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SCHNELL GENAU UMFASSEND
Kapitel 11
Rechtsanwendung und logisches Schliessen, Auslegung, System, Methode und Begriffsbildung sind – wie vieles andere mehr – weithin ein Geschenk der alten Griechen an Rom und uns. Vor allem die griechische Philosophie, aber auch ihre Rhetorik, Grammatik und Logik hatten nahezu moderne Standards geschaffen, die das spätere Rechtsdenken nur zu übernehmen brauchte. – Aber auch das ‚reine’ Rechtsdenken der alten Griechen war viel entwickelter, als dies üblicherweise angenommen wird. Insgesamt gebührt ihnen am europäischen Rechtsdenken ein deutlich größerer Anteil als den Römern. Aber offenbar gilt auch für das Rechtsdenken die historische Maxime, dass der Sieger die Geschichte schreibt. Dazu ist allerdings anzumerken: Auch die Griechen haben manches übernommen, von Ägypten, Mesopotamien oder Persien. – Aber bei einem genauen Rückblick zeigt sich, dass nahezu alles, das Privatrecht vorerst ausgenommen, griechischen Ursprungs ist: Gesetz, Gesetzespräambel, die Idee der Verfassung samt Normenkontrolle und minutiösem Gesetzgebungsverfahren, der Kodifikationsgedanke, die Unterscheidung in Privatrecht und öffentliches Recht (samt der Ausformung zwischen dem Verfassungs- und Verwaltungsrecht), das Völker-, Natur- und Fremdenrecht, wie die Entwicklung des Handels-, Straf- und Verfahrensrechts. – Das römische und unser Privatrecht verdanken den alten Hellenen mehr als bisher tradiert wurde. – Die Griechen hatten als begabtes Handelsvolk auch eine hoch entwickelte Kautelarjurisprudenz geschaffen, die nicht nur alle Basis(rechts)institute kannte, sondern auch höchste schöpferische Ausformungen wie das Register-, Archiv-, Urkunden- und Notariatswesen, samt einem modernen Sachenrecht mit Grundbuch und Publizitätsprinzip. Die Vorläufer des modernen anwaltlichen Rechtsvertretungswesens waren die griechischen Rhetoren, Logographen und Bankjuristen/Trapezites, die den Römern schon um die Zeit des Zwölftafelgesetzes ein hoch entwickeltes Geld- und Bankwesen vermittelten. Dazu kannten sie – anders als die Römer – die direkte Stellvertretung und hohe Entwicklungsformen von Zession und Anweisung oder des Vertrags zugunsten Dritter. Der Persönlichkeitsschutz ist ebenso griechischen Ursprungs wie die Unterscheidung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Zufall. (Das klassische römische Recht ist nicht über diese griechische Entwicklungsstufe hinausgekommen; die Unterscheidung von Fahrlässigkeitsstufen ist erst Justinianischen Ursprungs.) Im Erbrecht ist die amtlich-staatliche Einweisung ins Erbe ebenso griechischer Herkunft wie das Parentelsystem und wahrscheinlich auch schon die Universalsukzession. Die wichtigen Eigentumsformen waren ihnen ebenso geläufig wie ihr effizienter Schutz oder erste Ansätze eines gutgläubigen (Eigentums)Erwerbs. Ohne einen eigenen Begriff dafür zu besitzen kannten sie den Eigentumsvorbehalt oder Mehrfachverpfändungen von Liegenschaften, von den Hypotheken ganz abgesehen. Auch die Anfänge eines Berücksichtigens von Willensmängeln stammt aus der Heimat von Platon, Aristoteles, Theophrast, Demosthenes ua, die auch disziplinär und methodisch schöpferisch tätig waren: Sie entwickelten nicht nur die Rechtsphilosophie, die Legistik als wissenschaftliche Gesetzeskritik und die Rechtspolitik (samt Ansätzen zur Rechtstatsachenforschung und Rechtssoziologie), sondern im Rahmen der in der zweiten Hälfte des 4. Jhds v. C. vehement einsetzenden Ausformungen wissenschaftlicher Einzeldisziplinen auch die geschichtliche (Rechtsgeschichte) und die vergleichende Betrachtung des Rechts und in diesem Kontext schießlich die Anfänge der abendländischen Rechtswissenschaft, die somit schon im Griechenland des ausgehenden 4. Jahrhunderts v. C. entstanden ist und nicht erst in Rom. Das griechische Rechtsdenken hat auch schon so schwierige und artifizielle Materien wie das internationale Privat- und öffentliche Recht hervorgebracht, indem es bspw für Koloniegründungen Kollionsregeln schuf; und dies seit der Wende vom 7. zum 6. Jhd v. C.
Überblick
Ein letzter Gedanke: Der juristische Syllogismus und der gesamte Bereich des rechtlichen Methodeneinsatzes machen ua deutlich, dass die europäische Jurisprudenz aus dem Schosse der griechischen Philosophie entstanden ist. Die geisteswissenschaftlich-hermeneutischen Eierschalen sind nur allzu deutlich noch wahrnehmbar. Die in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. C. in Griechenland entstandene europäische Rechtswissenschaft erweist sich schon in ihrem Ursprung als Mischdisziplin, angesiedelt zwischen mehreren damals ebenfalls aus der Philosophie entstandenen Disziplinen: insbesondere der Philosophie selbst, der Ethik, der Politik, der Rhetorik, die bereits beachtliche psychologische Elemente kennt und was wir heute sozialwissenschaftliche Ansätze nennen würden.
A. Kleine Methodenlehre
Literaturquelle
I. „Legitimation” durch Verfahren
Wie andere Wissenschaften, hat auch die Rechtswissenschaft „Methoden” entwickelt. Sie stammen im Wesentlichen von den alten Griechen, deren Philosophie die Grundlagen der modernen Wissenschaften und auch der Rechtswissenschaft geschaffen hat. Methoden sollen die Schritte einer Disziplin leiten, nachvollziehbar machen und zudem – im besten Fall – eine Art Korrektheits- und Gerechtigkeitsgewähr dokumentieren. Dieses Bemühen beginnt im griechischen und römischen Recht und wird inbesondere im 19. und 20. Jhd vertieft. – Die Luhmannsche Formel der „Legitimation durch Verfahren” ist auch – neben dem Verfahren iSv Prozess – auf das korrekte „Verfahren” des Rechtsanwenders bei seiner Entscheidungsfindung (unter Einhaltung der anzuwendenden Methoden) zu beziehen.
Allein wir müssen uns im Klaren sein: Es gibt keinen verbindlichen juristischen Methodenkanon, der uns im Einzelfall lehrt, wann, welche Methode, wie anzuwenden ist. Das Heranziehen bestimmter juristischer Methoden hat daher viel mit fachlichem Geschick, ja Kunstfertigkeit zu tun. Denn: Überall dort, wo interpretiert wird, gelangen wir an die Grenzen einer Wissenschaft oder Überschreiten diese Grenzen in Richtung Kunst. – Es ist daher kein Vergreifen im Ausdruck, wenn der Römer Ulpian (iSd griechischen Tradition) Recht definiert als: ars aequi et boni, also die Kunst des Gerechten und Guten.
Existiert ein verbindlicher Methodenkanon?
Und darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass ein rein formales Orientieren an rechtlichen Methoden noch nicht die Richtigkeit oder gar die Gerechtigkeit einer Entscheidung verbürgt. Eine juristische Entscheidung kann methodisch korrekt und dennoch falsch und ungerecht sein. – Das Problem liegt darin, dass in rechtlichen Entscheidungen (aller Art) immer wieder gesellschaftliche Werturteile zu fällen sind – und zwar offen oder verdeckt – und diese Werturteile unterschiedlich ausfallen können, je nach der sie handhabenden Persönlichkeit und deren Sozialisation; zB: Ist eine bestimmte Darstellung persönlichkeits(rechts)widrig? Oder ein Werbeplakat sittenwidrig?
Werturteile
Es ist daher schon sehr viel, wenn wir uns des Einflusses von Werten und Bewertungen im Rahmen der rechtlichen Entscheidungsfindung bewusst werden. Das sollte zur Folge haben, bewusst getroffene Wertungen offenzulegen, um sie nachvollziehbar zu machen. – Misstrauisch sollten Sie immer dann werden, wenn jemand von sich behauptet, dass er (im Gegensatz zu anderen) nicht werte! – All das dispensiert jedoch nicht davon, sich um größtmögliche Objektivität zu bemühen!
Zur Methode als „Nachweg” → Methode als „Wegweiser“ und „Nach-Weg“ – Zum Umgang mit Werturteilen vgl ”Vorbemerkungen”.
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II. Methodenbewusstsein und Rechtspraxis
In der Rechtspraxis spielt das Methodenbewusstsein oft eine nachgeordnete Rolle. Franz Gschnitzer hat dies einmal so umschrieben: Viele Rechtsanwender suchen zuerst ein vernünftiges Ergebnis und kleiden dieses nachträglich in ein methodisches Gewand, um es (wenigstens) nachträglich zu immunisieren. – Man könnte auch bildlich sagen: Ein Rechtsanwender bäckt zuerst seinen Gugelhupf (= Ergebnis) und übergießt ihn nach gelungener Arbeit mit einer Schokolade- oder Zuckerglasur (= Methode). Ein solches Vorgehen stellt natürlich nicht den Idealfall methodischen Vorgehens dar. Die Bedeutung theoretisch-methodischen Denkens muss zwar ernst genommen, darf aber auch nicht zum Selbstzweck werden. Das gilt in besonderer Weise für ein Rechtsgebiet wie das bürgerliche Recht / Privatrecht mit seinen unmittelbaren Lebensbezügen; Geburt, Tod, Erbschaft, Heirat, Kinder, Erziehung, Kauf und Arbeit. – Aber es braucht Regeln, um eine geordnete Rechtsfindung zu ermöglichen. Dabei gilt: Weniger, ist oft mehr!
Gugelhupf mit Zuckerglasur?
Die folgende „kleine Methodenlehre” enthält die wichtigsten Schritte dieses Bereichs, sollte aber nicht dazu verleiten, das Dargebotene für vollständig anzusehen.
Zu den Begriffen „Recht” und „Gesetz”, „right” und „law”, heute und in der Rechtsgeschichte → KAPITEL 1: Recht im objektiven und subjektiven Sinn.
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III. Methode und Einheit der Rechtsordnung
Zu den Aufgaben juristischer Methode gehört es auch, den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung zu fördern. Dies indem zB unterschiedliche Rechtsbereiche sinnvoll aufeinander abgestimmt und auftretende Widersprüche in der Rechtsordnung – auch interpretativ – möglichst vermieden werden. Gesetzestechnische Widersprüche – zB eine uneinheitliche Terminologie – und Normwidersprüche (Antinomien) sollen ebenso ausgeräumt werden wie Wertungs- und teleologische Widersprüche, die sich in der Rechtsanwendung oft erst durch historisch-gesellschaftlichen Wandel ergeben.
Widersprüche in der Rechtsordnung
Zu den Derogationsregeln → Formelle und materielle Derogation
Beispiel
Daneben ist es wichtige Gestaltungsaufgabe juristischer Methode, aus der Vielzahl von Normen Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien zu entwickeln und diese immer wieder angemessen an den sozialen Wandel anzupassen. – Auch ein guter Gesetzgeber schafft es nicht, normative Disharmonien völlig zu vermeiden oder eine lückenlose Rechtsordnung zu schaffen.
Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien
Das Bemühen um Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung bedient sich bei der Lösung seiner Aufgaben juristischer Methoden ieS ebenso wie der Derogationsregeln (lex specialis etc) oder der authentischen Interpretation → KAPITEL 11: § 8 ABGB: Authentische Interpretation.
Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung
Rechtssprechungsbeispiel
EvBl 1999/114 → KAPITEL 9: Schadensbegriff, Schadensarten, Schadensfeststellung: Ersatzfähigkeit unerlaubter Vorteile.
Während das Privatrecht seit Alters her viel zur juristischen Hermeneutik beigetragen hat, lässt sich das vom öffentlichen Recht nicht in gleichem Maße behaupten. Das öffentliche Recht erscheint unbewusster und zurückhaltender im offenen Umgang mit Auslegungsmethoden; vgl aber Th. Öhlinger, Verfassungsrecht 29 ff (19973). – Aber auch das Verfahrensrecht wendet, obgleich dem öffentlichen Rechte angehörend, privatrechtliche Auslegungsfiguren an.
