auch in der „hohen“ Literatur zu positionieren und ernstgenommen zu werden? Welche Bilder erschreiben sie von sich selbst, als Dichterin und als (lesbische) Frau? Wie formt also das queere Leben und Begehren diese Autorinnenfiguren mit, ohne explizit so benannt zu werden?

Während in der Literaturtheorie eine eindeutige Trennung zwischen Autor:in und Werk, zwischen außertextuellem Leben und innertextueller Sprechinstanz gelehrt wird, verschmelzen in der modernen Autorinnenfigur, die auch als Person in der Öffentlichkeit steht, unweigerlich zwei Fragen: „Wer sein, als Autorin?“ und „Wer sein, als (lesbische) Frau?“ Eine große Herausforderung meines Projektes bestand von Anfang an darin, literaturwissenschaftlich „saubere“ Methoden und Begriffe zu entwickeln, die es erlauben, die Autorinnenfigur als Zusammenspiel dieser beiden Ebenen zu fassen. In meinen Textanalysen frage ich so einerseits immer danach, welches Bild als Dichterin die Autorinnen von sich geben: Woher kommt die Inspiration? In welche literarischen Traditionen schreibt sich die Autorin ein? Mit welchen Metaphern wird der kreative Schaffensprozess charakterisiert? Andererseits lenke ich den Blick darauf, welche kulturellen Vorstellungen und Bilder über Geschlecht, Weiblichkeit, Sexualität dabei gleichzeitig wirksam werden.

Bei Gloria Fuertes stellt sich das dichtende Ich zum Beispiel als einsame, zurückgezogene und inspirierte Dichterin dar – sie autorisiert sich so durch die Parallele mit dem traditionellen Dichtertypus des Genies. Der abgeschiedene Ort ist bei ihr jedoch das „Heim ohne Familie“, und in vielen Gedichten porträtiert sie sich selbstironisch als einsame und schrullige „Alte Jungfer“. Das Bild der genialen Künstlerin entsteht also erst dadurch, dass sie sich spielerisch mit Geschlechterstereotypen identifiziert, sich diese aber auch subversiv aneignet, sie neu interpretiert und in positive Selbstbeschreibungen umdeutet. Sie nutzt jene Diskurse über Weiblichkeit und Heteronormativität, die ihr als unverheirateter Frau unweigerlich zugeschrieben werden, als Rohmaterial, um sich selbst als Dichterin zu erfinden. Solche Praktiken des „working on, with and against dominant ideology“[1] beobachte ich bei beiden Autorinnen: In ihren Selbstentwürfen arbeiten sie sich regelrecht ab an verschiedensten kulturell tradierten Vorstellungen über Autorschaft und Kreativität, über Weiblichkeit, Geschlecht und Sexualität.

Mein Forschungsprojekt widmet sich diesen beiden „Fällen“[2] mit dem Ziel, ihre Funktionsweise als Autorinnen in ihrem konkreten gesellschaftlichen und politischen Kontext zu verstehen. Mir ist wichtig, zu betonen, dass es dabei nicht darum geht, allgemein und für alle Zeiten und Kontexte gültige Aussagen über „lesbisches Schreiben“ oder „queere Autorschaft“ zu treffen: Queere Leben und Identitäten können immer nur in Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren gefasst werden; Klassenzugehörigkeit, race oder Ethnizität sind nur einige davon. Ich verstehe meine Interpretationsarbeit auch nicht primär in dem Sinn, dass ich in den Texten der Autorinnen geheime lesbische „Codes“ entschlüssle und so „wahre“ Absichten der Autorinnen aufspüre – wenngleich die literaturwissenschaftliche Textanalyse immer auch dieses spannende, detektivische Moment enthält!

Den Fokus der Analyse auf die Sexualität zu legen bedeutet nicht, die Autorinnen auf ihr Frau-Sein oder Lesbisch-Sein zu reduzieren, sondern vielmehr, den Blick auf ihre Texte und Autorinnenfiguren zu erweitern: Mir geht es darum, Gloria Fuertes und María Elena Walsh aus einer queer-feministischen Perspektive heraus für ein heutiges Publikum als lesbische Dichterinnen lesbar zu machen, als Teil einer transnationalen „queer community across time“; sie also einzuschreiben in eine alternative „affective history“[3] queerer und lesbischer Leben und Existenzen. Die Kategorie der Autor:in ist für diese Herangehensweise zentral: Mein Anliegen liegt auch darin, durch die Analyse von konkreten Punkten aufzuzeigen, wie Sexismus, Heteronormativität oder Rassismus in diese Kategorie selbst eingeschrieben sind.

Die Arbeit an meinem Dissertationsprojekt begeistert mich trotz aller Schwierigkeiten, die so eine große Arbeit mit sich bringt, immer noch: Ich liebe es, mir „Nerd-Wissen“ über Gedichtformen oder Reimschemata anzueignen, tief in literarische Texte einzutauchen, sie mit zeitgenössischen literarischen Strömungen in Argentinien und Spanien in Verbindung zu bringen, sie aber auch queer zu lesen: gegen den Strich, entgegen etablierter Lektüreverfahren. Als besonders bereichernd empfinde ich dabei auch, wie die tiefgehende theoretische und methodische Auseinandersetzung meinen Blick auf die Welt schärft – etwa auf so komplexe, hochpolitische und aktuelle Fragen wie nach der Grenze zwischen Text und Leben, nach der Verantwortung von Autor:innen für ihre Werke.[4]


[1] Muñoz, José Esteban (1999): Disidentifications: queers of color and the performance of politics. University of Minnesota Press.

[2] Cróquer (2019): “Casos de autor(a): literatura, arte e histeria en América Latina”, in Adriana de Teresa Ochoa (ed.), Horizontes teóricos y críticos en torno a la figura autoral contemporánea. Universidad Nacional Autónoma de México.

[3] Dinshaw (1999): Getting Medieval: Sexualities and Communities, Pre- and Postmodern. Duke University Press.

[4] Sapiro, Gisèle (2020): Peut-on dissocier l’œuvre de l’auteur ? Seuil.

(Gabriele Hassler)


Biografische Notiz

Gabriele Hassler promoviert in Hispanistischer Literaturwissenschaft und ist Kollegiatin des Doktoratskollegs Grenzen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen in Sprache, Literatur, Medien. Von 2017 bis 2022 war sie Universitätsassistentin am Institut für Romanistik in Innsbruck. Sie ist Mitglied der Forschungsplattform Center Interdisziplinäre Geschlechterforschung Innsbruck und Sprecherin dessen Doktorand:innen-Netzwerks. Ihre Schwerpunkte in der Lehre und Forschung liegen in der zeitgenössischen Lyrik aus Argentinien und Spanien, den Autor*schaftsstudien sowie in feministischen, queeren und geschlechterkritischen (Literatur-)Theorien.


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