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Newsletter Nr. 41/2025 des Forschungsinstituts Brenner-Archiv

Ins Bild gerückt

Eine Nachricht ins Heute – Joseph Zoderers Prognose für 2025

Der Autor übermittelte seine Vorhersage vor 50 Jahren per Fernschreiber an die Presse

 

Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Vorlass Joseph Zoderer, Sign. 184-37-26

Im Bestand Joseph Zoderer findet sich eine Mappe mit Korrespondenzen mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse, für die der spätere Schriftsteller zwischen 1962 und 1967 vor allem als Gerichtsreporter tätig war. Darunter sticht insbesondere ein Schreiben ins Auge, das die damalige Leiterin des Kulturressorts und stellvertretende Chefredakteurin des Blattes, Ilse Leitenberger (1919–1995), Ende November 1974 an Zoderer richtete. Dieser war Anfang der Siebziger Jahre von Wien zurück nach Südtirol gezogen, hatte inzwischen mit Alexander Langer die Rote Zeitung für Südtirol gegründet und war im Brotberuf als Rundfunkredakteur bei der RAI in Bozen tätig. Die Presse, so Leitenberger, wolle in der Neujahrsbeilage eine Umfrage veranstalten. Das Thema lautete: „‘Wir werden es erleben!‘ Wie stellen Sie sich die Welt im Jahr 2025 vor?“ Sie führte aus, dass Zoderer in diesem Fall „nicht als ‚Schriftsteller‘, sondern als Südtiroler angesprochen [sei]. Das heisst: Wie stellen Sie sich als Südtiroler das Leben Ihrer Enkel, Ihrer Kinder ethnisch, wirtschaftlich, kulturell vor?“[1]

Zoderer, der 1974 seinen ersten Lyrikband, S Maul auf der Erd oder Drecknuidelen kliabn im Münchner Relief-Verlag veröffentlicht hatte, dürfte speziell erfreut darüber gewesen sein, dass „ile“, so Leitenbergers weitbekanntes Redaktionskürzel, ihm am Ende ihres Schreibens auch in Aussicht stellte, sich für sein Buch einsetzen zu wollen, und kam der Einladung gerne nach. Als Beilage zu diesem Schreiben findet sich im Bestand ein für heutige Leser:innen ungewöhnliches Blatt: In der Breite eines A4-Blattes, aber deutlich länger als ein solches, finden sich darauf rote Lettern, allesamt im Blocksatz, und ein „Vorspann“ aus Ziffern und Kürzeln, wie „OCC“ und „NC“, die verraten: Der Autor sandte seinen Rundfragebeitrag am 18. Dezember 1974 per Fernschreiber von Bozen nach Wien.

Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Vorlass Joseph Zoderer, Sign. 184-37-26

Als Fernschreiber Texte und Daten, begleitet von mechanischem, hämmerndem Tastenklappern, mittels elektrischer Signale übermittelten, war das heute ebenso schon fast vergessene Telefax noch die Zukunft.[2] Das international auch als TELEX (TELeprinter EXchange) bezeichnete „Gerät zur Übermittlung von Textnachrichten über das Telex-Netz“ gab es in zwei Varianten: den „Streifenschreiber, der, wie der Name sagt, das einlangende Fernschreiben auf einen gummierten Streifen druckte“, welcher ähnlich einem Telegramm in ein Formular geklebt wurde, sowie den „Springschreiber, auch Blattschreiber genannt, [der] eine Papierrolle [hatte], auf der die Nachrichten abgedruckt wurden.“[3]

 

Im Falle des von Zoderer übermittelten Fernschreibens handelt es sich um einen Springschreiber, der den Text ähnlich einer Schreibmaschine auf einer Endlosrolle ausgab. Auffällig ist, dass der Text rot gedruckt ist: in dieser Farbe wurde üblicherweise der gesendete Text hervorgehoben, während der Empfänger den Text in schwarzer Farbe erhielt. Die Geräte ähnelten einer Schreibmaschine und „jeder Fernschreiber musste mit einem fix eingestellten Namen oder Kennungsgeber, der aus der Rufnummer und einer Kurzbezeichnung des Kunden bestand, versehen werden. So konnte jedes Fernschreiben eindeutig zugeordnet werden.“[4] Diese Nummernfolge(n) finden sich auf der oberen Blatthälfte, wo ebenso die Zustellversuche dokumentiert sind: „OCC“ bedeutet, dass „die Verbindung auf einen besetzten Teilnehmer oder einen besetzten Verbindungsweg“ traf, „NC“, dass der Anschluss unbeschaltet war.[5] Am 18. Dezember 1974 – dem letzten Tag der von Leitenberger eingeräumten Abgabefrist – traf Zoderers Text nach mehreren Versuchen um 11.11 Uhr in Wien bei der Rufnummer „75406 WIPRES“ ein.

