Vertreibung und Rückkehr der Wissenschaftstheorie vor und nach dem Zweiten Weltkrieg am Beispiel von Rudolf Carnap und Wolfgang Stegmüller 

Die analytische Philosophie und Wissenschaftstheorie ist in den letzten Jahrzehnten auch im deutschsprachigen Raum zu einem dominierenden Paradigma in Lehre und Forschung geworden. Mit der Emigration eines Großteils der Mitglieder der Berliner Gruppe, des Wiener Kreises und des Prager Zirkels (vorw. in die USA und nach Großbritannien) waren jedoch die Vertreter des Logischen Empirismus fast zur Gänze aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei verschwunden. Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte keiner der Vertriebenen dauerhaft zurück; Aufforderungen zu einer solchen Rückkehr hatten offensichtlich nicht stattgefunden.
Das vorliegende Projekt setzt sich zum Ziel, die erzwungene Emigration der Wissenschaftstheorie sowie deren stark verzögerte Rückkehr aus den Exilländern in die mitteleuropäischen Ursprungsländer zu rekonstruieren: Das Hauptaugenmerk der Untersuchung richtet sich dabei auf jene beiden Wissenschaftsphilosophen, die für geistigen Transfer, Transformation und Rückwirkung maßgeblich waren:

Promotionsurkunde von Wolfgang Stegmüller

Rudolf Carnap (1891-1970) und Wolfgang Stegmüller (1923-1991). Carnap kam 1925 aus Deutschland an die Universität Wien und war eines der aktivsten Mitglieder des von Moritz Schlick begründeten Wiener Kreises; 1931 verlegte er seine Wirkungsstätte nach Prag, von wo aus er 1936 endgültig in die USA emigrierte. Stegmüller studierte an der Universität Innsbruck und blieb dort bis 1958. Gerade wegen seiner philosophischen Ausrichtung konnte er seine Hochschulkarriere jedoch erst in späteren Jahren in der Bundesrepublik Deutschland begründen, wo er von München aus eine der bis heute einflussreichsten wissenschaftstheoretischen Schulen aufbaute.

Carnap an Stegmüller, 16.6.1955

Beide Denker pflegten nach 1945 eine ebenso einfluss- wie folgenreiche wissenschaftliche Kommunikation. Das Projekt wird sich in seinen Untersuchungen maßgeblich auf die Nachlässe der beiden Philosophen (in Pittsburgh, Konstanz und Innsbruck) stützen, wobei vor allem im Fall Stegmüllers bislang unbekanntes Archivmaterial den Projektmitarbeitern erstmals exklusiv zur Verfügung steht. Die Forschungsresultate sollen in einer abschließenden Monographie publiziert und so erstmals einem weiten Kreis von ForscherInnen zugänglich gemacht werden.
Das vorgeschlagene Projekt untersucht die Entwicklung einer maßgeblichen philosophischen Strömung - der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie -
a) in international vergleichender Perspektive: Entwicklungen vor und nach 1945 in Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei einerseits und den Exilländern andererseits;
b) über wichtige historische Brüche hinweg (1933, 1938, 1945);
c) mit der Frage nach durch jene Brüche und Wissenstransfers entstandenen möglichen Veränderungen und Transformationen, wobei - im Sinne einer „Science in Context“ - kulturelle und politische Faktoren in die Ursachenanalyse miteinbezogen werden.

Wolfgang Stegmüller (1923-1991)

Wolfgang Stegmüller  (1923-1991) studierte an der Universität Innsbruck Wirtschaftswissenschaften und Philosophie. Ab 1945 ist er dort wissenschaftliche Hilfskraft am Philosophischen Seminar und habilitiert sich 1949 mit einer Arbeit über die Phänomenologie und Existenzphilosophie. Bei den Hochschulkursen in Alpbach lernt er Karl Popper kennen und entdeckt die in Österreich ignorierte Philosophie des Wiener Kreises. In den Fünfziger Jahren erscheinen erste Artikel und Bücher, in denen Stegmüller die neuesten Entwicklungen der analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie erstmals umfassend dem deutschsprachigen Publikum vorstellt (Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie,1952 und Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik, 1957). Er nimmt Kontakt mit vertriebenen Philosophen des Wiener und Berliner Kreises auf (Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Carl Hempel).

