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Ins Bild gerückt

Ottomar / Ottmar / Othmar / Otto Zeiller (1868–1921) und seine „Männchen“

Es gibt Menschen, die Reiskörner bemalen oder das Relief einer Kreuzigungsszene auf einem Kirschkern unterbringen. Es gibt Menschen wie den Künstler Willard Wigan, der Figuren schnitzt, die so klein sind, dass sie sich erst unter einem Mikroskop von einem Krümel unterscheiden, dass sie als Gruppe in ein Nadelöhr passen, so klein, dass sie, passt man nicht auf, entweder für immer im Teppichflor oder in der Lunge verschwinden.
Ich hab für Winzigkeiten und Details von jeher ein Faible, wohl weil die Menschheit und zu viele Individuen dazu neigen, sich auszubreiten. Und auch wenn Ottmar Zeiller ein wenig größere Figuren schuf als die oben erwähnten – sie üben eine vergleichbare Faszination aus.
Hier wird eine der typischen Miniaturfiguren von ihm ins Bild gerückt. Das Forschungsinstitut Brenner-Archiv erhielt die der Öffentlichkeit bisher unbekannte Figur als Bestandteil der „Sammlung Dieter Tausch“ in diesem Jahr 2021 (Sig. 282-11-04). Es war Zufall, doch kam sie zur rechten Zeit, um an den hundertsten Todestag des „Bildhauers“ (so die Selbstbezeichnung des Künstlers auf seiner Visitenkarte) und „Kleinstplastikers“ (so Josef Anton Steurer in seinem Nachruf in den Innsbrucker Nachrichten vom 15. Juni 1921) und nicht zuletzt des Zeichners Zeiller zu erinnern.

In einer autobiographischen Schilderung für einen Ausstellungskatalog (1910) setzt Zeiller den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn mit der Ausbildung bei Ludwig Schmid-Reutte fest: „Max Bernuth entdeckte mein Talent fürs Figürliche und schickte mich zu Schmid-Reutte. […] Nach einer einjährigen Zwischenstation an der Kunstgewerbeschule in München nahm mich Schmid-Reutte in seiner Schule auf.“ Das orientierende Datum dazu liefert ein tabellarischer Lebenslauf von Zeillers Verwandtem Josef Schärmer: Am 4. März 1903 hat Zeiller von Ludwig Schmidt-Reutte, der bekannt war für seine anatomischen Studien und Zeichnungen, sein Abschlusszeugnis an der „Großherzoglichen Badischen Akademie der bildenden Künste“ in Karlsruhe erhalten. Auf Schmid-Reuttes Rat hin, sich praktisch zu erproben – so schreibt Zeiller weiter –, habe er in Berlin eine Zeichenschule eröffnet, die er drei Jahre lang führte: „Ich trieb aber auch Müßiggang und begann die kleinen Männchen zu schnitzen.“
Zeiller kannte den menschlichen, „figürlichen“ Körper in- und auswendig, 1894 hatte er in Innsbruck sein Medizinstudium abgeschlossen, das doch wohl einige Geschicklichkeit mit Händen und Werkzeugen verlangt. Danach war er bis etwa 1900 eine erste längere Phase in Berlin und dort offenbar mit verschiedenen handwerklichen Arbeiten, auch als Stukkateur, beschäftigt gewesen. Dort habe er wegen seines Dialekts als „Schwede oder Rumäne“ gegolten (Zeiller). Bevor er sich in Hall niederließ, hatte er, der 1868 in St. Vigil bei Enneberg (Ladinien, Südtirol), die Welt erblickt hatte, in der weiteren Welt einer Großstadt, im Ausland – und bei den Preußen! – seine Erfahrungen gemacht.

Sie sehen die Figur (klicken Sie auf die fetten blauen Buchstaben) leider nur zweidimensional, von vornvon hinten, von der Seite. Aber: zoomfähig. Verkleinern Sie die Ansicht: drücken und halten Sie Strg und drücken außerdem mehrfach die - Taste beim Zahlenblock, bis die Figur – halten Sie ein Zentimetermaß an Ihren Computer – 2,1 cm groß ist, das ist ihre Originalgröße. Und jetzt wieder vergrößern (drücken und halten Sie Strg und drücken außerdem mehrfach die + Taste), damit sich besser sehen lässt, was sie tut. Die Figur umschließt mit den Armen vor dem Körper einen Balken, nein, eigentlich eine Latte (diese ließe sich übrigens aus den Armen herausnehmen). Der Kopf ist zu der Seite hin geneigt, auf der das Holz in die Höhe ragt, beinahe liegt er auf. Unter dem Holz schaut eine Schürze oder ein Gewand hervor, die die Beine bis zu den Füßen verdeckt, außerdem etwas wie eine Umhängetasche. Umgedreht, zeigt die Figur eine halblange „Topffrisur“ und ein nacktes Hinterteil. Von vorne und von der Seite gesehen steht sie – die Füße sind nebeneinander. In der Rückansicht jedoch scheint sie mit dem rechten Bein einen Schritt vorwärts tun zu wollen.
Ein Zimmermann, der Material zuliefert? Etwas passiv... Ist es eine Einzelfigur, ist sie Teil einer Szenerie? Sollte es sich um Simon von Kyrene handeln, der für Christus das Patibulum, den Querbalken des Kreuzes, zur Hinrichtungsstätte trägt (so, wie es für Kreuzigungen historisch belegt ist)? Ikonographisch wäre diese Darstellung nicht bekannt...