Rechtssprechungsbeispiel
EvBl 1999/89: Teleologische Reduktion im Grundbuchsverfahren: § 95 Abs 1 GBG.
Hans Kelsen führt zum Wesen der Interpretation in seiner „Reinen Rechtslehre“ 346 (19602) an:
Hans Kelsen zur Interpretation
„Wenn das Recht von einem Rechtsorgan anzuwenden ist, muß dieses den Sinn der von ihm anzuwendenden Normen feststellen, muß es diese Normen interpretieren. Interpretation ist somit ein geistiges Verfahren, das den Prozeß der Rechtsanwendung in seinem Fortgang von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe begleitet. [Zur Merkelschen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung → KAPITEL 1: Stufenbau der Rechtsordnung] In dem Fall, an den zumeist gedacht wird, wenn von Interpretation die Rede ist, im Falle der Gesetzesinterpretation, soll die Frage beantwortet werden, welcher Inhalt der aus der generellen Norm des Gesetzes in ihrer Anwendung auf einen konkreten Tatbestand zu deduzierenden individuellen Norm eines richterlichen Urteils oder eines Verwaltungsbescheides zu geben ist. Aber es gibt auch eine Interpretation der Verfassung, sofern es eben gilt, die Verfassung – im Gesetzgebungsverfahren, bei Erlassung von Notverordnungen oder sonstigen verfassungsunmittelbaren Akten – auf einer niederen Stufe anzuwenden; und eine Interpretation völkerrechtlicher Verträge oder der Normen des allgemeinen Gewohnheitsvölkerrechts, wenn diese oder jene in einem konkreten Fall von einer Regierung oder einem internationalen oder nationalen Gericht oder Verwaltungsorgan anzuwenden sind. Und es gibt ebenso eine Interpretation von individuellen Normen, richterlichen Urteilen, Verwaltungsbefehlen, Rechtsgeschäften usw., kurz aller Rechtsnormen, sofern sie angewendet werden sollen.
Aber auch die Individuen, die das Recht – nicht anzuwenden, sondern – zu befolgen haben, indem sie das die Sanktionen vermeidende Verhalten an den Tag legen, müssen die von ihnen zu befolgenden Rechtsnormen verstehen und daher ihren Sinn festhalten. Und schließlich muß auch die Rechtswissenschaft, wenn sie ein positives Recht beschreibt, dessen Normen interpretieren.
Damit sind zwei Arten von Interpretationen gegeben, die voneinander deutlich unterschieden werden müssen: die Interpretation des Rechts durch das rechtsanwendende Organ, und die Interpretation des Rechts, die nicht durch ein Rechtsorgan, sondern durch eine Privatperson und insbesondere durch die Rechtswissenschaft erfolgt.” (Hervorhebungen von mir)
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B. Die Rechtsanwendung
I. Der „erste” Fall
1. Rechtsanwendung: Herzstück der Jurisprudenz
Die Frage, die wir idF klären wollen, ist die, wie in der Rechtspraxis eine verbindliche Entscheidung – zB ein Urteil – zustande kommt, welche Schritte dazu notwendig und wie diese Schritte beschaffen sind. – Wir beginnen mit einem praktischen Fall und gewinnen dabei einen ersten Eindruck (I), um schließlich das, was in dieser Entscheidung gemacht wurde, zu reflektieren.
Die Rechtsanwendung ist das Herzstück der Jurisprudenz, ihr Verständnis daher von größter Bedeutung. Im Rahmen der Rechtsanwendung ist es oft nötig, Gesetze oder Verträge / Rechtsgeschäfte auszulegen. Darin liegt eine wichtige juristische Aufgabe.
Für Lehrende und Lernende ist zu bedenken, dass die Rechtsanwendung keine einfache Sache ist und neben Wissen auch Übung und Erfahrung benötigt. Die folgenden Ausführungen sollen dabei eine erste Hilfestellung sein.
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2. Sein und Sollen
Die folgenden Ausführungen bieten Gelegenheit, kurz auf die Frage von „Sein” und „Sollen” einzugehen, zwei Bereiche der menschlichen Erfahrungswelt, die sich in der Rechtsanwendung berühren, aber zu unterscheiden sind. Der (österreichische) Rechtspositivismus hat in dieser Frage wichtige Klärungen getroffen.
Wir begegnen idF (Lehre vom Rechtssatz und Rechtsanwendung und Subsumtion) Begriffen – nämlich Tatbestand, Rechtsfolge und Sachverhalt –, die rechtslogisch verschiedenen kategorialen Ebenen angehören, was deutlich gemacht werden soll: Sein(s-) und Sollen(sbereich) sind zwar auseinanderzuhalten, wenngleich aus methodischem Purismusstreben nicht übersehen werden soll, daß Übergänge bestehen. – Der Sachverhalt entstammt dem Seinsbereich, soll aber idF rechtlich beurteilt werden; Tatbestand und Rechtsfolge dagegen gehören dem Sollensbereich an, sind aber (im Rahmen der konkreten Rechtsanwendung) wiederum darauf gerichtet, (erneut) einen bestimmten Seinszustand – und zwar idR einen anderen als den vor dem Verfahren! – (wieder)herzustellen. Nötigenfalls durch staatlichen Zwang → KAPITEL 1: Frieden und Ordnung als Rechtsfunktionen.
Zusammenwirken von Seins- und Sollensbereich
Es stellt eine Schwäche der „Reinen Rechtslehre” dar, nicht gesehen zu haben, dass es im Rechtsdenken zwischen dem Seins- und Sollens-Bereich zahlreiche Übergänge und Wechselbeziehungen gibt, geben muss. Das beginnt bei Kelsens Grundnorm und reicht bis zum hier erwähnten Umschlagen der Sollens- in die Seins-Ordnung (als Ziel rechtlicher Verfahren).
Zur Unterscheidung von Seins- und Sollensbereich ein illustratives Beispiel Robert Walters: Sie stehen als Fußgänger/in vor einer Kreuzung, deren Ampel rot anzeigt (Sollensbereich = Verbot). Ihr/e Kollege/in sagt: „Wollen wir nicht hinübergehen, es kommt ja kein einziges Fahrzeug!” (= Seinsaussage) – Ein allfälliger „positiver Entschluss”, die Kreuzung bei Rot zu überqueren, vermengt Sein und Sollen, schließt rechtlich vom einen, auf den andern Bereich, was rechtlich (von der „Reinen Rechtslehre” Hans Kelsens) verpönt wird.
Beispiel von R. Walter
Beachte
Die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen ist keine reine Juristenerfindung; vielmehr hat sie das Rechtsdenken von der Religion übernommen, was mittlerweile schon fast vergessen ist. Die biblische Schöpfungsgeschichte kennt – wie andere religiöse Texte – mit der Geschichte vom Sündenfall nicht nur die Unterscheidung von Gut und Böse, sondern auch den ontologischen Unterschied zwischen Sein und Sollen. – Die dem Menschen (auch ohne religiösen Bezug) abgeforderte Entscheidung zwischen Gut und Böse, Sein und Sollen, eröffnet aber auch den (rechtlich bedeutsamen) Raum für die menschliche Freiheit, die sich so oder so – also grundsätzlich für beide – entscheiden kann. Die nur scheinbar rein juristische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen erweist sich demnach – eine Schichte tiefer – als Voraussetzung menschlich-gesellschaftlicher Entscheidungsfreiheit.
Vorbild Bibel?
Allein dieser kleine Rekurs zeigt uns, dass die von der Reinen Rechtslehre eingeforderte strikte Trennung dieser beiden Bereiche weder rechtlich durchzuhalten, noch menschlich sinnvoll ist. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass die Freiheit der Entscheidung keine Beliebigkeit eröffnet, sondern mit Verantwortung getroffen werden soll und muss und die Kategorie der Verantwortung sowohl eine Seins-, als auch eine Sollensdimension aufweist. Dazu kommt, dass das Sollen typisch darauf abzielt, einen unerwünschten Seinsbereich in einen erwünschten überzuführen oder einen bestehenden Seinsbereich zu erhalten.
Literaturquelle


Sein und Sollen (1)
Abbildung 11.1:
Sein und Sollen (1)


Sein und Sollen (2)
Abbildung 11.2:
Sein und Sollen (2)


Sein und Sollen (3)
Abbildung 11.3:
Sein und Sollen (3)
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3. EvBl 1983/90: Ein Langlaufunfall
Klägerin = verletzte Schilangläuferin, Beklagter = Fremdenverkehrsverein als Loipenbetreiber / -halter.
(Lebens)Sachverhalt: Der Fremdenverkehrsverein R. (= Beklagter) betreibt im Gemeindegebiet eine Langlaufloipe. Im Bereich der Kreuzung dieser Loipe mit einem Gemeindeweg kam am 20.1.1981 eine Schilangläuferin (= Klägerin) zu Sturz und verletzte sich dabei schwer.
Sachverhalt
Der beklagte Fremdenverkehrsverein lässt die Loipe täglich mittels eines Spurgeräts präparieren. Die Unfallstelle wird dabei gegen 9 und 10 Uhr durchfahren. Außerdem geben dem Beklagten die dort tätigen Langlauflehrer Hinweise auf eventuelle Hindernisse. Einen eigenen Auftrag dazu erteilte ihnen der Beklagte jed Vorbild Bibel? och nicht.
Im Zuge von Schneefräsearbeiten der Gemeinde kam es bei der Kreuzung der Loipe mit einem Gemeindeweg zu einer 80 cm tiefen Stufe in der abfallenden Loipe. Auf das Gefälle wurde 150 m vor der Stelle durch eine Tafel hingewiesen; „Achtung fallendes Gelände”! Die Klägerin – eine etwa 70 Jahre alte Dame – wollte die Kreuzung in Schussfahrt passieren. Ein vor ihr dort gestürzter Langläufer versuchte sie durch Winken vor der Gefahrenstelle zu warnen, worauf sie nur rief, man solle die Bahn freigeben. Erst aus einer Entfernung von etwa 1 1/2 m erkannte die Klägerin die Gefahr der Stufe, konnte aber nicht mehr anhalten und kam zu Sturz.
Der relevante Tatbestand des § 1319a ABGB (sog Wegehalterhaftung → KAPITEL 10: Die Wegehalterhaftung des § 1319a ABGB):
Tatbestand
„Wird durch den mangelhaften Zustand eines Weges ein Mensch getötet, an seinem Körper oder an seiner Gesundheit verletzt oder eine Sache beschädigt, so haftet derjenige für den Ersatz des Schadens, der für den ordnungsgemäßen Zustand des Weges als Halter verantwortlich ist, sofern er oder einer seiner Leute den Mangel vorsätzlich oder grob fahrlässig verschuldet hat ....”
Wir haben nunmehr die beiden (Eck)Pfeiler der Rechtsanwendung kennengelernt: (Lebens)Sachverhalt und gesetzlicher Tatbestand. Die konkrete Rechtsanwendung / -findung erfordert nun ein ständiges Hin- und Herwandern des „Blicks” von der einen zur andern Seite (vom Seins- zum Sollensbereich!), zumal der (konkrete) Sachverhalt mit dem (abstrakten) Tatbestand auf Übereinstimmung geprüft werden muss. Denn nur dann kann der jeweilige Tatbestand auf einen Sachverhalt angewendet werden. – Gefahren und Fehlermöglichkeiten tun sich im Rahmen der Rechtsanwendung sowohl auf der Tatbestands-, wie der Sachverhaltsseite auf: Man presst zB in den Sachverhalt etwas hinein, was der Wirklichkeit nicht entspricht (oder vergisst etwas wesentliches) oder legt einen Tatbestand zu weit oder zu eng aus oder stützt sich gar auf den falschen. Grund dafür kann eigenes Interesse, also Voreingenommenheit sein, aber auch ein Irrtum. Aufgabe der Rspr ist es, „Toleranzbreiten” der Interpretation von Normen festzulegen, die nicht über- und unterschritten werden dürfen.
Konkrete Rechtsanwendung
Sehen wir uns in der Folge also an, wie der OGH an diesen Fall herangeht, welche Fragen er (näher) untersucht und wie er schließlich entscheidet. Mehr zur Vorgangsweise dann unter: Subsumtion.
