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Wenn Steine sprechen könnten. Die mittelsteinzeitliche Landschaft Kleinwalsertal

„Wenn diese Steine sprechen könnten!“ ist eine beliebte Redensart beim Besuch historischer Orte. Doch was, wenn dies tatsächlich möglich wäre? Anhand archäologischer Fundstellen und Funde wird derzeit das Leben und die Landschaftsnutzung der inneralpinen Region Kleinwalsertal während der Mittelsteinzeit (9.600–5.500 v. Chr.) untersucht.

„Archaeology is partly the discovery of the treasures of the past, partly meticulous work of the scientific analyst, partly the exercise of the creative imagination.“

C. Renfrew – P. Bahn, Archaeology. Theories, Methods and Practice, 2012

Zu Beginn des Studiums der Archäologie haben wohl alle Studierenden verschiedene träumerische Vorstellungen und Erwartungen. Keiner von uns würde je zugeben, Indiana Jones sein zu wollen. Aber zumindest das Entdecken von Schätzen, von sensationellen Funden und ein oder zwei Kristallschädeln sollte doch zumindest möglich sein. Tatsächlich ist die Archäologie vor allem eines: eine Übung in Geduld. Nach den Ausgrabungen, die bisweilen viel Aufsehen erregen, gibt es einen zweiten, ungleich größeren und längeren Arbeitsabschnitt, nämlich das Aufarbeiten der Grabung und der gefundenen materiellen Hinterlassenschaften. Tausende Objekte müssen gesichtet, beschrieben, gezeichnet, fotografiert und schlussendlich interpretiert werden. Ein Prozess, der langwierig und recht unglamourös ist – und herzlich wenig zu tun hat mit der Arbeit des oben genannten fiktiven Vertreters unserer Profession, der einen so großen Eindruck auf die moderne Popkultur hatte. Doch auch wenn der Weg manchmal durchaus mühsam sein kann und wir keinen Kristallschädel finden, ist das Ergebnis doch erfolgversprechend: Es ist die genaueste mögliche Annäherung an das Leben und die Welt von Menschen aus längst vergangenen Zeiten.

Die Mittelsteinzeit im Alpenraum – das unterschätzte Sandwichkind

Das Maximum, das im Hinblick auf die zeitliche Distanz zu heute in der Archäologie erreicht werden kann, ist das Studium der Steinzeiten. Im Rahmen meiner Dissertation beschäftigte ich mich mit der wohl unbekanntesten Ausprägung dieser Epoche, nämlich der Mittelsteinzeit oder dem Mesolithikum, also der Zeit zwischen 9.600 und 5.500 v. Chr. Sie liegt zwischen der vorhergehenden Altsteinzeit und der nachfolgenden Jungsteinzeit. Man könnte die Mittelsteinzeit auch als das unglückliche Sandwichkind dieser ältesten Menschheitsepoche beschreiben. Für viele ist sie eine Zeit kulturellen Stillstands, ohne die Kunstwerke der paläolithischen Eiszeit wie etwa die Höhle von Lascaux oder die Innovationen der Jungsteinzeit wie Sesshaftigkeit, Ackerbau und Viehzucht. Sowohl in der breiteren Öffentlichkeit wie auch in der prähistorischen Archäologie hält sich hartnäckig das Bild der etwas rückständigen mittelsteinzeitlichen Menschen, die ziellos und, um es mit Gordon V. Childe, dem „Vater“ der neolithischen Revolution, zu sagen, „in a helpless state of barbarism“ als Wildbeuter durch die Lande zogen, von der Hand in den Mund lebten und nur darauf warteten, dass endlich die Ackerbauern des Vorderen Orients nach Europa kommen mögen, auf das sie ihnen bitte die Zivilisation brächten.

Doch wie alle Sandwichkinder darf die Mittelsteinzeit nicht unterschätzt werden. Es handelt sich um jene Epoche, in welcher der Mensch mit den massiven Auswirkungen einer Klimaerwärmung am Ende der letzten Eiszeit zu kämpfen hatte. Auf einmal gab es Meere, wo früher Land gewesen war und die Grassteppen wurden zu Wäldern. Die großen Pferde- und Rentierherden wanderten fort und wurden abgelöst von Rothirschen, Rehen und Wildschweinen. Und der Mensch tat, was er wohl am besten kann: Er passte sich den landschaftlichen und ökologischen Veränderungen an. Auch gaben die Prozesse der Klimaerwärmung nun Landschaften frei, die bis dahin unbegehbar gewesen waren. Eine dieser Regionen waren die Alpen, ein Gebiet von über 200.000 km2. Allein in den heutigen Bundesländern Vorarlberg und Tirol sind bisher über 200 mittelsteinzeitliche Fundstellen bekannt. Eine der größten Ansammlungen findet sich im Kleinwalsertal in der nordöstlichsten Ecke Vorarlbergs. Hier wurden in den letzten dreißig Jahren über 90 archäologische Fundstellen verschiedener Größe und Funktion kartiert.