Erika Wimmer hat 1996 eine Ausstellung zu Zeiller organisiert und einen Katalog dazu herausgegeben. Im Zuge der Vorbereitungen hat sie Figuren in öffentlichem und privatem Besitz ausgeforscht und fotografieren lassen. Es ist eine erste Dokumentation des Zeiller-Werks (die Negative und Abzüge von Aufnahmen sowie Dias befinden sich jetzt im Brenner-Archiv). Wimmer schreibt von „314 aufgefundenen Plastiken Ottmar Zeillers“, „menschliche Darstellungen zumeist, aber auch eine beträchtliche Anzahl von Tieren“, „70 Stück [aller Plastiken, AS] sind in Krippen versammelt“, wobei „in Zeillers Fall die Grenze zwischen Krippenfiguren und anderen Plastiken manchmal fließend ist“ (S. 30). Im Katalog wurden 22 Figuren abgebildet – Sie können den ganzen Katalog hier aufrufen und entsprechend den Angaben im Verzeichnis der Figuren (S. 55) wiederum die Originalgröße der Figuren herstellen.
Leider sind viele Aufnahmen für die Dokumentation nur aus einer Perspektive gemacht, dazu technologiebedingt mit so geringer Auflösung, dass Details zu erkennen kaum möglich ist. Vermessen wurden v.a. die abgebildeten Figuren.
Doch tatsächlich finden wir dabei eine zweite Figur von gleicher Gestaltung! Sie ist nur von vorn zu sehen: Sie ist gedrungener, der Kopf ist nicht geneigt. Eine Vorstufe oder eine Kopie der unseren? Eine Figurenstudie? Halt – da gibt es sogar eine dritte – sie hat dieselbe Haltung, trägt aber nicht einen Balken, sondern eher einige Scheite oder Bretter im linken Arm. Sie gilt als Teil einer Krippe. Könnte also beim Dachdichten des Stalls tätig sein... Fällt damit unsere obige Interpretation? Handelt es sich um zwei verschiedene Kontexte? Schießt man über das Ziel hinaus, sieht man im Zimmermann, der das Dach des Stalls repariert, eine Präfiguration für den Kreuzestod (des gelernten Zimmermanns Jesus Christus)?

1972 erschien im Haller Lokalanzeiger eine Doppelseite zum Anlass des 50. Todestages von Ottomar [sic…] Zeiller. Sie enthielt neben Nachrufen auch die oben zitierte autobiographische Mitteilung Zeillers, Abbildungen von Figuren sowie einen Beitrag von Wilfried Kirschl (der diese Rückschau wohl auch initiiert hatte, die Sie hier finden). Kirschl war im Rahmen seiner Beschäftigung mit Egger-Lienz auch auf Zeiller gestoßen und hat auf ihren Kontakt hingewiesen.
Ich denke, dass Egger-Lienz und Zeiller, die sich wohl seit 1908 kannten (vgl. Schärmer, Zeiller-Katalog, S. 17), von einer im zeitgenössischen Kunstverständnis behaupteten Gegensätzlichkeit nur profitiert haben. Sie konnten auf das Konkurrieren verzichten und ins Gespräch über Ausdrucksformen kommen. Zeiller war Gast in Egger-Lienz‘ Atelier in Schloss Rainegg in Hall gewesen, hat auch andere dorthin geführt, um ihnen das gerade fertiggestellte, monumentale Bild „Das Leben“ (auch „Die Lebensalter“, 249 x 366 cm) zu zeigen. Eine Korrespondenz (die Briefe von Zeiller sind nicht auffindbar, wenn überhaupt überliefert) gibt es erst, als Egger-Lienz Hall wieder verlässt. Vielleicht war es sogar Egger-Lienz gewesen, der Zeiller zum Gießen angeregt hatte? Er hat sich offenbar eine Porträtfigur bestellt und schreibt am 27.9.1912 aus Lienz: „Wie steht es wohl mit meiner Porträtfigur? / Wenn Sie die Güsse (auch den aus Silber) nicht mehr hierher senden können, bitte ich sie nach Weimar zu expedieren. / Ich freue mich sehr darauf.“, am 20. Okt. 1912 aus Weimar: „Wie steht es mit dem Silberguß? / Einer steht schon auf meinen Schreibtisch und habe große Freud damit.“ Zeiller hat in dieser Phase eine neue Kunstform ausprobiert. 