Aus dem Urteil des OGH: Als Weg iSd § 1319a ABGB sind anerkanntermaßen auch alpine Skipisten anzusehen. Um so mehr sind dieser Bestimmung auch Langlaufloipen zu unterstellen, die einem Weg im üblichen Sinn noch viel ähnlicher sind. – [Die richterliche / juristische Auslegungsarbeit besteht hier also darin, den Gesetzesterminus des § 1319a ABGB, wo von „Weg” gesprochen wird, im konkreten Fall auf Skipisten – und hier auf eine Langlaufloipe – anzuwenden.]
Unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a ABGB ist eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlicher Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist. [Zu den Verschuldensgraden und ihrer Bedeutung → KAPITEL 9: Abgestufte Verschuldenshaftung.]
Überlege: Warum geht der OGH hier so zielstrebig auf grobe Fahrlässigkeit los? § 1319a Abs 1, Satz 1 Ende ABGB enthält die Lösung: „ ... vorsätzlich oder grob fahrlässig verschuldet hat ....” – Ein Schadenersatzanspruch nach dieser Gesetzesstelle setzt nämlich – anders als im Normalfall (!), wo schon für leichte Fahrlässigkeit einzustehen ist – grobe Fahrlässigkeit voraus.
Das Vorhandensein einer 80 cm hohen Stufe in einer Langlaufloipe schafft eine ungewöhnliche gefährliche Situation. Zwar muss ein Langläufer die für diese Sportart typischen Risiken eingehen, doch braucht er nicht mit solchen ungewöhnlichen Gefahrenquellen zu rechnen. Vor derartigen atypischen gefährlichen Hindernissen muss vielmehr der Loipenhalter die Langläufer schützen.
Bei größerem Schneefall muss mit einer Schneeräumung durch die Gemeinde immer gerechnet werden und ebenso mit durch Schneefräsen entstehenden Stufen in der Loipe. Der Beklagte hätte zum einen seinen Loipendienst mit der Schneeräumung der Gemeinde koordinieren müssen, um allfällig auftretende Hindernisse sofort beseitigen zu können. Zum anderen hätte er für den Fall kurzfristiger Überschneidungen mit einer Warntafel auf die Wegkreuzung hinweisen müssen. [Noch besser wäre eine kurzfristige Sperre der Loipe gewesen.]
Dieses doppelte Versäumnis ist dem Beklagten als grobe Fahrlässigkeit anzulasten. Jedoch wäre auch die Klägerin verpflichtet gewesen, auf den Zustand der Loipe Bedacht zu nehmen und sich in ihrer Laufweise den Gegebenheiten anzupassen. Sie hat jedoch die Wegkreuzung im Bereich eines für Langläufer immer gefährlichen Gefälles erst zu spät bemerkt. [?] Darüber hinaus reagierte sie nicht auf die Tatsache, dass ein anderer Skifahrer angehalten hatte und ihr mit den Skiern Warnzeichen gab. Sie handelte damit sehr unvorsichtig, sodass die Annahme gleichteiligen Verschuldens gerechtfertigt ist. [Welche Rechtsfigur wendet hier der OGH auf die Langläuferin an? → Rechtsanwendung und Subsumtion] Die Annahme eines 50%igen Mitverschuldens der Klägerin erscheint sehr hart!
Beachte
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II. Die Lehre vom Rechtssatz
Paragraphen / Rechtsnormen / Rechtsvorschriften – diese Begriffe sind Synonyma – stellen rechtstechnisch sog Rechtssätze dar; daher Lehre vom Rechtssatz. Rechtssätze sind Sollenssätze und besitzen idealtypisch folgenden (inneren) Aufbau:
Wenn A ist (= Tatbestand), soll (= Rechtsfolgeanordnung) B sein (= Rechtsfolge). – Man kann daher vereinfachend sagen: Paragraphen bestehen aus Tatbestand und Rechtsfolge.
Beachte


Was ist Tatbestands-, was Rechtsfolgeelement?
Abbildung 11.4:
Was ist Tatbestands-, was Rechtsfolgeelement?
Zur Unterscheidung verschiedener Arten von Gebots- und Verbotsnormen → KAPITEL 10: Zur Haftung aus einer Garantenstellung.
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III. Rechtsanwendung und Subsumtion
1. Der Sachverhalt
Um einen „Fall” rechtlich entscheiden zu können, bedarf es weiterer begrifflicher Unterscheidung. Ein dritter Begriff, der Sachverhalt, tritt neben Tatbestand und Rechtsfolge. – Sachverhalt ist das, was sich tatsächlich in der Außenwelt(= Seinsbereich) zugetragen hat; zB ein Verkehrsunfall oder – wie in unserem Beispiel – ein Unfall beim Langlaufen. Dieser konkrete ( Lebens)Sachverhalt muss in der Folge gerichtlich erhoben (dh in allen wichtigen Details verbindlich festgestellt) und schließlich rechtlich beurteilt werden.
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2. Sachverhaltsfeststellung als rechtliche Aufgabe
Ein Sachverhalt besteht meist aus mehreren / vielen Tatsachen / Fakten; rechtlich bedeutsamen und weniger bedeutsamen. Es ist eine wichtige rechtliche Aufgabe, alle rechtlich bedeutsamen, relevanten Tatsachen / Sachverhaltselemente zu sammeln und daraus „den” konkreten, rechtlich relevanten, dem Urteil zugrundezulegendenSachverhaltzusammenzustellen.
Dazu reicht häufig juristischer Sachverstand nicht aus. Sachverständige aus allen Lebensbereichen werden zur Klärung der Faktenlage herangezogen; Buch- oder Verkehrssachverständige, Mediziner, Psychologen, Baumeister, Architekten oder Techniker usw.
Klärung der Faktenlage auch durch Sachverständige
Im Zivilprozess bereitet es in der 1. Instanz oft die größten Schwierigkeiten, den richtigen Sachverhalt festzustellen. Das bringt eine alte – freilich bewusst überspitzt formulierte – Justizregel zum Ausdruck: Dass der Erstinstanzrichter auch (rechtlich) richtig entscheidet, ist nicht so wichtig; wichtig dagegen erscheint, dass er den Sachverhalt korrekt erhebt.
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3. Freie richterliche Beweiswürdigung
Im (Zivil)Prozess müssen relevante / erhebliche Tatsachen bewiesen werden (zur Beweislast → KAPITEL 9: Beweislast und Anspruchsdurchsetzung), was auf verschiedene Weise möglich ist. Tatsachen können bspw durch Urkunden- oder Zeugenbeweis erhärtet oder entkräftet werden; zu den Beweismitteln → KAPITEL 19: Das Verfahren erster Instanz. – Vorsicht ist hier allerdings geboten, zumal sich – wie aus Untersuchungen bekannt – Zeugen/innen auch irren können und nicht immer die Wahrheit sagen; Zeugenabsprachen, oft minutiös (von Rechtsanwälten) vorbereitet, kommen immer wieder vor. Alle Beweise – auch der Zeugenbeweis – unterliegen daher der freien richterlichen Beweiswürdigung; § 272 Abs 1 ZPO.
Literaturquelle


Zum Langlaufloipenfall: EvBl 1983/90
Abbildung 11.5:
Zum Langlaufloipenfall: EvBl 1983/90
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4. Der Subsumtionsvorgang
Rechtliches (Be)Urteilen, richterliches Entscheiden geht folgenden (logischen) Weg; sog Subsumtion = Unterstellen eines konkreten Sachverhalts unter einen (passenden) abstrakten, gesetzlichen Tatbestand:
Der konkrete Sachverhalt wird einem geeigneten (abstrakt im Gesetz formulierten) Rechtssatz, genauer dessen Tatbestand, unterstellt. – Das erfordert Rechtskenntnis. Man muss wissen, wo sich ein geeigneter Tatbestand im Gesetz findet. – In einem zweiten Schritt wird die in diesem Rechtssatz (abstrakt formulierte) Rechtsfolge auf den „konkreten Fall” (= Sachverhalt) übertragen. – In unserem Beispiel wird der erhobene Sachverhalt des Langlaufunfalls dem abstrakten Rechtssatz / Tatbestand des § 1319a ABGB (Wegehalterhaftung) unterstellt, weil dieser auf unseren Sachverhalt passt. Die in § 1319a ABGB (abstrakt) angeordnete Rechtsfolge („ ... haftet derjenige für den Ersatz des Schadens ...”) wird auf den (konkreten) Fall angewandt. (Dies ist deshalb möglich, weil – wie wir schon gehört haben – der Begriff „Weg”, als Tatbestandselement des § 1319a ABGB, in dieser Gesetzesstelle so verstanden / ausgelegt wird, dass darunter auch eine Langlaufloipe oder Schipiste zu verstehen ist.) – Das heißt: Der beklagte Fremdenverkehrsverein muss der Langläuferin Schadenersatz leisten. Wie viel, muss im Prozess geklärt werden.
Sachverhalt wird Rechtssatz unterstellt
Für jene, die es schon am Beginn des Studiums genauer wissen wollen: Eigentlich wird der Sachverhalt „Langlaufunfall” nicht nur dem Tatbestand des § 1319a ABGB unterstellt / subsumiert, sondern auch dem des § 1325 ABGB und – darüber hinaus – auch noch den §§ 1293–1295 ABGB. Und die Rechtsfolgeanordnungen der §§ 1319a und 1325 ABGB werden durch § 1304 ABGB, der das Mitverschulden „des Beschädigten” regelt, zusätzlich ergänzt. Weil die Langläuferin den Unfall mit-verschuldet hat, erhält sie vom OGH nicht vollen (Schaden)Ersatz, sondern bloß die Hälfte zugesprochen. – Daraus ist zu ersehen, dass Tatbestände nicht nur aus einem (einzigen) Paragraphen bestehen können, sondern auch aus mehreren Normen.
Ein „Tatbestand“ kann auch aus mehreren Paragraphen bestehen
Die Zurechnung von Mitverschulden erfolgt in der Praxis grobschlächtig; nämlich zur Hälfte, einem Drittel oder einem Viertel, selten feiner. – Und darüber, ob ich „dem/r Beschädigten” die Hälfte, ein Drittel oder bloß ein Viertel Mitverschulden zurechne, lässt sich wacker streiten. – Das gilt gerade auch für unseren Fall, in dem der OGH ein sehr problematisches Hälfte(mit)verschulden der Klägerin annimmt. – Dazu kam es auch deshalb, weil der Sachverhalt schlampig erhoben und daher keinesfalls in allen Punkten zutreffend subsumiert wurde. Sowohl dem Anwalt der Klägerin, als auch dem Gericht sind hier Nachlässigkeiten anzukreiden! Versuchen Sie die Schwächen der Sachverhaltsfeststellung und -beurteilung herauszufinden.


Der juristische Syllogismus
Abbildung 11.6:
Der juristische Syllogismus
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IV. Rechtsanwendung und Fallösung
1. Law in the books and law in action
Das Gesetz gibt uns nicht auf alle Fragen eine Antwort. So werden Sie zB vergeblich eine Antwort darauf suchen, was der sog Eigentumsvorbehalt ist → KAPITEL 8: Eigentumsvorbehalt als Warensicherungsmittel. Er ist im Gesetz nicht geregelt. Dies, obwohl er von größter praktischer Bedeutung ist. Er wird auf § 1063 ABGB gestützt, der aber nur den Kreditkauf / Kauf auf Borg regelt → KAPITEL 2: Kreditkauf.
iSv Eugen EhrlichAus dem Gesetz lässt sich also nicht immer alles und vor allem nicht immer das wirklich angewandte (das lebende Recht iS Eugen Ehrlichs) Recht entnehmen. Mitunter unterscheidet sich das tatsächlich gelebte Recht (law in action) von der gesetzlichen Regelung (law in the books) erheblich. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang neben dem Eigentumsvorbehalt auch § 1062 ABGB in Bezug auf die sog Abnahmepflicht von Käufern, die das Gesetz zwar (in der genannten Bestimmung) festlegt, die aber von der Praxis / Rspr – entgegen dem Gesetzeswortlaut – nicht vertreten wird → KAPITEL 7: Keine rechtlich durchsetzbare Abnahmepflicht.