Ob Zoderer den vorgegebenen Titel „Wir werden es erleben“ absichtlich zu „Wir werden es überleben“ abwandelte, oder ob es sich um einen Merkfehler handelte, ist nicht mehr festzustellen. Viel spannender ist aber ohnehin die Frage, was er vor 50 Jahren für das inzwischen schon (fast) vergangene Jahr 2025 prognostizierte. Also zurück in die Zukunft!

Anno 2025 wird mein Sohn Peter, der gerate Butt statt Buch sagt, 52 Jahre alt sein. Und ich 90. Wenn wir’s erleben…

eröffnet der 2022 verstorbene Joseph Zoderer seinen Text und bezieht sich auf Leitenbergers Wunsch, nicht als „Schriftsteller, sondern als Südtiroler“ zu antworten:

Leichter wäre darauf als Schriftsteller zu antworten, irgendeine Blödelei würde mir vielleicht schon einfallen, aber als Südtiroler überfällt mich fast ausschließlich der Mander-S’isch-Zeit-Ernst, und gleichzeitig werden mir die doppelten und dreifachen Gefahren bewusst, die uns Südtirolern drohen und die unser Selbstmitleid auch so pflegenswert machen: Denn uns droht der Untergang als völkische Minderheit inmitten des Unterganges des Alpenlandes inmitten des Unterganges des Abendlandes.

Was für Zeiten waren das, die Zoderer, der sich in den folgenden Jahrzehnten nicht nur zu einem der großen Erzähler Südtirols hinaufarbeitete, sondern seit der Veröffentlichung seines Romans Die Walsche auch zum vielgefragten Experten in der „Südtirolfrage“ wurde, so alarmierten?

Die Anschläge des BAS der 1960er Jahre waren abgeflaut, aber die Nachwirkungen der politischen Auseinandersetzungen noch deutlich spürbar. Das Zweite Autonomiestatut war wenige Jahre zuvor in Kraft getreten und wurde schrittweise umgesetzt, doch bis zur sog. Streitbeilegungserklärung sollte es noch zwei Jahrzehnte dauern. Die Brennerautobahn-Teilstrecke Klausen-Bozen ist 1974 fertiggestellt worden und der moderne Massentourismus nahm Fahrt auf: Die Nächtigungszahlen explodierten und stiegen zwischen 1970 und 1980 von zehn auf 20 Millionen. In 114 von 116 Südtiroler Gemeinden fanden in diesem Jahr Kommunalwahlen statt und der amtierende Landeshauptmann Silvius Magnago, ORF-Generalintendant Gerd Bacher und ZDF-Justitiar Ernst Fuhr unterzeichneten Rundfunkverträge, die es den Südtiroler:innen ermöglichten, Fernseh- und Hörfunkprogramme des ORF, des ZDF, der ARD und der SRG zu empfangen.

Wachstum, Wandel, erste Begegnungen mit dem Massentourismus, ungelöste politische Konflikte, Sprachbarrieren, ein neues Selbstverständnis für Frauen und vieles mehr beschäftigte die Region. Doch „[n]ichtsdestoweniger plagt mich ein möglicherweise sträflich erscheinender Optimismus“, schrieb Zoderer weiter:

Vorausgesetzt nämlich, dass die Weltentwicklung auch in den nächsten 50 Jahren ihren Nabel nicht in Südtirol hat, vorausgesetzt ferner, dass als Folge dieser Entwicklung Südtirol als Indianer-Reservat beziehungsweise als Naturschutzpark für Mensch-Menneken-Touristen aufhört eine Rolle zu spielen, dies wenige vorausgesetzt, nehme ich zuversichtlich an, dass wir ethnisch-kulturell nicht verunterweltlern, dass nicht vor lauter Katzbuckeln der gefürchtete Alpendrommedar-Höcker als Geburtsnormalität auftritt, dass wir also unseren Selbstrespekt in ausreichender Portion erhalten, und glaube ich auch, dass meine Kinder und Enkel „in spe“ ein noch gelockertes Verhältnis zu der italienischen Sprachgruppe als wir heute haben werden, auf jeden Fall glaube ich, dass die oft bockshörnige Sturheit der Südtiroler Tal- und Bergbewohner für die nächsten 50 Jahre ausreichen müsste, um sie nicht in Venezianer oder Toskaner verwandeln zu lassen. Was den wirtschaftlichen Aspekt anbelangt, da bin ich bester Hoffnung, dass Südtirol – nachdem seine politischen Vertreter in zweckmäßig ausgerichteter Andreas-Hofer-Tradition möglichst lange die Bremshebeln betätigt und verteidigt haben – seiner Hinterland-Rolle entsprechend mit einigen Jahren oder Quintalien Verspätung doch auch von jenen, die arbeiten und produzieren, verwaltet und gestaltet werden wird. Die Masse der Bevölkerung wird um 800 bis 1.000 Meter zu Tal rutschen, denke ich mir, die Produktionsstätten werden sich entlang den Talsohlen konzentrieren.