Kirschl schreibt im Haller Lokalanzeiger auch von Zeillers Ablehnung, in Erscheinung zu treten und sich in Abhängigkeiten zu begeben, und den meisten sei er als „Kauz und Sonderling“ erschienen.
Zeillers Karriere verlief jedenfalls stets gefährdet – 1907 hatte er (wieder einmal) gefürchtet, dass er der Kunst „Valet sagen“ müsse – die Begründung findet sich mittels Parallelisierung, wenn er über einen Bekannten schreibt: „[Er] ist mein Leidensgefährte, hochgradig neurasthenisch arbeitsunfähig“ (vgl. Ottmar Zeiller an Arthur von Wallpach am 28.7.1907). In einer Anstellung andererseits konnte er seine Kunst nicht verwirklichen und hat das gut dotierte Arbeitsverhältnis an der „k. k. Fachschule für Zeichnen und Modellieren“ in Gröden 1910 wieder beendet. Aber Zeiller hatte durchaus ein Selbstbewusstsein als Künstler, jedenfalls in der einen oder anderen Phase. Davon zeugt nicht nur die schon erwähnte Visitenkarte. Die Bronzen, die er von Holzfiguren gießen ließ, verlangen einen aufwändigen Herstellungsprozess und sind mit einem schön gestalteten Künstlerstempelversehen. Nicht klar ist, wo und von wem die Figuren gegossen wurden. Von einem Selbstverständnis könnte auch die Bronzestatue eines Lautenisten zeugen – wohl ein Selbstportrait. Zeiller ist laut Josef Anton Steurer „ein genialer Künstler auf der Laute“ gewesen, habe damit auch zeitweise seinen Lebensunterhalt verdient. Leider können wir auf der entsprechenden Fotografie der Dokumentation den Stempel nicht sehen. Aber es ist auffällig, dass – soweit man denn Stempel in der Dokumentation oder in natura sehen kann –, alle Güsse aus dem Jahr 1912 stammen.

Ich meine in seinen Figuren Bezüge zu Egger-Lienz zu sehen. Verweist die Bronzefigur, die im Zeiller-Katalog den Titel „Raufbold? Kegelspieler?“ bekam (Abb. 16), in ihrer Haltung nicht auf Arbeiter oder Kämpfende von Egger-Lienz ? Wer den wahrhaft monumentalen Werkkatalog  von Wilfried Kirschl über Egger-Lienz‘ Leben und Werk durchsieht, in dem auch die zahlreichen zeichnerischen oder malerischen Vorstudien sowie Variationen verzeichnet sind, die Egger-Lienz zu seinen Werken anzulegen pflegte, kommt jedenfalls ins Nachdenken. Ist das gemeinsame Motiv des Sensendenglers bloßer Zufall (Zeiller-Katalog S. 31, und Gemälde Egger-Lienz, Katalog Kirschl Seite 168)? Gleichen sich der Mäher bzw. Sämann bei Egger-Lienz und die „Wanderer“ genannte Figur Zeillers (Zeiller-Katalog Abb. 3) nicht in ihrer Dynamik? Womöglich ist unsere Figur eine Vorlage oder eine Reaktion auf Egger-Lienz‘ Balkenträger (in „Leben“ und tausendfach in Studien und Variationen)?
Vielleicht haben die Titel, die man Zeillers Figuren gegeben hat, um sie zu registrieren, Identifizierungen erschwert, weil man sich allzuleicht von einem Titel verführen lässt. Unser „Raufbold“ befindet sich jetzt im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum TLMF (wenn es nicht eine zweite Bronze gibt) und wird dort als „Gebückter Bauer“ geführt (die entsprechende Holzfigur findet sich übrigens, ohne Titel, als Abbildung im Haller Lokalanzeiger). Aber hat der Künstler überhaupt je selbst Titel vergeben, sich zu Titeln geäußert? Gibt es weitere Datierungen auf Bronzen oder Zeichnungen?