„Lebendes Recht”
Lernen können Sie daraus folgendes: Das Gesetz(buch) ist wichtiges Handwerkszeug des/der JuristenIn. Aber das Gesetzbuch regelt längst nicht alle Rechtsfragen, lässt vielmehr manche Lücke offen, die von den Gerichten (der Rspr / Judikatur) unter Mithilfe des Schrifttums geschlossen wird; und manche Frage, die das Gesetz zwar regelt, wird dennoch von der Rechtspraxis anders gehandhabt; vgl etwa die hPr zu § 429 ABGB (Versendungskauf) → KAPITEL 2: Versendungskauf.
Gesetz(buch) regelt nicht alles
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2. Falllösung
Das Recht lebt in seinen Fällen, nicht in den Gesetzbüchern. Interessant wird ein Befassen mit Recht dann, wenn jemand in der Lage ist, Fälle / Probleme rechtlich zu erörtern und schließlich zu lösen. Lehr- und Gesetzbücher benötigen wir, um Fälle und Probleme zu lösen und jenes Wissen zu erwerben, das uns hilft, Recht sachgerecht anzuwenden.
Wir alle haben in der Kindheit gerne Geschichten gehört. Das rechtswissenschaftliche Studium bietet die Möglichkeit „Geschichten” in abgewandelter Form zu erzählen / zu hören oder doch zu lesen. Die „Geschichten der Rechtswissenschaft” sind ihre „Fälle”, die gerichtlichen Entscheidungen, die zu lesen immer wieder lehrreich ist, mag man mitunter auch anderer Meinung sein als das entscheidende Gericht. Man kann von Fall-Geschichten sprechen.
Fall-Geschichten
Auf die große Bedeutung gerichtlicher Entscheidungen für die juristische (Aus)Bildung soll daher aufmerksam gemacht werden. „Geschichten” helfen uns, sich das Erzählte leichter zu merken. Und gute „Geschichten” verdichten ihr Thema auf das Wesentliche und vermitteln Einsichten in schwierige Fragen auf verständliche Weise. – Kurz: Gute „Geschichten” geben wichtige Einblicke, helfen dabei sich den Stoff leichter zu merken und regen zu eigenem Denken an.
Das Lösen von Fällen ist eine wichtige juristische Aufgabe, die am Beginn des Studiums eine Herausforderung darstellt und daher Unterstützung benötigt. – Sie werden es erleben, dass es zweierlei ist, Recht zu lernen und es zu verstehen, und es in der Folge – anhand zu lösender Sachverhalte – anzuwenden, also selbst Fälle zu lösen. Das erfordert Geduld und Übung. Das Lehrbuch will dabei Hilfe leisten, ohne zu verkennen, dass diese Form der juristischen Tätigkeit nicht die einzige juristische Aufgabe künftiger Tätigkeit darstellt. Hinzuweisen ist daher schon hier, dass die juristische Problemlösung durchaus vielgestaltig auftritt: Neben der üblichen Falllösung bei Gericht, Rechtsanwalt, Notar oder in der Verwaltung gehören hierher auch andere Varianten juristischer Tätigkeit; etwa das rechtsberatende Gespräch, das idR psychologisches Einfühlungsvermögen und Taktgefühl erfordert oder die streitschlichtende juristische Tätigkeit (Mediation), für die ähnliches gilt. (Außergerichtliche) Streitschlichtung ist eine alte juristische Fertigkeit, die nur vorübergehend in Vergessenheit geraten ist und erst jetzt wieder eine Rolle zu spielen beginnt; vgl aber schon die Rolle des „Mittlers” in Goethes „Wahlverwandtschaften” oder das Verständnis von Platon oder Aristoteles vom Recht und der richterlichen Aufgabe als Mitte oder Mittlertätigkeit zwischen den divergierenden (Partei)Interessen. – Auch das Recherchieren von Sachverhalten, eine eminent juristische Tätigkeit, will gelernt sein, wird aber in der Ausbildung meist kommentarlos übergangen. Ähnliches gilt von der Fertigkeit, (gute!) Verträge, Testamente oder andere rechtlich relevante Erklärungen zu entwerfen; sog Kautelarjurisprudenz. – All diese Fertigkeiten benötigen Erfahrung, Zeit und Geduld, um wachsen zu können.
Lösen von Fällen
(Übungs)Fälle / Sachverhalte sollten daher zunächst, um didaktisch hilfreich zu sein, nicht zu schwierig sein. Hier versagen viele Falllösungsbücher. Es ist am Anfang schon schwer genug, einen rechtlichen Sachverhalt ohne „Mascherl” beurteilen zu müssen.
(Übungs)Fälle
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3. Hinweise für das Bearbeiten von (Rechts)Fällen
Zum Fall / Sachverhalt: Grundvoraussetzung jeder Falllösung ist es, den Sachverhalt und die damit verbundene juristische Fragestellung richtig zu erfassen. Fehler, die dabei gemacht werden, verfälschen das Resultat und machen es leicht wertlos. – Tips für die Sachverhaltsaufnahme und –darstellung bei Klausuren und Prüfungen:
Sachverhalt
Der Sachverhalt ist daher aufmerksam – wenn möglich zweimal – durchzulesen und auch in seinen Details ernst zu nehmen; nichts darf hinzugefügt, nichts unterstellt, aber auch nichts weggelassen werden. Wurde nichts anderes ausgeführt, ist von normalen Umständen auszugehen. Manche Fallbearbeitungen gehen fehl, weil wichtige Details übersehen oder neue hinzugedichtet werden.
Sachverhalt aufmerksam durchlesen
Wichtiges im Text sollte – wenngleich sparsam – unterstrichen werden, zB mit Leuchtstift. Aber nicht alles unterstreichen, und besser nicht ganze Sätze, sondern nur Stichwörter. – Wenn möglich sollte eine graphische Skizze angefertigt werden: Das erhöht den Überblick. Die Parteien / Personen des Falls (Erst- / Zweitkläger, Beklagte, dritte Personen von Bedeutung etc) in die Skizze einsetzen. Rechtlich relevante Vorgänge, (Zeit)Abläufe, inbesondere behauptete oder mögliche Ansprüche graphisch darstellen.
Leuchtstift-Skizze
Der Sachverhalt ist nicht moralisch zu bewerten („Besonders verwerflich ist natürlich die Tatsache …”), sondern einer rechtlichen Lösung zuzuführen.
Beim Lösen von Klausurfällen liegen die Dinge einfacher als in der Wirklichkeit. – Der Sachverhalt muss nicht erst aus widerstreitenden (Parteien)Behauptungen und Darstellungen von Sachverständigen, Zeugen oder Urkunden herausdestilliert werden, er ist vielmehr vorgegeben. Strittige Punkte sind meist als solche gekennzeichnet. Der Sachverhalt muss aber insgesamt ernst genommen werden. – Nicht auszuschließen ist, dass die Sachverhaltsdarstellung auch überflüssige, für die Fallbehandlung irrelevante Teile enthält. Sie sind zu übergehen, allenfalls für „unbeachtlich” zu erklären.
Sachverhalt ist ernst zu nehmen
Häufige Fehler im Rahmen der Falllösung:
• Mitunter wird zu rasch mit der Fallbearbeitung begonnen: – eingehendes Textstudium + Anfertigen einer Skizze sind aber ratsam, weil sie bereits ein Überprüfen erster Assoziationen verlangen.
• Der Sachverhalt wird eigenmächtig – ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – abgeändert, um sich in Stoffbereichen zu bewegen, die man beherrscht. Hier wird der ’Wunsch’ zum Vater des Gedankens. – Das führt direkt in die Themenverfehlung und stellt keine Falllösung dar.
• Immer wieder kommt es auch zu einem Abgleiten in andere Probleme, die der Sachverhalt gar nicht stellt, wodurch zumindestens wertvolle Zeit zur Bearbeitung der gestellten Aufgabe verlorengeht. Sollten Sie über genug Zeit verfügen, steht es ihnen immer noch frei, allfällige Randfragen oder Alternativprobleme zu erörtern. Das birgt aber auch Gefahren! Dazu kommt: Eine zielstrebige, klare und nicht ausufernde (Fall)Lösung hat viel für sich und macht einen guten Eindruck.
• Willkürliche Unterstellungen vereinfachen den Fall entweder unerlaubterweise oder erschweren ihn unnötigerweise.
Rechtsansichten der Streitteile, die der Sachverhalt vielleicht wiedergibt, werden in ihrer Bedeutung oft überschätzt.
• Zu argumentieren ist (möglichst genau) an Hand des Gesetzes (wortlauts), nicht aufgrund eigener (oft nur vager) Erinnerung.
Trennen Sie die gestellten Fragen klar auch in Ihrer Antwort. Das erhöht auch ihre juristische Übersicht.
• Gedanklich sollte sich alles klar aneinander reihen. Gedankensprünge sind zu vermeiden! – Kurze, durchdachte Antworten sind vagen Erörterungen vorzuziehen.
• Begründen Sie ihr Vorgehen (Methode), wie ihre Lösung sorgfältig; die Entscheidungsbegründung ist ein hoher juristischer Wert, denn die Jurisprudenz ist eine Argumentationskunst.
Es ist nicht nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, beim Erarbeiten rechtlicher Fragen schematisch vorzugehen. Ein solches Vorgehen erhöht insbesondere auch die Sicherheit in der unangenehmen Prüfungssituation, in der mit Nervosität gerechnet werden muss. Ein solches Arbeitsprogramm hilft geordnet argumentieren, vermeidet Wesentliches zu vergessen oder – besonders häufig – Überflüssiges zu erörtern. Ein (Fall)Schema muss aber nicht (immer) starr eingehalten werden. Eine gewisse logische Reihenfolge ist aber auch arbeitsökonomisch:
Methodisches Vorgehen bei der Fallbearbeitung:
Bei einem Fall mit Auslandsberührung (§ 1 IPRG; Art 1 EVÜ): Vor der Prüfung zivilrechtlicher Anspruchsgrundlagen ist die Frage zu beantworten: Welche Rechtsordnung gelangt zur Anwendung?
Auslandsberührung
Anspruchsgrundlagen sind jene Rechtsnormen, die geeignet sind, das konkrete Begehren einer Partei oder der Parteien – zB auf Schadenersatz oder Leistung einer Sache, rechtlich zu stützen. – Dabei ist ein einfaches Frageschema nützlich, wie: Wer (= Kläger) kann von wem (= Beklagter), was (= Klagebegehren), woraus (= gesetzliche Anspruchsgrundlage) fordern?
Anspruchsgrundlagen
Welche gesetzlichen Normen kommen (überhaupt) für die Anwendung in Frage? Allenfalls: Bestehen zwischen Gesetz und Praxis, Judikatur und Schrifttum Divergenzen? – Etwa beim Verständnis des § 1298 ABGB oder des § 1320 ABGB. – Eine Falllösung im Rahmen einer (schriftlichen) Prüfung, muss sich nicht nur an der Praxis orientieren.
Anwendbare Normen
Vgl dazu gleich unten das „Grobschema für das Suchen und Behandeln von Anspruchsgrundlagen”. – Zur Topik gleich mehr.
Für Klausuren und Diplomprüfungsfälle ist es am besten, von der allgemeinen Fragestellung am Ende der Fallerzählung auszugehen. – Aber Vorsicht: Nicht vorschnell ausschließlich eine Spur verfolgen, sondern immer topisch auch andere Möglichkeiten in Betracht ziehen und sich dann, gewissermaßen im K.O.-System, für eine – die „beste” – Lösung entscheiden. Diese „Wahl” muss solide begründet werden.
Fragestellung am Ende der Fallerzählung
Zur Topik: F. Horak, Rationes decidendi. Entscheidungsbegründungen bei den älteren römischen Juristen bis Labeo 45-64 (1969); zu Begründungen in der Wissenschaft: derselbe, aaO 9-44. – Die Topik geht auf Aristoteles zurück und meint: das Ver-Orten des Problems und seiner Lösung. Das setzt voraus, andere mögliche (Lösungs)Orte zuvor auszuscheiden, was mit Argumenten zu belegen, also zu begründen ist. ZB: Von den (Lösungs)Möglichkeiten 1, 2 und 3 wird 2 gewählt, weil …!