Wenn Steine sprechen – die mittelsteinzeitliche Landschaft Kleinwalsertal

Im Rahmen meiner Dissertation beschäftige ich mich mit der archäologisch überaus interessanten Landschaft des Kleinwalsertales und ihren mittelsteinzeitlichen Fundstellen. Die zentrale Fragestellung, die ich im Rahmen dieser Arbeit beantworten will, ist: In welchem Zeitrahmen wurde die mesolithische Landschaft des Kleinwalsertales genutzt und wie genau sah diese Nutzung aus?

Die Datengrundlage zur Beantwortung dieser Frage stellen die Arbeiten der Heimatforscher Giuseppe Gulisano, Peter Wischenbarth, Karl Keßler, Detlef Willand und Armin Guggenmos sowie die Ausgrabungen des Institutes für Archäologien und des Forschungszentrums HiMAT (beide Leopold-Franzens-Universität Innsbruck) dar. Ausgangspunkt der Untersuchungen sind die drei ausgegrabenen mittelsteinzeitlichen Fundstellen Schneiderküren, Egg-Schwarzwasser und Bäramähder. Zuerst wurden deren Grabungsbefunde räumlichen und fundortinternen Analysen unterzogen, um eventuelle Arbeitsbereiche innerhalb der Lagerstellen feststellen zu können. Danach wurden die knapp 11.000 Steinartefakte dieser drei Fundstellen mittels morpho-technologischen und typologischen Analysen untersucht. Diese geben Rückschlüsse auf die Art, wie und mit welchem Werkzeug die Steinartefakte von ihrer ursprünglichen Knolle abgeschlagen und welche Modifikationen an ihnen angebracht wurden.

86 bisher nicht ausgegrabene Fundstellen wurden 2018 und 2019 auf ihre topographischen Gegebenheiten (topografische Position in der Landschaft, z.B. auf einem flachen Hügel gelegen oder in einer Senke; Nähe zu Wasser; Exposition; etc.) hin begangen und untersucht. Die so erbrachten Daten wurden in das Geoinformationssystem QGIS eingespeist. Momentan werden diese im Rahmen weiterführender GIS-Analysen untersucht und werden in der Folge helfen, die mittelsteinzeitlichen Mobilitätsmuster und die Wahl der Lagerplätze der steinzeitlichen Menschen besser zu verstehen. Durch die Untersuchungen der letzten Jahre und die so entstandenen Daten können nun erste Antworten zur Nutzung dieser inneralpinen steinzeitlichen Landschaft gegeben werden.

Das mittelsteinzeitliche Kleinwalsertal – erste Antworten und noch mehr Fragen

Die regelmäßige Begehung des Kleinwalsertales scheint mit der zweiten Hälfte des 8. Jahrtausends v. Chr. zu beginnen, was aus dem ältesten 14C-Daten der Region aus der Oberflächenfundstellen Bärgunt-Lager hervorgeht. Die Nutzung des Tales dauerte das 7. und 6. Jahrtausend v. Chr. hindurch bis zum Beginn der Jungsteinzeit an, war aber vermutlich saisonal begrenzt auf die milderen Monate des Jahres. Interessant ist zudem eine 14C-Probe der Fundstelle Schneiderküren, die mit 5.300–5.000 v. Chr. in eine Zeit datiert, in der sich Ackerbau und Viehzucht im Alpenvorland bereits etabliert hatten. Allerdings gibt es in den vorhandenen Pollenprofilen keine Hinweise auf eine veränderte Nutzung der Region während der ersten Jahrhunderte der Jungsteinzeit im Sinne von Weidezeigern wie Sauerampfer und Brennnessel oder erhöhten Rodungsaktivitäten. Dies würde wiederum auf eine andauernde „mesolithische“ Lebensweise innerhalb des Kleinwalsertales parallel zu den jungsteinzeitlichen Gesellschaften hindeuten.

