Subjektivierung

Prekäre Subjektivierung

[26.09.2023] Bericht zum Workshop „Prekäre Subjektivierung“, 26. Juni 2023, Universität Innsbruck, organisiert von Michaela Bstieler & Anna Weithaler (DK Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung).

Mit den Beitragenden Henrike Bloemen (Münster), Michaela Bstieler (Innsbruck), Mareike Gebhardt (Münster), Viktoria Hügel (Heidelberg), Sergej Seitz (Wien), Ragna Verhoeven (Bielefeld) und Anna Weithaler (Wien).

Gemeinsame Grundlage der Beitragenden zum Workshop sei die Annahme, dass es das „autonome Subjekt“ nicht gebe, so Anna Weithaler in ihrer Einleitung. Man gehe – trotz unterschiedlicher Themen und Zugänge – davon aus, dass Subjekte in Prozessen der „Subjektivierung“ konstituiert würden und dass diese immer unabgeschlossen, uneindeutig und in Verhandlung stehend gedacht werden müssen. Kurzum: dass es „prekäre Subjektivierungen“ seien, die die Teilnehmer_innen im interdisziplinären Workshopformat untersuchten. Geöffnet für Zuhörer_innen organisierten Michaela Bstieler und Anna Weithaler einen gelungenen, aber dichten Arbeitstag mit allem was dazu gehört: sommerlicher Junihitze der Innsbrucker Uniräume, großzügiger Koffeinversorgung und gemeinsamem Mittag- und Abendessen zum Weitersinnieren und Diskutieren.

Aus meiner – empirisch kulturwissenschaftlichen – Perspektive besonders spannend war der Beitrag von Henrike Bloemen (Münster), die sich dafür interessierte, „wie die großen Ideen in die Körper und Herzen kommen“. Was sie damit meinte? Sie forscht zur Frage, wie sich „Ideen im Alltag materialisieren“ und wendet dazu mit dem „Alltagsverstand“ ein fast vergessenes Konzept von Antonio Gramsci an, nicht ohne dieses durch die Verbindung mit queerer und feministischer Theorie ins 21. Jahrhundert zu holen.

Nach „Charisma“ als Produkt und Reproduktion historischer Epistemologien fragte Viktoria Hügel (Heidelberg) und verwies dabei auf den „revolutionären Charakter“ des Charismabegriffes, das „dekonstruktive Moment“, das seiner Kraft innewohne und das „affirmative Moment“, das Charisma als „präfigurativ“ erscheinen lasse. Ausmachen konnte Hügel in ihrer Annäherung das doppelte Potenzial von „Widerstand“ und „Disziplinierung“, das sie anhand des Narrativs der „Schwarzen Emanzipation als Heldentat von great leaders“ verdeutlichte. Dieses unterschlage insbesondere die Anteile von Frauen an der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung im 20. Jahrhundert und lasse zeigen, dass Charisma im Sinne von Führerschaft auch immer mit einer „disziplinierenden Ordnung“ und dem Phänomen des „historical silencing“ einhergehe.

Sergej Seitz (Wien) stellte die Konzeption des aktuellen Forschungsprojektes „Prefiguring Democratic Futures“ vor und fragte nach „präfigurativen Praktiken“. Das seien Tätigkeiten, die mögliche oder unmögliche Zukünfte im „Hier und Jetzt vorwegnehmen“, es gehe gewissermaßen darum, „begehrenswerte Vorbilder ins Leben“ und „Modelle demonstrativ ins Werk zu setzen“. Stark erinnerte dieser Zugang an das Projekt „Klimarechnungshof“, das unter anderem von Alexa Färber (Europäische Ethnologie, Wien) durchgeführt wird.   

Mit einem klassischen ethnologischen Autor – Marc Augé – und einem seiner literarischen Werke, dem „Tagebuch eines Obdachlosen“, beschäftigte sich Michaela Bstieler (Innsbruck). Ihr ging es darum, den „Verlust der Bleibe“, die „Wohnungslosigkeit“, als „zwangsweise neue Subjektivierung“ zu deuten, die einen ganzen Katalog an Praktiken erfordere. Mit Beispielen aus Augés Ethnofiktion zeigte Bstieler, dass es sich dabei um „Künste des Anscheins“, um „Praktiken des Verheimlichens, Täuschens und Leugnens“ und um „defensive Anschlusspraktiken“ wie die „vorausschauende Planung“, die „Erkundung kleiner Verstecke und Winkel“ handle, die insgesamt listig sein müssten.

Ihre konzeptionellen Überlegungen zum Dissertationsprojekt an der Universität Bielefeld stellte Ragna Verhoeven (Bielefeld) vor, die sich mit radikaldemokratischer Theorie und der Genese statischer Figuren in Liberalismus, Neoliberalismus und Autoritatismus beschäftigt.

Anna Weithaler (Wien) beschrieb anhand vom „Roten Wien“ in den Jahren 1919–1934 ein Beispiel für einen historischen, demokratischen Bildungsprozess und thematisierte den inhärenten Widerspruch der „Demokratiebildung als Erziehung zur Selbstermächtigung“.

Mit dem Fokus auf „flüchtige Subjektivität“ fragte Mareike Gebhardt (Münster) danach, wie „Rassifizierung funktioniert“ und verdeutlichte, die einleitend vorgestellte Grundannahme wiederaufgreifend, dass „das autonome Subjekt als Phantasma liberaler Politik“ zu gelten habe, dem die Erfahrung prekär subjektivierter Individuen nicht nur theoretisch, sondern auch in vielen Beispielen der Alltagserfahrung, an Grenzen und in Grenzsituationen, angesichts nicht privilegierender, sozialer Positionierungen und deren Konsequenzen zuwiderlaufen.

Es bleibt den Forschungsprojekten und den Beitragenden Erfolg zu wünschen und aus dem Kreis der Kollegiat_innen des Doktoratskollegs Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung darf ein Dank an die Organisatorinnen ausgesprochen werden. Zu hoffen ist: Fortsetzung folgt!  

 

 

(Nadja Neuner-Schatz)


Biografische Notiz

Nadja Neuner-Schatz ist Doktorandin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie und Mitglied des Doktoratskollegs "Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung" an der Universität Innsbruck. 


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