Topik
Hier ist stets zu prüfen: Ist der begehrte oder in Aussicht genommene Anspruch korrekt, also fehlerfrei entstanden? – Oder bestehen Einwendungsmöglichkeiten? Etwa: Gesetz- oder Sittenwidrigkeit nach § 879 ABGB oder das Vorliegen eines Formmangels oder die Möglichkeit der Irrtumsanfechtung. – Und in der Folge ist zu fragen: Besteht der Anspruch noch, selbst wenn er ordnungsgemäß entstanden ist? Oder ist er bereits erloschen? Oder bestehen doch Einredemöglichkeiten (= Geltendmachung eines Gegenrechts); etwa Verjährung, Verzicht, Aufrechnung, Gewährleistung, bereits erfolgte Zahlung oder ist etwa der Anspruch noch gar nicht fällig?
Ist der Anspruch korrekt entstanden?
Wurde ein konkreter (Gesetzes)Tatbestand gefunden (oder mittels der Analogieformen des § 7 ABGB gebildet), sind die dort geforderten Tatbestandselemente aufzulisten und auf Übereinstimmung mit dem konkreten Sachverhalt zu überprüfen. Die Reihenfolge richtet sich nach logischen Konsequenzen und Zweckmäßigkeit. – Hier ist es von Bedeutung, gut zu argumentieren und das jeweilige Teilergebnis angemessen zu begründen.
Tatbestandselemente auflisten
Ist ein Amtshaftungsanspruch zu beurteilen, sind primär die Tatsbestandselemente des § 1 AHG zu prüfen: – Hat das Organ eines dort genannten Rechtsträgers den Schaden zugefügt?; handelte das Organ „in Vollziehung der Gesetze”?; – war das Organverhalten „rechtswidrig” und „schuldhaft”?; – und schließlich: Welchen „Schaden” hat der Kläger erlitten? Darüber hinaus ist auf weitere Besonderheiten nach dem AHG zu achten; etwa: Zuständigkeit, Aufforderungsverfahren, Verurteilung in Geld.
Klärung der Klagslegitimation/en, also von Aktiv- und Passivlegitimation/en. Grundkenntnisse des Verfahrensrechts (ZGV) sind daher auch für alle materiellrechtlichen Prüfungen ratsam → KAPITEL 19: Das Verfahren erster Instanz.
Klagslegitimation
Versuch einer Subsumtion des konkreten Sachverhalts unter den ausgewählten (gesetzlichen) Tatbestand. Die Tatbestandselemente des Gesetzes bieten ein (mehr oder weniger) klares Prüfungsprogramm und helfen Irrwege zu vermeiden. Hier ist aber bereits zu argumentieren und zu begründen, wobei auf eine klare und einfache Gedankenführung zu achten ist.
Subsumtion
Fragen der Beweislast sind stets sorgfältig zu prüfen! Sie sind idR verfahrensentscheidend! – Auch in der Praxis muss sich der Richter klar werden, wen, wofür die Beweislast trifft. Erst dann kann er das Beweisverfahren korrekt durchführen.
Beweislast
Dabei ist neben der Grundregel, dass jede Partei die für sich günstigeren Umstände zu beweisen hat, darauf zu achten, ob § 1296 oder § 1298 ABGB oder eine gesetzliche oder von der Rspr entwickelte Sonderregel zur Anwendung gelangt; etwa die in den §§ 1319 und 1320 ABGB statuierte gesetzliche oder die von der Rspr entwikkelte Beweislastumkehr bei Schutzgesetzverletzung zum Tragen kommt.
Bei Ansprüchen mehrerer Personen gegeneinander ist zu fragen: Hängen die Ansprüche voneinander ab? Wie ist die rechtliche Beziehung zueinander? Dann sollten diese Ansprüche in logischer Reihenfolge geprüft werden.
Ansprüche mehrerer Personen
Nützlich ist es, sich wiederholt während der Fallbearbeitung – gleichsam probehalber – zu fragen, weshalb eine bestimmte Frage untersucht wird und welche Konsequenzen eine Antwort in der einen oder anderen Richtung hätte.
Im Rahmen der Fallbearbeitung sind alle Anspruchsgrundlagen zu prüfen, die ernsthaft in Betracht kommen, aber nur diese; Topik. Dabei sollte eine gewisse Reihenfolge unter Berücksichtigung folgender Grundsätze eingehalten werden:
Grobschema beim Suchen und Behandeln von Anspruchsgrundlagen
• Allfällige Vorfragen sind zuerst zu erörtern;
• Ansprüche aus Vertrag (zB Kauf- oder Behandlungsvertrag) und aus vertragsähnlichen Beziehungen (zB cic) sind vor allfälligen deliktischen Ansprüchen zu behandeln;
sachenrechtliche Fragestellungen und Ansprüche sollten vor schuldrechtlichen geklärt werden;
• ein Heranziehen subsidiärer Auffangtatbestände (etwa: Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung / Kondiktionen, GoA oder W/StdGG) – kann nur das Ergebnis sorgfältiger vorangegangener Recherche sein, die zum Ergebnis geführt hat, dass keine primäre Anspruchsgrundlage (bspw Gewährleistung, Irrtum oder Schadenersatz) zur Lösung heranzuziehen ist; vgl die Ausführungen in → KAPITEL 5: Auffangtatbestände.
• Allfällige Anspruchsgrundlagen aus Spezialgesetzen (leges speciales), die weitere Untersuchungen erübrigen können, sind zuerst zu prüfen; zB WEG, BTVG oder EKHG, AHG, ASVG.
• Es empfiehlt sich, einen Fall, der zB durch das Personenrecht, Sachenrecht und das Schuldrecht führt, entsprechend dem systematischen Aufbau des Gesetzes zu analysieren; dh zuerst Fragen des Personen- oder Familienrechts, dann des Sachenrechts und zuletzt jene des Schuldrechts zu prüfen. – Natürlich ist idF darauf zu achten, dass die einzelnen Ergebnisse nicht unvermittelt nebeneinander stehen bleiben; sie sind – wenn erforderlich – aufeinander zu beziehen.
• Im übrigen sollte möglichst jene Anspruchsgrundlage zuerst geprüft werden, die die größte ”Durchschlagskraft” besitzt und die geringsten Anforderungen an die Behauptungs- und Beweislast stellt; zB Irrtum (§ 871 ABGB) vor Drohung / Täuschung (§ 870 ABGB) oder W/StdGG
• Zu beachten bleibt, dass Anspruchskonkurrenz und Anspruchskumulierung möglich sind.
• Kann ein Anspruch nicht unmittelbar auf das Gesetz gestützt werden (weil zB eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt), ist die Anspruchsgrundlage – unter Berücksichtigung der Interessenlage – auf die Lückenschließungsregeln des § 7 ABGB (Gesetzes- und Rechtsanalogie, natürliche Rechtsgrundsätze) zu stützen.
• Abschließend ist zu prüfen, ob die gestellten Fragen beantwortet wurden. Zudem ist das Ergebnis kurz und klar zusammenzufassen und zwar in der Reihenfolge der Fragestellung. – Das gewonnene Ergebnis sollte auch im Hinblick auf seine Schlüssigkeit und Plausibilität nochmals überdacht werden.
• Zu beachten bleibt, dass die Falllösung ein interpretativer Gesamtakt ist, dessen Teilschritte stimmig sein müssen. – Dabei können die §§ 6 und 7 sowie 914 und 915 ABGB hilfreich sein.


Rechtsanwendung
Abbildung 11.7:
Rechtsanwendung
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C. Auslegung von Gesetzen und Rechtsgeschäften
I. Allgemeines zur Auslegung
Literaturquelle
Das menschliche Auslegen und Deuten war historisch zunächst nicht ein solches von Schrift und Text, sondern ein religiös-zeremoniell-rituelles Deuten durch Älteste, Priester, Auguren und Politiker im Rahmen religiöser und/oder politischer Handlungen, inbesondere von Opfern; Vogelflug, Eingeweideschau von Tieren etc. Da aber die Priester und Auguren bspw in Rom lange auch die frühen Hüter des Rechts waren, brachten sie ihr vorrechtliches Wissen in die Anwendung des zunächst noch ungeschriebenen Rechts und in der Folge in die von ihnen gemachten (Rechts)Aufzeichnungen ein. In Rom lösen sich Priestertum / Religion und Rechtsanwendung erst allmählich mit dem XII-Tafelgesetz voneinander. – Im alten Griechenland erfolgte dieser Schritt dagegen wesentlich früher, nämlich schon in den Reformen Drakons und Solons, ja bereits mit der Einsetzung von Archonten in der ersten Hälfte des 7. Jhds v. C. Nahezu alles Methodische stammt aus Griechenland; vgl die einleitende Übersicht zu diesem Kapitel.
Auslegen und Deuten
1. Auslegung als Kunst
Juristen legen Gesetze, Urteile, Bescheide, Verträge, Willenserklärungen oder ein bestimmtes Verhalten aus. Theologen die Bibel, Germanisten zB ein (Goethe)Gedicht, ein Dirigent oder Musikwissenschaftler eine Mozartpartitur, Statistiker, Meinungsforscher oder Politologen eine empirische Erhebung oder Wahl, Psychoanalytiker Träume. – Auslegung, Interpretation, Hermeneutik – iS eines optimalen Verstehens von Vorgegebenem – ist also nicht nur eine juristische Tätigkeit.
Nicht nur Juristen interpretieren
Auslegung will das Verstehen von Texten und Äußerungen etc und damit das Erfassen von Sinnzusammenhängen fördern, um daraus menschliche und gesellschaftliche Handlungszusammenhänge werden zu lassen.
Seit alters her wird die rechtliche Auslegung als Kunst verstanden. Wie andere Künste, nährt sich auch die Jurisprudenz nicht nur aus trockener Verstandeskraft, sondern setzt immer wieder auch auf das natürliche Rechtsgefühl und die Phantasie, baut also nicht nur auf rationale Stringenz, Konsequenz und Härte, sondern auch auf Praktikabilität, Milde, Nachsicht, Menschlichkeit und Verständnis: Epieikeia (Griechenland) / aequitas (Rom) / Billigkeit oder equity (Europa/USA) benennen dies zeitlich sukzessiv auch sprachlich. Dies deshalb, weil nur diese Mischung, Frieden und Akzeptanz getroffener Entscheidung her- und sicherzustellen vermag. Das alte Leitbild des weisen Richters und Urteilsspruchs betont diese Orientierung; vgl dazu schon manche Stelle des Alten Testaments (Salomo!) oder bei Platon („Politeía”). Die Griechen orientierten sich dabei früh an der Vorstellung der „Mitte”, dem Méson, das aber nicht rein mathematisch (miss)verstanden werden darf; Solon, Platon, Aristoteles. Diese alte Einsicht wird dann im römischrechtlichen Satz (Ulpian) des „ius est ars aequi et boni” angesprochen, der ebenfalls griechischen Ursprungs ist.
Auslegung als Kunst – Rechtsgefühl
Das Beispiel psychoanalytischer Traumdeutung und -auslegung lehrt uns etwas auch für die juristische Interpretation Wichtiges: S. Freud unterscheidet in seiner Traumdeutungslehre zwischen manifestem (= das, was der Traum real zeigt und ausdrückt) und latentem Trauminhalt (= wie das Gezeigte, das oft „verschlüsselt” wird, zu verstehen ist). Diese Unterscheidung wurde in der Folge von der Philosophie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen übernommen; zB von Theodor W. Adorno. – Auch Juristen/innen benötigen die Fähigkeit „zwischen” den Zeilen lesen und über den Text hinausgehend mitschwingendes Vorverständnis und mitunter sogar Vorurteile erkennen und vermeiden zu können, um Gesetzesmaterialien oder Urteile udgl „ganz“ zu verstehen. Die Inhalts- oder Judikaturanalyse wendet diese Einsichten methodisch an.
Manifeste und latente Inhalte
Literaturquelle
Wie wird die juristische Auslegung umschrieben?
Juristische Auslegung
Celsus, D. 1, 3, 17: „Scire leges non est verba eorum tenere, sed vim ac potestatem.”
Konstitution der Kaiser Valerian und Gallienus aus dem Jahre 259: „In Kontrakten muss man mehr auf die Wahrheit der Sache, als auf das Niedergeschriebene sehen.”