Dass all diese Veränderungen, die Südtirol in den 1970er Jahren erfuhr, sich nicht nur auf Wirtschaft und Politik erstreckten, sondern sich auch auf die Landschaft selbst sowie auf das kulturelle Leben des Landes auswirkten, sah Zoderer sehr deutlich:

Die Bergwiesen und Wälder werden sich – o wonnevoller Schreck – in Urlandschaften zurückverwildern, und trotz Volkswirtschaft wird es sich für den individuellen Spaziergänger lohnen, mit der Sichel einen Pfad zu schlagen, um einen naturechten Pilz zu ergattern. Und kulturell? Die Schützen werden ihr letztes Pulver verschossen haben und daher ein neues kaufen müssen; Musikkapellen wird’s noch zu Massen geben, denn „sie sind die Wurzeln unseres Volkes“ und eine unserer heiteren Seiten. Theatersäle – leer wie sie heute sind – wird es sehr wenige mehr geben. Dafür aber ein Mordstheater, behaupte ich in allem Optimismus, denn entweder gibt’s uns überhaupt nicht mehr, oder wir erleben eine verjüngte, verbesserte Neuauflage auch der Südtiroler.

Dieser Text Zoderers, eine Gelegenheitsarbeit, lädt zum Jahresausklang nicht nur zur Reflexion darüber ein, was von seinen Prognosen eingetreten ist, wo der Autor sich geirrt und worin er recht behalten hat. Er zeigt auch auf eindrucksvolle Weise, dass Südtirol mit Joseph Zoderer einen wichtigen Kritiker und Mahner verloren hat: einen Zeitdiagnostiker mit wachem Blick, heiterem Ernst und einem Rest unerschütterlichem Optimismus – zu dem 2025 vielleicht wenig Anlass bietet, der aber gerade deshalb umso notwendiger wäre. 

Irene Zanol

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Anmerkungen

Abbildungen: Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Vorlass Joseph Zoderer, Sign. 184-37-26.
Geringfügige Anpassungen und Korrekturen im Text (z. B. ü statt ue) wurden vorgenommen.

Das Bestandsverzeichnis Joseph Zoderer
Joseph Zoderer im
Lexikon LiteraturTirol

[1] Brief von Ilse Leitenberger an Joseph Zoderer, Wien, 29.11.1974, TS mit handschr. Unterschrift, 1 Bl. Forschungsinstitut Brenner-Archiv, Vorlass Joseph Zoderer, Sign. 184-37-26.
[2] Hermann Huemer führt aus, dass der Fernschreibdienst in Österreich ab 1936 aufgebaut wurde. 1972, also kurz vor dem Versand des vorliegenden Textes, gab es österreichweit 10.000 Anschlüsse im Telenetz. Wenige Jahre später wurde die Technik von einem vollelektronischen, rechnergesteuerten Fernschreib- und Datenvermittlungssystem abgelöst. (Hermann Huemer: Zur Geschichte der Datenübertragung vom Fernschreiber zum Internet. In: Technik. Gesammelte Aspekte des Fortschritts. Katalog zur Ausstellung der Oberösterreichischen Landesmuseen im Schlossmuseum Linz vom 21. Juni 2006 bis 7. Jänner 2007. Hg. Von Ute Streitt und Magdalena Wieser. Weitra: Bibliothek der Provinz, 2006, S. 338-344, hier S. 340.)
[3] Huemer 2006, S. 339.
[4] Ebd.
[5] Erhard Rossberg, Helmut Korta: Fernschreib-Vermittlungstechnik. München: Oldenburg, 1959, S. 102.

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