Anne Siegetsleitner
Die Philosophin Anne Siegetsleitner

Sicherheit und ihre Risiken

Viel menschliches Streben – auch in der Wissenschaft – fließt in die Erhaltung und den Ausbau von Sicherheit. Die Philosophin Anne Siegetsleitner erläutert, in welchem Verhältnis Sicherheit zu anderen Grundbedürfnissen steht, ob es zu viel Sicherheit geben kann und warum ein Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger vor allen Gefahren schützt, nicht erstrebenswert ist.

In vielen Bereichen des privaten und öffentlichen Lebens hat – oft ausgelöst durch technische Innovationen – ein anderes Sicherheitsbewusstsein Einzug gehalten. Während vor 20 Jahren noch kaum jemand einen Skihelm trug, ist ohne Skihelm zu fahren heute gerade- zu exotisch. Viele Eltern vergewissern sich über eine Tracking-App, wo ihre Kinder sind. Mit der steten technischen Verbesserung von Analysemethoden, zum Beispiel in der Lebensmittelkontrolle, gehen strengere Sicherheitsauflagen Hand in Hand, öffentliche Plätze werden zunehmend videoüberwacht. Aber ist Sicherheit tatsächlich mehr „im Trend“ als noch vor 20 oder 30 Jahren? Für das Forschungsmagazin ZUKUNFT FORSCHUNG beantwortet Anne Siegetsleitner  Fragen zum Thema Sicherheit aus der Perspektive der Praktischen Philosophie.

ZUKUNFT: Viele gesellschaftliche Entwicklungen deuten darauf hin, dass sich westlich geprägte Menschen nach mehr Sicherheit sehnen. Sehen Sie auch eine Wertverschiebung in Richtung mehr Sicherheit oder haben Sie Einwände? 

ANNE SIEGETSLEITNER: Wie immer müssen wir hier genauer hinblicken und differenzieren. Darin ist die Philosophie eine gute Ratgeberin. Das Erheben der präzisen Daten überlasse ich hingegen den Sozialwissenschaften. Nehmen wir das Beispiel Skifahren. Die meisten fahren heute mit Helm, aber sie fahren noch Ski. Viel sicherer wäre es, gar nicht Ski zu fahren. Das heißt, sie verringern die Gefahr für diese Aktivität, aber sie minimieren nicht ihr Gesamtrisiko. Skifahren ist ihnen wichtig, trotz der noch immer vorhandenen Gefahren. Manche gehen mehr Risiko ein, andere weniger. Die einen stellt zufrieden, sich an der frischen Luft auf Skiern zu bewegen, wo auch immer. Andere brauchen mehr Herausforderung, steilere Pisten, freies Gelände usw. Etwas auf eine weniger riskante Art zu tun, als es möglich wäre, heißt noch nicht, dass einem oder einer Sicherheit insgesamt am wichtigsten ist. 

ZUKUNFT: Wird Sicherheit in unsicheren Zeiten wichtiger?

SIEGETSLEITNER: Sicherheit wird häufig in Zeiten der Verunsicherung betont oder dort, wo die Freiheiten und Optionen Angst machen, aber als so selbstverständlich gelten, dass sie nicht der Rede wert erscheinen. So kann der Ruf nach klaren Vorgaben laut werden, weil an die Nachteile gar nicht gedacht wird. Beispielsweise kann die Freiheit in der Wahl von Lebenspartner*innen beängstigen und eine vorgegebene Einschränkung als wünschenswert erscheinen lassen. Wo eine solche tatsächlich droht, würde vielleicht eher die Freiheit eingefordert werden, auch wenn sie mit mehr Risiko verbunden ist. Hier haben wir es nicht mit einem Wandel, sondern mangelnder Reflexion oder Ignoranz zu tun.

ZUKUNFT: Aber es rechtfertigt beziehungsweise verkauft sich vieles, was ein Plus an individueller Sicherheit verspricht, sehr gut. Ein gutes Beispiel ist die steigende Zahl der Zusatzversicherten und überhaupt das Thema Gesundheit...

SIEGETSLEITNER: Das Bestreben, unsere Gesundheit zu erhalten, kann mit Sicherheit verbunden sein, doch Sicherheit kann dem ebenso entgegenwirken. Wer sich aus Angst nicht mehr bewegt, nicht mehr rausgeht, keine sozialen Beziehungen mehr führt, wird nur kurzfristig gesund bleiben, weil zu viele Grundbedürfnisse ungestillt bleiben. Außerdem stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit. Das Streben nach Sicherheit in einem kann zu einem Konflikt im Streben nach Sicherheit in anderen Bereichen führen. Viele wollen kurzfristig die Gefahr einer COVID-19-Erkrankung senken und ignorieren beispielsweise, welche Auswirkungen dies mittel- und langfristig für das Streben nach Sicherheit im Rechtssystem hat, welche Unsicherheiten und Erschütterungen dies in so vielen anderen Lebensbereichen mit sich bringt oder wie der Zugewinn an Sicherheit und die damit einhergehenden Unsicherheiten nicht gleich verteilt sind. Zusatzversicherungen können überdies in trügerischer Sicherheit wiegen. Unsere Gesundheit ist wie unser Leben insgesamt nie sicher. Sicher ist nur der Tod. In dieser Hinsicht hatten im vergangenen Jahr viele Menschen ein Schockerlebnis. Sogenannte „junge Alte“ fühlten sich gekränkt, zur vulnerablen Gruppe gezählt zu werden.

ZUKUNFT: Sicherheit zählt zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen. In welchem Verhältnis steht sie zu anderen Grundbedürfnissen?