Für C. F. v. Savigny (1779-1861) ist juristische Auslegung ein „wissenschaftliches Geschäft, Anfang und Grundlage der Rechtswissenschaft”, aber auch „Kunst”, die sich deshalb „nicht durch Regeln mitteilen oder erwerben” lässt. Savigny will das Gesetz „in seiner Wahrheit erkennen”; System des heutigen Römischen Rechts, Bd I 206 (1840).
Pfaff / Hofmann: „Sie ist Kunst, nicht Kunde – nicht ein Wissen, sondern ein Können.”
Karl Wolff: „Die Erforschung des Sinns der Gesetzessätze heißt Auslegung”; in: Klang I2 85.
Franz Gschnitzer: „Auslegen heißt den Sinn eines Verhaltens, vor allem einer Erklärung, ermitteln”; AllgT1 26.
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2. Methode als „Wegweiser“ und „Nach-Weg“
Der Aufgabenbereich juristischer Methode ist danach ein zweifacher:
• Einerseits soll sie dem Rechtsanwender den Weg zu einer richtigen /korrekten – oder wie die Griechen dies nannten, zu einer „geraden“ (und nicht krummen) iSv gerechten – Entscheidung weisen;
• zum anderen aber auch von ihr Betroffene oder auch nur Leser in die Lage versetzen, ihr Ergebnis und ihre Argumentation, ihre juristische und logische Korrektheit und Schlüssigkeit rational nachzuvollziehen, also verstehen zu können. Sie sollen im Stande sein, den Weg, der zur Entscheidung geführt hat, nach-zugehen. Das gelingt nicht immer, und hier wäre generell grössere Einfachheit, Klarheit und Kürze zu fordern. Das ist zugegebenermassen schwieriger, als sich hinter sprachlichen und disziplinären Unverständlichkeiten zu verstecken.
Die Aufgaben juristischer Methode sind demnach unterschiedlicher Art. Die wesentlichen Aspekte methodischen Verstehens sollen hier kurz behandelt werden:
Methode heißt im Griechischen Nach-Weg oder Nach-Gehen, womit ein wichtiges Ziel methodischen Vorgehens klargelegt wird; nämlich, dass sich – wie erwähnt – der Weg von der getroffenen Entscheidung, zB einem richterlichen Urteil, von einem späteren Betrachter zurückverfolgen lässt, hin zu seinem logischen, rationalen, juristischen Ausgangspunkt, womit Willkür und Unkorrektheit des oder der Entscheidenden – möglichst – ausgeschlossen werden sollen. Das ist jedenfalls der Anspruch jeder Methode, auch der juristischen. Natürlich wird er nicht immer und vor allem nicht immer voll eingelöst. Aber es gilt gute Annäherungswerte an dieses Ziel zu erreichen. Solches Bemühen zeichnet die Wissenschaften allgemein – und nicht nur die Jurisprudenz – seit jeher aus.
Nach-Weg
Ernst Bloch meinte in seiner „Tübinger Einleitung zur Philosophie”:
„Methode haben heißt, mit dem Weg der Sache gehen. …”
Das ist so zu verstehen, dass die Methodenwahl vom zu lösenden Problem her und nicht etwa vom eigenen Vorverständnis verstanden und getroffen werden muß. – Die juristische Methode ist aber keine Ware von der Stange, sondern Maßanfertigung (im Einzelfall). – Es wäre auch ein Irrtum zu meinen, die Anwendung juristischer Methoden würde stets die Lösung bis in alle Details vorgeben. Deshalb sollte als Faustregel bedacht werden, daß auch die Anwendung juristischer Methoden nicht mehr zu leisten vermag, als die Richtung zu weisen, in der die Lösung zu suchen ist; Wegweiser- und Orientierungsfunktion juristischer Methode.
Methodenwahl
Zu beachten ist ferner, dass Methoden, auch die juristische, Gefahr laufen, zu mechanischer Anwendung, zu standardisierten Abläufen zu verkümmern, womit aber jede Methode ihre Leistungsfähigkeit und Spannkraft verliert. – Denn es besteht immer wieder die Gefahr / Versuchung, Methode nur zur Sicherung des eigenen (subjektiven) Urteils zu missbrauchen.
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3. Auslegung im ABGB
Die Regeln der §§ 6, 7 ABGB, die von der Gesetzesauslegung handeln, galten bis zur III. Teilnovelle / TN (1916) auch für die Auslegung von Rechtsgeschäften und Verträgen. § 914 ABGB nF wurde erst durch die III. TN eingefügt; vgl den Text des § 914 ABGB aF → Die „Stufen“ des § 914 ABGB
Andere Rechtsordnungen, etwa das dtBGB, kennen nur Regeln über die Auslegung von Willenserklärungen, nicht wie das ABGB auch Vorschriften über die Auslegung von Gesetzen. Zur Auslegung von Verträgen nach Treu und Glauben vgl aber die §§ 157 und 242 dtBGB → Treu und Glauben
Gewisse Besonderheiten gelten für die Auslegung der Verfügungen von Todes wegen (Erbrecht), obwohl es sich auch hier um Rechtsgeschäfte (Testament, Erbvertrag) handelt. Oberstes Auslegungsziel ist hier die Erforschung und Respektierung des Erblasserwillens. – Ähnliches gilt nach der ersten Unklarheitenregel des § 915 ABGB für unentgeltliche Geschäfte.
Erbrecht
Vgl § 655 ABGB (Allgemeine Auslegungsregel bei Vermächtnissen): „Worte werden auch bei Vermächtnissen in ihrer gewöhnlichen Bedeutung genommen; es müsste denn bewiesen werden, dass der Erblasser mit gewissen Ausdrücken einen ihm eigenen besondern Sinn zu verbinden gewohnt gewesen ist; oder, dass das Vermächtnis sonst ohne Wirkung wäre.” – Der Willensgrundsatz gilt aber nach hA nicht nur für Vermächtnisse.
Für die Gesetzesauslegung ieS (§ 6 ABGB) und die Lückenschließung nach § 7 ABGB ist ebenso wie für die Auslegung von Verträgen und Rechtsgeschäften nach den §§ 914, 915 ABGB zu beachten, dass nach hA die im Verfassungsrecht, inbesondere in den Grundrechten, niedergelegten Wert(halt)ungen auf das Privatrecht mittelbar – dh über Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe wie § 16 und § 879 ABGB – einwirken und im Rahmen der Gesetzes- und Vertragsauslegung und der Lückenschließung zu beachten sind; dazu → § 7 ABGB: Die Lückenschließung
Einwirkung der Grundrechte
Sowohl die Gesetzesauslegung, als auch die Auslegung von Rechtsgeschäften / Verträgen gehört zur sog rechtlichen Beurteilung, ein Begriff der im Verfahrensrecht (genauer: im Rechtsmittelverfahren → KAPITEL 19: Das Rechtsmittelverfahren) von Bedeutung ist. Die Richtigkeit der vorgenommenen Auslegung unterliegt daher im Rechtsmittelverfahren als rechtliche Beurteilung der Überprüfung durch das Berufungs- oder Revisionsgericht, während das für den Bereich der Tatsachen- oder Sachverhaltsfeststellung nicht gilt!
Verfahrensrecht
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4. Legistische Qualität und Auslegung
Gute Gesetze mindern den Auslegungsaufwand, schlechte vermehren ihn. Gute Gesetze sparen Zeit und Geld und erhöhen den wichtigen Rechtswert: Rechtssicherheit. – Gehaltvolle Legistik, mitunter – vor allem früher – auch als Kunst der Gesetzgebung bezeichnet, sollte daher eine Selbstverständlichkeit sein. Leider überwiegen die negativen Beispiele.
Rechtssicherheit
Gute Gesetze sind in klarer und einfacher Sprache abgefasst, kein Fachkauderwelsch. – Aber wem ist heute noch die Rechtssprache ein Anliegen?
Rechtssprache
Literaturquelle
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5. Auslegung im öffentlichen Recht
Auch das öffentliche Recht ist auf die Auslegung von Normen angewiesen. Da es kaum eigene gesetzliche Auslegungsregeln kennt, wird immer wieder auf das ABGB zurückgegriffen. Die „Reine Rechtslehre“ hat versucht, den Auslegungskanon des öffentlichen Rechts einzuschränken. Das ist misslungen. – Auch das öffentlichrechtliche Recht kennt aber judikativ-gewohnheitsrechtlich verfestigte Auslegungsregeln: Etwa das Steuerrecht den Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt immer wieder bei der Auslegung öffentlichrechtlicher Normen eine Rolle; vgl etwa VwGH, ÖJZ 1999 Nr 94, S. 395: § 40 Abs 1 und 4 SPG: Personendurchsuchung – Notwendigkeit des Entkleidens – Verhältnismäßigkeit. Im Verfassungsrecht gilt die sog Versteinerungstheorie.
Judikative Auslegungsregeln
Literaturquelle
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II. Gesetzesauslegung: §§ 6, 7 ABGB
1. Gesetzesauslegung ieS und iwS
Das ABGB regelt die Gesetzesauslegung iwS in den §§ 6 und 7 ABGB; iwS insofern, als § 7 ABGB eigentlich keine Auslegungsregeln mehr enthält, sondern Regeln der Lückenfüllung. Das Feststellen einer Lücke setzt aber – immerhin – ein Auslegungsergebnis voraus.
Auszulegen sind in Gesetzen einzelne Worte, Sätze und ihr Zusammenhang – also der Text, aber bspw auch die Reichweite von Generalklauseln (→ Generalklausel) und die darin verwendeten unbestimmten Gesetzes- oder Rechtsbegriffe wie: – die guten Sitten (§ 879 ABGB → Gegen die guten Sitten), – schwere Eheverfehlung (§ 49 EheG), – berechtigte Sicherheitserwartungen des durchschnittlichen Benützers (§ 5 PHG → KAPITEL 7: Produkthaftung ¿ PHG 1988), – aus triftigen Gründen (§ 31e Abs 1 KSchG) oder – wichtiger Grund iSd § 30 MRG uvam.
Was ist auszulegen?
Gerade die Interpretation eines bürgerlichen Gesetzbuchs sollte sich weithin vom alltäglichen Sprachgebrauch/ Wortverständnis leiten lassen. Das lehrt uns einerseits eine bedachte und einfache Wortwahl in der Legistik und andrerseits, dass die Wortinterpretation – als erster und wichtiger Schritt der Auslegung – ernst zu nehmen ist. Goethes Faust-Verse – „… legt ihr nicht aus, dann legt ihr unter” – sollten uns eine Warnung sein.
Zur Auslegung von Kollektivverträgen, die wie Gesetze auszulegen sind → Der Kollektivvertrag als Rechtsquelle
Auslegung von Kollektivverträgen
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2. Beispiele zur Gesetzesauslegung
Beispiel
Beachte
Literaturquelle
Beispiel
Literaturquelle
Beispiel
Solche Beispiele belegen die Richtigkeit von J. Essers Beobachtung eines Zusammenhangs von „Vorverständnis und Methodenwahl” → „Legitimation” durch Verfahren


Gesetzesauslegung: § 6 ABGB
Abbildung 11.8:
Gesetzesauslegung: § 6 ABGB
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3. § 6 ABGB: Instrumente der Gesetzesauslegung
Zur Schrittfolge der Auslegung: Auszugehen ist bei der Gesetzesauslegung, die den maßgeblichen Sinn eines Rechtssatzes feststellen will, von der
Schrittfolge
Wortinterpretation, die bei Bedarf zur
Satz- und grammatikalisch-logischen Interpretation zu erweitern ist. Dafür ordnet § 6 ABGB an, die ”klare Absicht des Gesetzgebers” zu erforschen, womit auch die
historisch(-subjektive) Auslegung (Was wollte der historische Gesetzgeber erreichen?), und die
teleologisch-objektive Auslegung (Was kann objektiv als Zweck einer Regelung angesehen werden?) angesprochen werden; man nennt das auch Willens- oder Sinnesinterpretation iS eines Erkennens der ratio legis.
• Die systematische Interpretation berücksichtigt zusätzlich den Ort und die Lage einer Norm im Gesetz und im (Gesamt)System. – Vgl das oben → Beispiele zur Gesetzesauslegung erwähnte Beispiel der Konventionalstrafe.