Feigl an Stegmüller, 4.7.1964

 1953 lernt er bei einem einjährigen Stipendium an der Universität Oxford W.V.O. Quine kennen. Mit Carnap arbeitet er an einer deutschen Fassung von dessen induktiver Logik, die 1959 unter beider Namen erscheint (Induktive Logik und Wahrscheinlichkeit). Trotz seiner Produktivität und steigender wissenschaftlicher Anerkennung unter analytischen Philosophen scheitern Stegmüllers Versuche, in Wien oder Innsbruck eine Professur zu bekommen. Im restaurativen Österreich der Fünfziger Jahre ist man nicht gewillt, eine schon einmal vertriebene philosophische Richtung wieder Fuß fassen zu lassen.

Ernennungsurkunde

Nach Gastprofessuren in Kiel und Bonn (1957-58) wird Stegmüller 1958 als ordentlicher Professor der Philosophie an die Universität München berufen. Dort bleibt er (mit der Unterbrechung durch zwei Gastprofessuren in Pennsylvania) bis zu seiner Emeritierung 1989 und begründet eine der erfolgreichsten philosophischen Schulen Deutschlands. Er arbeitet an seinen beiden monumentalen „works in progress“, den Hauptströmungen (1952-89, in 4 Bänden) und an Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie (1969-86). Auf die zunehmende Kritik des Empirismus durch Quine und durch die soziologisch und historisch orientierte Wissenschaftstheorie Kuhns und Feyerabends antwortet Stegmüller 1979 mit seinem wissenschaftstheoretischen Strukturalismus in The Structuralist View of Theories.

Stegmüller (2. Reihe v.o., 2. v.l.)

Stegmüller (2. Reihe v.o., 2. v.l.)

 

Rudolf Carnap (1891-1970)

Rudolf Carnap  (1891-1970) studierte Philosophie, Physik und Mathematik an der Universität Jena und Freiburg. In Jena hörte er die spärlich besuchten Vorlesungen von Gottlob Frege. Eine begonnene Dissertation in Physik wurde durch den Wehrdienst im ersten Weltkrieg unterbrochen. Mit einem Vergleich der verschiedenen philosophischen Begriffe des Raumes dissertierte er bei Bruno Bauch in Jena. Nach ersten Kontakten mit Moritz Schlick wird Carnap nach Wien eingeladen, wo er sich mit Der Logische Aufbau der Welt (1928) habilitiert und als Privatdozent an der Universität tätig ist. Mit seiner rationalen Rekonstruktion der wissenschaftlichen Begriffe wird Carnap zu einer zentralen Figur des Wiener Kreises. Mit Neurath gehört er zum linken Flügel des Kreises, der eine wissenschaftliche Philosophie fordert, die auf einer einheitlichen, intersubjektiven und phyikalistischen Sprache beruht. Über die Vermittlung von Philipp Frank erhält Carnap 1931 eine außerordentliche Professur an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Deutschen Universität Prag. Dort schreibt er die Logische Syntax der Sprache (1934), eine Wissenschaftslogik als formale Analyse der Wissenschaftssprache. Durch die zunehmende Internationalisierung des Wiener Kreises ergeben sich in Prag erste Kontakte mit amerikanischen Philosophen (W.V.O. Quine, Charles Morris, Ernest Nagel). Diese Kontakte ermöglichen ihm 1935 die Emigration aus einem zunehmend feindlichen Klima in Mitteleuropa. 1936 bekommt er eine Professur an der Universität Chicago, die er bis 1952 innehat. Noch in Europa entwickelte Carnap unter dem Einfluß Alfred Tarskis eine Semantik, die er in Amerika in regem und kritischem Austausch mit Tarski, Goodman und Quine ausarbeitet (Introduction to Semantics, 1942 und Meaning and Necessity, 1947). Die Wahrscheinlichkeits theorie und die induktive Logik ist das letzte große philosophische Projekt, an dem Carnap bis zu seinem Tod arbeitet. In den Fünfziger und Sechziger Jahren entstehen erste zaghafte Kontakte zu den ursprüngliche Wirkungsstätten Carnaps mit ersten deutschen Übersetzungen:1954 die Einführung in die symbolische Logik) und 1959 mit Hilfe Stegmüllers eine deutsche Fassung der induktiven Logik.

 

Ein vom fwf gefördertes Forschungsprojekt
 Projektdauer: 2005 bis / to 2007
 Projektleitung:
 Friedrich Stadler
 
(Universität Wien und Institut Wiener Kreis)
 Allan S. Janik
 
(Universität Innsbruck,
 Forschungsinstitut Brenner-Archiv)
 
 Projektmitarbeiter:
 Hans-Joachim Dahms (Berlin / Wien)
 Christian Damböck (Wien)
 Christoph Limbeck-Lilienau (Wien)
 Michael Schorner (Innsbruck)​​​​

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