Zeiller hat Arthur von Wallpach in Holz portraitiert (aber nicht gegossen, siehe Katalog, Abb. 6), für ihn dürfte er auch den aus Elfenbein geschnitzten Otto von Bismarck angefertigt haben (er ist vermutlich mit Wallpachs Nachlass übergeben worden). Bismarck war ein Heros der völkisch-nationalen Bewegung. Georg von Schönerer, martialisch und aggressiv, antiklerikal und antisemitisch, trug die Anfangsbuchstaben eines markigen Bismarck-Zitats auf seiner Portraitkarte. Carl Dallago sah (wie im Brenner in mehreren Heften nachzulesen) in Bismarck „Herrn und Mann – eine machtvolle Hand – ein Aufrechtstehen – eine Natur – ein Element“, eine „Mannesvollnatur“, einen, der „als Politiker Künstler“ war, sozusagen das Bollwerk gegen alle von ihm so bezeichneten „intellektischen“ Naturen. In diese Reihe stellt Dallago auch Napoleon (von dem es übrigens auch eine Zeiller-Bronze gibt!).
Können wir neben Wallpach und Egger-Lienz (TLMF) weitere Künstler-Portraits identifizieren? Ich meine auch Georg Trakl (mit dem Zeiller sich in dieser Phase öfter traf) und Adolf Loos (Zeiller und er unterschrieben gemeinsam eine Postkarte) bei den Bronzen zu sehen.
Wäre es nicht schön, wenn es einen digitalen Werkkatalog gäbe, der jede Figur von allen Seiten in einer 360°-Drehung zeigte und es erlaubte, die Figuren in ihrer jeweilige Größe darzustellen? Es ist an der Zeit, den Rest eines Zeiller-Nachlasses zusammenzutragen, ihn auch für weitere Generationen zu bewahren – egal wo, Hauptsache feuerfest und für die Öffentlichkeit erreichbar. Vielleicht lassen sich doch noch Briefe von ihm ausforschen? Vielleicht können wir den Figuren dann auch damit weiter nachgehen, den Haltungen, die sie darstellen, im Hinblick auf Zeillers Denken, Leben, Werk, auf ihre Zugehörigkeit zu einem Kosmos, im Hinblick auf die Kunst- und Zeitgeschichte.
Steurer schreibt in seinem Nachruf auch über eine Zeillersche Figur, ein Selbstportrait (wo könnte diese Figur sein?): „Und so nehme ich sein ‚Figürl‘ auf meinem Schreibtisch, das so sehr auch seiner Figur gleicht und von dem er sagte, daß es seine Seele darstelle, mir, da er selbst nicht mehr ist, zum Vorbild. Da geht einer sich Mund und Nase zuhaltend und mit der anderen Hand den Hut in den Kopf festdrückend tapfer durch den Sturm. Dieser Sturm, sagt Zeiller, ist das Leben, sind dessen Widerwärtigkeiten, ist unser Gehen über diese unvollkommenste aller Welten. Nicht lange währt es, dann gehen wir ein in die Ruhe, in den Frieden, sind wir daheim.“

(Annette Steinsiek)
 

 
Verwendete Quellen und Literatur:

Forschungsinstitut Brenner-Archiv
Bestand Ottmar Zeiller, Kass. 1 (Sig. 122-01) (= Fotografien von Figuren und Zeichnungen)

[Haller Lokalanzeiger]
„Ottomar Zeiller 1868-1921. Späte Erinnerung an einen Bildhauer“. Doppelseite im „Haller Lokalanzeiger“, 23.12.1972, S. 10 u. 11. Darin:
Wilfried Kirschl: [Ottomar Zeiller];
Eine literarische Selbstdarstellung Zeillers;
Letzter Brief von Albin Egger-Lienz an Zeiller;
Der Musiker Emil Schennich zu Zeillers 50. Geburtstag;
Zwei Nachrufe von Josef Anton Steurer (u.a. in den Innsbrucker Nachrichten vom 15. Juni 1921).

[Katalog Kirschl]
Wilfried Kirschl: Albin Egger-Lienz. 1868-1926. Das Gesamtwerk mit 835 Abbildungen. Wien: Edition Tusch 1977.

[Zeiller-Katalog]
monumental:minimal. Der Bildhauer und Holzschnitzer Ottmar Zeiller (1868-1921). Katalog zur Ausstellung Mai/Juni 1996 Hall in Tirol. Hgg. von Erika Wimmer. Innsbruck: Edition Löwenzahn 1996 (= Brenner-Texte. Hgg. vom Forschungsinstitut Brenner-Archiv an der Universität Innsbruck, Band 2). Daraus verwendet:
Josef Schärmer: Ottmar Zeiller. Ein biographischer Abriß mit Zeugensammlung, S. 14-20;
Erika Wimmer: Die Sammlung Ottmar Zeiller, S. 30-32.
Erika Wimmer: Minimal? Ottmar Zeillers Kleinplastiken, S. 9-13.


Dank an die Kollegin Maria Piok, die die Fotos des kleinen Trägers gemacht hat! 

  

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