Rechtssprechungsbeispiel
OGH 29. 5. 2000, 7 Ob 104/00w, SZ 73/89 = JBl 2000, 784: OGH kommt durch systematische Interpretation zum Ergebnis, dass die II. TN zum ABGB auch nach dem BundesrechtsbereinigungsG noch gilt.
All das offenbart eine gewisse Relativität methodischer Schritte und das Erfordernis sorgfältiger historischer Auslegung, was nicht damit zu vereinbaren ist, dass mit „Zeiller” alles endet!
Das Ergebnis einer Auslegung kann auch darin bestehen, dass der Gesetzestext korrigiert werden muss. Ein solches Ergebnis bedarf aber sorgfältiger Prüfung!
Auslegung als Korrektiv
Zur Korrekturbedürftigkeit des § 308 ABGB (→ KAPITEL 3: Besitz: Tatsache oder Recht?), zu der des § 339 ABGB → KAPITEL 3: Tatbestandsvoraussetzungen der Besitzstörung.
Beispiel
Literaturquelle


Mögliche Auslegungsschritte: § 6 ABGB
Abbildung 11.9:
Mögliche Auslegungsschritte: § 6 ABGB
Die Auslegung als interpretativer „Gesamtakt”:
Auslegung als „Gesamtakt”
Die Auslegung ist ein „Gesamtakt”, womit gemeint ist, dass häufig nicht nur ein einzelner isolierter Auslegungsschritt gesetzt wird, sondern oft mehrere gleichzeitig – das heisst: neben- oder nacheinander, die auch aufeinander bezogen sein müssen. Etwa: Wortinterpretation + grammatikalische + historische + systematische + teleologische Auslegung, allenfalls kombiniert mit Analogie.
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 69/159 (1996): Höchstbetragshypothek → KAPITEL 2: Ausnahmen vom Spezialitätsgrundsatz.
JBl 1991, 591 (§ 6 ABGB, § 22 UVG): Die Gesetzesauslegung darf bei der Wortinterpretation nicht stehen bleiben. Der übliche normale Wortsinn ist nur ein Hinweis für die Auslegung der Norm, nicht mehr; erst der äußerst mögliche Wortsinn steckt die Grenze jeglicher Auslegung ab, welche auch mit den sonstigen Interpretationsmethoden nicht überschritten werden darf. – Dadurch, dass das Kind wegen gutgläubigen Verbrauchs der Unterhaltsvorschüsse gemäß § 22 Abs 1 UVG nicht zum Ersatz herangezogen werden kann, ist die subsidiäre Haftung des gesetzlichen Vertreters oder der Pflegeperson nicht ausgeschlossen.
Zur Korrektur des § 1325 ABGB durch den OGH in SZ 69/217 → KAPITEL 9: Schmerzen(s)geld: Hier korrigiert das Höchstgericht den Gesetzestext contra legem, worin wohl auch die Annahme einer materiellen Derogation des ABGB durch das EKHG steckt.
§ 10 ABGB (Gewohnheitsrecht) wird extensiv oder vielleicht sogar berichtigend interpretiert → Das Gewohnheitsrecht


Ergebnis der Auslegung: § 6 ABGB
Abbildung 11.10:
Ergebnis der Auslegung: § 6 ABGB
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4. § 7 ABGB: Die Lückenschließung
Literaturquelle
Der Österreicher Eugen Ehrlich gilt als Begründer und Galionsfigur der immer wieder missverstandenen „Freirechtsschule”, die keineswegs einer von gesetzlicher Bindung befreiten Rechtsanwendung das Wort geredet hat. Kelsens Kritik ging an den Fakten vorbei und übersieht – wie auch andere (insbesondere deutsche Kritiken) – dass Ehrlichs Vorbild § 7 ABGB war. Vgl nunmehr → KAPITEL 18: Ehrlichs Methodenkritik.
Findet sich für einen Sachverhalt – nach eingehender Prüfung – kein passender gesetzlicher Tatbestand, liegt (für den Rechtsanwender) eine Lücke vor. – Weil der Rechtsanwender dennoch zu entscheiden hat, muss er in der Lage sein, Regelungslücken zu schließen. Dazu verweist ihn der Gesetzgeber in § 7 ABGB auf:
Regelungslücken
Analogie und
natürliche Rechtsgrundsätze, die somit – funktional – dem Schließen von Rechtslücken dienen.
Eine planwidrige Regelungslücke wird dann angenommen, wenn die Regelung eines Sachbereichs keine Bestimmung für eine Frage enthält, die im gegebenen Zusammenhang an sich geregelt werden müsste; wenn also das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht (ratio legis) und seiner immanenten Zielsetzung (Teleologie), unvollständig und daher ergänzungsbedürftig ist. Die Ergänzung darf dabei nicht einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widersprechen. Inbesondere rechtfertigt die bloß andere Meinung eines Rechtsanwenders, eine andere Regelung sei wünschenswert, noch nicht die Annahme einer Gesetzeslücke.
Rechtssprechungsbeispiel
Abgelehnt wurde daher zB die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke in EvBl 1999/59: Voraussetzungen für einen Pflegegeldbedarf → § 7 ABGB: Die Lückenschließung


Analogie und natürliche Rechtsgrundsätze
Abbildung 11.11:
Analogie und natürliche Rechtsgrundsätze
Die Lückenschließung unterscheidet zwischen echter (= Gesetzgeber hat einen Fall oder eine Fallgruppe „vergessen”, also nicht bedacht) oder Regelungslücke und unechter oder Wertungslücke; hier liegt zwar eine gesetzliche Regelung vor, aber diese Regelung entspricht (nach Meinung des Rechtsanwenders / der Rechtspraxis) nicht mehr den Erfordernissen (der Zeit). Daher wird in diesem letzten Fall auch von berichtigender Auslegung (durch Analogie) gesprochen.
Echte und unechte Lücken
Im Strafrecht besteht dagegen Analogieverbot, was heißt, dass allfällige Regelungslücken nicht durch Analogie zum Nachteil eines Beschuldigten / Angeklagten geschlossen werden dürfen; vielmehr statuiert § 1 StGB den Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz – nullum crimen sine lege ! Dazu tritt der uralte, in Ansätzen schon im antiken griechischen Recht (Aischylos) nachweisbare strafrechtliche Grundsatz des in dubio pro reo / im Zweifel für den Angeklagten.
Analogieverbot des Strafrechts
Das öffentliche Recht verhält sich der Analogie gegenüber zurückhaltender als das Privatrecht, ohne so weit zu gehen wie das Strafrecht; vgl Art 18 B-VG (Legalitätsprinzip). – Aber auch das öffentliche Recht kommt ohne Lückenfüllung und insbesondere Analogie nicht aus.
Rechtssprechungsbeispiel
Vgl etwa die Beispiele zur Anwendung der Rechtsfigur der cic im öffentlichen Recht → KAPITEL 6: Ausdehnung auf Verkehrssicherungspflichten.
Auch im Verfahrensrecht (das zum öffentlichen Recht zählt) kommt es immer wieder zu Analogien; vgl EvBl 1999/70: § 70 GBG – Klagsanmerkung kraft Analogie. Für das Verwaltungsstrafrecht (VStG) gilt allerdings ebenfalls das Analogieverbot.
OGH 14. 1. 2000, 1 Ob 315/99a, SZ 73/7 = JBl 2000, 734: Anwaltshonorar im UVS- Verfahren wird analog TP 3 B RATG (Gesetzesanalogie) für das Verfahren vor den Gerichten erster Instanz festgelegt.
OGH 9. 3. 2000, 8 Ob 255/99d, SZ 73/45 = JBl 2000, 671: Die Manifestationsklage des Art 52 EGZPO ist auch auf das eheliche Aufteilungsverfahren analog anzuwenden; allerdings nur die Verpflichtung zur Offenlegung des Vermögens, nicht aber die Rechnungslegung (Teilanalogie).
In JBl 2000, 179 lehnt es der OGH bspw ab, die konstatierte Rechtsschutzlücke selbst zu schließen und verweist auf den Gesetzgeber. Es ging um eine inhaltlich fragwürdige – hoheitlich eingestufte (?) – Warnung der Dokumentations- und Informationsstelle für Sektenfragen vor der Sri Chinmoy-Bewegung. Da das AHG anzuwenden war, und dieses weder Unterlassungs- noch Widerrufsansprüche kennt, sah sich der OGH nicht in der Lage, einen Analogieschluss zu § 1330 Abs 2 ABGB etc zu ziehen oder gar auf die natürlichen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen. (?) – Das lehrt uns, wie ein Höchstgericht – als Rspr-Souverän – eine sinnvolle und nötige Lückenschließung verweigern kann. ME liegt darin ein grundrechtswidriger Verstoß gegen die Religionsfreiheit und ein derartiges Verständnis grenzt an Rechtsverweigerung, weil damit herkömmlichen, staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften alles, anderen dagegen nichts gestattet wird. Der OGH hat sich in dieser E auf eine rechtsstaatlich fragwürdige Weise aus der Affäre gezogen.
Rechtsschutzlücke
Neben der Lückenfüllung durch § 7 ABGB dienen auch Generalklauseln (zB § 879 ABGB oder § 6 KSchG) und unbestimmte Rechtsbegriffe diesem Ziel. Dazu → Zur Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen
Lückenfüllung durch Generalklauseln etc
§ 7 ABGB dient als Ganzer der Lückenschließung (in Bezug auf die bestehende Rechtslage) und sieht dafür drei Analogiestufen vor, denn auch die natürlichen Rechtsgrundsätze sind eine Form der Analogie. – Die Analogie, der Ähnlichkeitsschluss, in ihren Erscheinungsformen:
Analogieformen
• der Gesetzes- / Rechtssatz- oder Einzel(fall)analogie und
• der Rechts- Gesamtanalogie, wozu
• als „weiteste” Analogieform das Heranziehen der „natürlichen Rechtsgrundsätze” tritt.
Bei der Rechts- oder Gesamtanalogie wird nicht nur – wie bei der Gesetzes- oder Einzelfallanalogie – ein einzelner konkreter Rechtssatz als Analogiebasis herangezogen, sondern mehrere Rechtssätze, also mehrere Paragraphen. Aus diesen (mehreren) Rechtssätzen wird – weil sie einen rechtsähnlichen Grundgedanken enthalten – ein neuer Tatbestand (samt Rechtsfolge) gebildet, dem dann der zu entscheidende Sachverhalt unterstellt werden kann; Paradebeispiele: cic und W/StdGG, aber auch die sog Analogiepraxis im Bereich der Gefährdungshaftung, mag dieses Feld, für das der OGH zurecht Lorbeeren sammeln konnte, mittlerweile versintert sein.
Rechts- oder Gesamtanalogie
Was dient als Analogiebasis ? – Als Quelle der Analogie, aus deren Substrat eine privatrechtliche Lücke geschlossen werden soll, dient nicht nur das ABGB oder das Privatrecht, sondern auch das weite Feld des öffentlichen Rechts, mithin die gesamte Rechtsordnung; und uU auch fremde Rechtsordnungen (vgl SZ 26/67) und überhaupt das entwickelte menschliche Rechtsdenken. Letzteres trifft vornehmlich auf die natürlichen Rechtsgrundsätze zu.
Analogiebasis
Vgl etwa neben JBl 1953, 267 (→ § 7 ABGB: Die Lückenschließung: LandesjagdG), auch EvBl 1999/137: In Bezug auf die Verwertung (nach § 1425 ABGB) hinterlegter Gegenstände zieht die Rspr rechtsanalog § 377 StPO und § 90 Abs 2 FinStrG heran. Das Handelsrecht bleibt dagegen ausgespart (?).
Eine Unterform der Analogie ist die „entsprechende” oder „sinngemäße (Rechts)Anwendung” bestehender Normen. – Hier besteht im Vergleich zur Analogie ein etwas größerer „Bewegungsspielraum” des Rechtsanwenders, inbesondere auch im Hinblick auf die Rechtsfolgen. Diese Form der „lockeren” Analogie wählt der Gesetzgeber mit der Formulierung: „§ ... ist entsprechend / sinngemäß anzuwenden.” – Ein Unterschied zur „normalen” Analogie liegt auch darin, dass sich hier der Gesetzgeber selbst des Lückenfüllungsinstruments Analogie bedient und nicht wie in § 7 ABGB der Rechtsanwender / Richter.