SIEGETSLEITNER: Sicherheit als Abwesenheit von Gefahr oder zumindest als Verringerung von Gefahren zählt ohne Zweifel in vielen Bereichen zu den grundlegenden menschlichen Bedürfnissen, weshalb wir danach streben. Sie ist als erstrebenswert anerkannt und gilt selbst in diesem umfassenden Sinne im Lichte eines gelingenden Lebens als wertvoll, insofern sie zu einem solchen beiträgt. Bereits für die Erfüllung anderer Grundbedürfnisse müssen wir aber Risiken ein- gehen. In vielen Weltgegenden ist dies bereits dafür nötig, ausreichend Nahrung und Wasser zu finden. Wir wollen Beziehungen, die es ebenfalls nie ohne Risiko gibt, auch wenn sie uns ihrerseits eine bestimmte Form von Sicherheit und Beständigkeit bieten. Wir wollen Neues erfahren und entdecken. So gäbe es mit Sicherheit als einzigem Wert keine Wissenschaften. Wir wollen Anerkennung und Wertschätzung, wofür Menschen ebenfalls oft hohe Risiken eingehen und solche unvermeidlich sind. Wir wollen Freiheit und Selbstbestimmung, los vom sicheren Gängelband. Das Kind mag sich die Tracking-App der Eltern noch gefallen lassen. Für erwachsene Kinder erschiene uns das doch deutlich nachteilig und eigenartig. Fühlen wir uns selbst für unser Wohl zuständig, unsere Eltern oder den Staat?

ZUKUNFT: Obwohl wir in Europa im globalen Vergleich in einer sehr sicheren Region leben, scheint es, als wollten wir – im Staat ebenso wie privat – alles immer noch sicherer machen. Wie lässt sich das erklären? 

SIEGETSLEITNER: Alle wollen das wohl nicht. Ich jedenfalls nicht. Was einem wertvoll ist, auf eine möglichst sichere Art zu tun, dagegen spricht nichts. Durch einen Sozialstaat gegen die großen Lebensrisiken einigermaßen abgesichert zu sein, um möglichst vielen Menschen u.a. Freiheiten wie freie Partner*innenwahl, Kritik an Vorgesetzten oder einer Regierung zu ermöglichen, das gilt vielen in Europa als erstrebenswertes Ziel. Da dient Sicherheit einem größeren Wagnis anderswo. Ein Staat, von dem verlangt wird, dass er vor allen Gefahren schützt und nur dies, darf alle Freiräume verbieten. Er kann jede Überwachung recht- fertigen, jede Regulierung, wenn sie nur Gefahr reduziert. Verhältnismäßigkeit findet keinen Anker mehr. Mitmenschen sehen sich möglicherweise gar als lobenswerte Helfer*innen, wen sie dem Staat dabei ihren Dienst anbieten. Bei einem derart eingeschränkten Staatszweck ließe sich auch keine Privatsphäre mehr rechtfertigen. Wer sein Leben in keiner- lei Hinsicht, die es zur Deckung anderer Grundbedürfnisse braucht, mehr riskieren darf, der lebt nur mehr in einem sehr reduzierten Sinne. Sicherheit ist wichtig, doch wir sollten nicht aus den Augen verlieren, was wir durch einseitige Fixierung auf sie verlieren, nicht zuletzt als Gesellschaft oder politische Gemeinschaft. Für mich ist ein Staat, der nur auf Sicherheit ausgerichtet ist, keiner, in dem ich leben möchte. Dasselbe gilt für mein privates Lebensumfeld.

ZUKUNFT: Welche Abwägungen von Bedürfnissen sollten in einer modernen Gesellschaft auf konkurrierende Bedürfnisse getroffen werden? 

SIEGETSLEITNER: Zunächst sollte im Bewusstsein bleiben, dass es mehrere grundlegende Bedürfnisse und Werte gibt, jedenfalls lässt eine plurale und liberale Gesellschaft dies zu. Sie geht auch davon aus, dass entscheidungs- und handlungsfähige Menschen selbst darüber entscheiden dürfen, welches Leben sie führen wollen, solange sie bestimmte Rücksichten auf andere nehmen. Geht es um konkrete soziale oder politische Entscheidungen, müssen alle gehört und berücksichtigt werden. Wir wissen zum Bei- spiel nicht von vornherein, wie risikoaffin oder -avers die Menschen in einem Lande gerade sind, weshalb es keine vorgefassten Antworten darauf geben kann. Wird einem Wert oder der Lebenseinstellung in Bezug auf Sicherheit einer Gruppe alles andere untergeordnet und anderen Gehör verweigert, bleibt eine moderne Gesellschaft wohl schon mittelfristig keine solche mehr. Welche Art von Gesellschaft wir verwirklichen wollen, diese Entschei- dung wird uns niemand abnehmen. Wir können und müssen gemeinsam um Antworten ringen, wenn wir nicht in einer gänzlich anderen Gesellschaftsform landen wollen.

ANNE SIEGETSLEITNER (*1968) studierte in Salzburg Philosophie, Psychologie, Pädagogik und Deutsche Philologie. Nach Studien- und Forschungsaufenthalten im Ausland habilitierte sie sich 2012 an der Universität Salzburg im Fach Philosophie. Seit 2013 ist Siegetsleitner Professorin für Praktische Philosophie an der Uni Innsbruck. Seit 2017 fungiert sie als Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie und leitet seit März 2021 das Institut für Philosophie. Ihre Forschungsinteressen gelten der Allgemeinen und Angewandten Ethik sowie der Politischen Philosophie und Sozialphilosophie (z. B. dem Denken Hannah Arendts).

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