Doch was machte das Kleinwalsertal so attraktiv für mittelsteinzeitliche Wildbeutergruppen? Hierbei waren wohl mehrere Gründe ausschlaggebend: Zum einen bildet das Tal durch seine Lage am Rand des Alpenvorlandes einen Zugang zu den inneralpinen Tälern. Zum anderen weist es mit der lokalen subalpinen und alpinen Fauna und Flora ein reiches Angebot an Nahrung und Ressourcen auf, beispielsweise Felle und Leder für Kleidung oder Geweih, Knochen und Holz für Werkzeuge. Einen weiteren wichtigen Faktor stellen jedoch die lokalen Radiolarit- und Hornsteinlagerstätten im Süden des Tales dar. Die auffällig gefärbten roten, blauen und grünen Gesteine stellen die vorrangige lokale Ressource zur Herstellung von mittelsteinzeitlichen Werkzeugen und Waffen dar.

Allerdings können uns Feuersteine auch Informationen über die überregionalen Kontakte des Kleinwalsertales geben. So wurden die Feuersteinvarietäten der Fundstellen Schneiderküren und Egg-Schwarzwasser, der zwei größten Fundensembles der Region auf ihre Provenienz hin untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass nicht nur die lokalen Rohmaterialien, sondern auch Feuersteine aus den Vorkommen des bayerischen Donaubeckens um Regensburg Verwendung fanden. Zum anderen wurden in der Fundstelle Egg-Schwarzwasser auch mehrere Artefakte gefunden, die aus Feuerstein aus dem Gebiet des Nonstals/Val di Non auf der Südseite des Alpenhauptkamms hergestellt wurden.

Weitere überregionale Einflüsse zeigen sich in den Formen der Pfeilbewehrungen der Fundstelle Schneiderküren. So finden sich Spitzen mit einer bearbeiteten Basis, die typisch für die Mittelsteinzeit des süddeutschen Raumes sind. Andererseits treten sehr schlanke Spitzen mit Basisbearbeitung auf, die sonst hauptsächlich in der Westschweiz und Ostfrankreich verbreitet sind. Zudem kommen typische südostfranzösische bzw. norditalienische Formen am Schneiderküren in Form von schlanken ungleichschenkligen Dreiecken mit drei bearbeiteten Kanten vor.

Somit weisen die Funde der Fundstellen Schneiderküren und Egg-Schwarzwasser Einflüsse von verschiedenen Seiten des Alpenbogens auf. Die Alpen waren somit, obwohl sicherlich eine natürliche Grenze, keine unüberwindbare Barriere, sondern vielmehr eine Brücke zwischen den Regionen. Es ist allerdings nicht klar, wie diese Einflüsse zu werten sind. Können wir von einem tatsächlichen Kontakt zwischen den verschiedenen Jäger- und Sammler-Gruppen ausgehen? Und wenn es zu tatsächlichen Kontakten kam, wie sahen diese aus? Handelte es sich um gezielte Treffen oder um reinen Zufall? Und war diese Begegnung ein freundlicher Austausch oder konfliktbeladen? Und so scheint es zu guter Letzt, als ob die Beantwortung der ersten Fragen zur Nutzung des Kleinwalsertales immer noch weitere interessante Fragen zum mittelsteinzeitlichen Leben aufwerfen, die auch in Zukunft beantwortet werden wollen.

Dank

Die Autorin dankt: Gemeinde Mittelberg; Walsermuseum Riezler; Birgit Gehlen (Universität Köln); Michael Brandl (OREA, Österreichische Akademie der Wissenschaften); Armin Guggenmos, Giuseppe Gulisano, Karl Keßler und Detlef Willand; Wissenschaftsförderung des Landes Vorarlberg; Verein Landschaftsschutz Kleinwalsertal.


(Caroline Posch)


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Caroline Posch studierte Ur- und Frühgeschichte in Innsbruck. Sie beschäftigt sich seit 2016 im Rahmen ihrer Dissertation „Das Kleinwalsertal. Eine mesolithische Siedlungskammer mit weitreichenden Kontakten“ mit der Mittelsteinzeit in den Alpen Westösterreichs. Das Projekt, welches dem FZ HiMAT angegliedert ist, wurde durch das Vizerektorat für Forschung der Universität Innsbruck und ein DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gefördert. Neben ihrer Arbeit mit mittelsteinzeitlichen Feuersteinartefakten aus Fundstellen in Österreich und Italien, dokumentierte sie während des Projektes „Amber for Artemis“ einen Teil der Bernsteinfunde des Artemisions von Ephesos. Seit 2016 ist sie freie Mitarbeiterin der Stadtarchäologie Hall im Rahmen des museumspädagogischen Programms.

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