„entsprechende” oder „sinngemäße (Rechts)Anwendung”
Beispiel
Rechtssprechungsbeispiel
OGH 13.1. 2000, 2 Ob 336/99h, SZ 73/4 = JBl 2000, 530: Zahlt eine Rechtsanwaltskammer dem Kind eines getöteten Mitglieds auf Grund der Satzung ihrer Versorgungseinrichtung eine Waisenrente, so geht der Anspruch des Kindes gegen den Schädiger in entsprechender Anwendung (§ 7 ABGB) gesetzlicher Legalzessionsnormen (§ 1358 ABGB) auf sie über. – Analogie im öffentlichen Recht.
Zum Heranziehen der natürlichen Rechtsgrundsätze kommt es erst dann, wenn eine vorliegende (Gesetzes)Lücke auch nicht durch Gesetzes- oder Rechtsanalogie geschlossen werden kann. Die Anwendung der natürlichen Rechtsgrundsätze ist also der Gesetzes- und Rechtsanalogie nachgeschaltet und stellt den letzten Schritt der Lückenfüllung dar. Die Grenzen zur Rechtsanalogie sind allerdings fließend. – Während der Rechtsanwender in den beiden ersten Formen der Analogie noch etwas stärker an der gesetzlichen „Leine” hängt, führen die natürlichen Rechtsgrundsätze zu noch freierer, wenngleich immer noch nicht willkürlicher Rechtsfindung; zu Art 1 SchwZGB, Art 12 EG itCC sowie Art 4 frCC → § 7 ABGB: Die Lückenschließung Die auf Karl Anton von Martini zurückgehenden natürlichen Rechtsgrundsätze stellen eine – auf die gesamte Rechtsordnung, ja darüber hinaus (auf das Naturrecht iSd Rechts aller Kulturstaaten) erweiterte – Form der Analogie dar! Es geht hier um rechtliche Kulturstandards!
Natürliche Rechtsgrundsätze
Die Analogieformen des § 7 ABGB unterscheiden sich dadurch, dass sich der Analogiefilter (→ KAPITEL 11: Öffnen des Analogiefilters) iS eines normativen Wertbezugsrahmens immer weiter öffnet und bei den natürlichen Rechtsgrundsätzen auch die Grenzen des nationalen Rechts hinter sich lässt. – Der (Rechts)Positivismus hat dem nichts entgegenzusetzen. Martinis § 7 ABGB, für Zeiller bloß ein „nothwendiges Übel”, stellt ein Weltmonument menschlichen Rechtsdenkens dar, das in der antiken griechischen Rechtskultur ebenso wurzelt wie in preußisch-legistischer Vorleistung.
§ 7 ABGB: Weltmonument
Das bahnbrechende Konzept der §§ 6, 7 ABGB geht – wie erwähnt – auf Karl Anton von Martini zurück. Martini ist auch der Schöpfer der in § 7 – weltweit! – erstmals verwirklichten „freieren” richterlichen Lückenfüllung. Frühere Entwürfe und auch noch das ALR (Einleitung §§ 47-51) hatten vorgesehen, dass im Falle von Zweifeln und Lücken der Richter sich an den Monarchen oder eine Kommission zu wenden habe; § 49 der Einleitung ins ALR hat aber unseren § 7 ABGB (in seinem sonstigen Gehalt) teilweise vorweggenommen. Zum frCC gleich unten.
Martinis Entwurf I 1 § 12 aus dem Jahre 1796 lautet: „Findet der Richter einen Rechtsfall durch die Worte des Gesetzes nicht entschieden, so muss er auf den erklärten Sinn desselben, auf Gründe eines andern damit verwandten Gesetzes, auf ähnliche Fälle, die im Gesetze bestimmt entschieden sind, Rücksicht nehmen, und darnach sein Urteil fällen; bleibt ihm noch ein Zweifel übrig, so hat er denselben mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten und erwogenen Sachumstände nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen aufzulösen.”
Art 4 frCode Civil: „Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité ou de l’insuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable de déni de justice.“
Zur Lückenschließung in anderen Privatrechtsordnungen
Übersetzung: Ein Richter, der es ablehnt zu entscheiden, unter Hinweis auf eine Gesetzeslücke, eine Unklarheit oder eine Unzulänglichkeit des Gesetzes, macht sich einer Rechtsverweigerung schuldig und kann deswegen verfolgt werden.
Beachte
Art 1 Schweizer ZGB: (1) „Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.“
(2) „Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde.“
(3) „Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“
Art 12 des EG zum itCC: „(Auslegung des Gesetzes) Dem Gesetz darf bei seiner Anwendung kein anderer Sinn als der beigelegt werden, der sich aus der eigenen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang und aus der Absicht des Gesetzgebers ergibt (1362 ff itCC).
Kann ein Streitfall nicht auf Grund einer bestimmten Vorschrift entschieden werden, so ist auf jene Vorschriften Rücksicht zu nehmen, die ähnliche Fälle oder verwandte Sachbereiche regeln; bleibt der Fall immer noch zweifelhaft, so ist nach den allgemeinen Grundsätzen der staatlichen Rechtsordnung zu entscheiden.“


Öffnen des Analogiefilters
Abbildung 11.12:
Öffnen des Analogiefilters
Den natürlichen Rechtsgrundsätzen des § 7 ABGB entsprechen die in Abs 1 des KdmPat zum ABGB genannten „allgemeinen Grundsätze der Gerechtigkeit „. Darin liegt die gesetzliche Ermächtigung des Gesetzgebers an den Rechtsanwender, an seiner Stelle Recht zu setzen, wenn auch nicht generell, so doch im Einzelfall. Der Rechtsanwender hat sich dabei in die „Rolle” – dh die Norm- und Wertwelt – des Gesetzgebers zu versetzen (ein wichtiger Unterschied zur Schweiz!) und so zu entscheiden, wie dieser vermutlich entscheiden würde.
„Allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit”
Rechtssprechungsbeispiel
Interessant in diesem Zusammenhang JBl 1999, 390: Unter den „Grundsätzen der österreichischen Rechtsordnung” iSd § 595 Abs 1 Z 6 ZPO (Aufhebung eines Schiedsspruches: „…mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar …”) werden die tragenden Grundsätze der Bundesverfassung, des Straf-, Privat- und Prozessrechts, aber auch des öffentlichen Rechts verstanden.
Rechtssprechungsbeispiel
Zur analogen Anwendung des § 970 ABGB (Gastwirtehaftung) auf größere Privatzimmervermieter: SZ 51/158 (1978) → KAPITEL 3: Unscharfe Regelungsränder.
§ 1319 ABGB wird analog auf Bäume angewandt; zB Baum stürzt um oder morscher Ast bricht ab und verletzt Passanten; vgl MietSlg 35.260 oder EvBl 1987/192 → KAPITEL 10: Haftung für Bauwerke: § 1319 ABGB.
Zur analogen Anwendung des § 1318 ABGB (Haftung des Wohnungsinhabers) auf Waschmaschinen, Geschirrspüler, Badewannen etc → KAPITEL 10: Haftung des Wohnungsinhabers: § 1318 ABGB.
§ 1319a ABGB (Wegehalterhaftung) wird analog auf Baustellen angewandt, wofür der Baumeister haftet → KAPITEL 10: Die Wegehalterhaftung des § 1319a ABGB: ZVR 1998/24.
Art 8 Nr 21 EVHGB (Kein Rücktrittsrecht des Verkäufers, wenn dieser dem Käufer die Ware übergeben und den Kaufpreis kreditiert hat) wird analog im bürgerlichen Recht angewandt, weil dort eine solche Regelung fehlt. – Umgekehrt gelangt § 919 ABGB (Fixgeschäft) analog im Handelsrecht zur Anwendung, weil dessen § 364 das Fixgeschäft noch zu umständlich (nämlich mit Rücktritt) regelt.
Die Risikohaftung des Auftraggebers zugunsten des Auftragnehmers nach § 1014, 2. HalbS ABGB wird analog auf Arbeitsverhältnisse, zugunsten von Arbeitnehmern, angewandt → KAPITEL 12: Risikohaftung.
§ 78 UrhG trifft eine analogiefähige Regelung des Personenkreises, der postmortale Persönlichkeitsverletzungen ahnden kann → KAPITEL 4: Sog postmortale Persönlichkeitsrechte.
§ 372 ABGB (actio Publiciana) wird analog auf Vorbehaltskäufer und WE-Werber, die die Wohnung bereits bezogen haben bis zur Verbücherung (zur Verteidigung gegen Dritte) gewährt.
JBl 1953, 267: OGH bejaht analoge Anwendung eines LandesjagdG zur Rechtfertigung von bäuerlicher Selbsthilfe gegen wildernde Hunde, was zeigt, dass die Lückenschließung durch Analogie nicht nur die Grenze des Privatrechts überschreiten kann, sondern auch die zwischen Bundes- und Landesrecht.
RdW 1997/5, 285: OGH wendet die Regelung der §§ 36 f AngG (Konkurrenzklausel für Angestellte) analog auf Arbeiter an, wenn diese Spezialkenntnisse besitzen und/oder Träger von Betriebsgeheimnissen sind.
§ 19 Abs 2 EKHG (Kraftfahrzeughalter) wird analog auf § 1320 ABGB (Tierhalterhaftung) angewandt, wodurch auch ein Tierhalter für seine Gehilfen nach § 1313a ABGB und nicht nur nach § 1315 ABGB einzustehen hat → KAPITEL 10: Wer ist Tierhalter?.
§ 14 Abs 2 GBG (Höchstbetragshypothek) wird über die in dieser Gesetzesstelle geregelten Fälle hinaus analog auf weitere Fälle ausgedehnt. Zur Möglichkeit von Analogie bei taxativer Aufzählung (wie in § 14 Abs 2 GBG): Ablehnung des lange vertretenen Grundsatzes, dass Ausnahmevorschriften eng auszulegen sind – singularia non sunt extenda: SZ 69/159 (1996) mwH → KAPITEL 2: Ausnahmen vom Spezialitätsgrundsatz.
Zur Analogiebasis der §§ 411-413 ABGB (alluvio und avulsio) auf Lawinenabgänge, Muren oder Hangrutschungen → KAPITEL 2: Arten des originären Eigentumserwerbs.
OGH 17. 8. 2001, 1 Ob 83/01i, EvBl 2001/14: Hausverwalter eines Mietwohnhauses klagt den Dritteleigentümer auf Zahlung der von ihm vorgestreckten Auslagen, wogegen der Miteigentümer Verjährung einwendet. – OGH wendet § 355 HGB (Kontokorrent) analog an, obwohl eine Kaufmannseigenschaft des Hausverwalters nicht festgestellt wurde. Ein solches „uneigentlichesKontokorrentverhältnis kann auch schlüssig zustande kommen. Die Verjährung beginnt in diesem Fall erst mit Beendigung der Kontokorrentperiode.
 - Ablehnend OGH 21.4.2005, 6 Ob 69/05y - Mobilfunkvertrag: OGH lehnt eine analoge Anwendung des § 15 Abs 1 KSchG auf freie Dienstverträge mangels Gesetzeslücke ab. – EvBl 2005/166 = JBl 2005, 735 ff
Im Normalfall umfasst die Analogie Tatbestand und (!) Rechtsfolge einer Norm. Die Rechtsanwendung kennt aber auch eine bloße Rechtsfolgenanalogie; etwa im Bereich des § 871 ABGB, wo die Rspr ausnahmsweise auch bei wesentlichem Irrtum bloß eine Vertragskorrektur, also die Rechtsfolge des § 872 ABGB, analog zulässt → KAPITEL 5: Unwesentlicher Irrtum; § 872 ABGB. – Ähnliches wäre für das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage (W/StdGG) zu überlegen; vgl den Sachverhalt von JBl 1989, 381: Umsatzrückgang einer Parkgarage durch Verkehrsbeschränkungen im Einzugsgebiet.
Rspr-Beispiele für Gesetzesanalogie
Die folgenden Beispiele zur Rechtsanalogie zeigen, dass dadurch auch neue Rechtsinstitute geschaffen werden können:
Beispiele von Rechtsanalogie
• Die Praxis wendet auf den Kreditvertrag nach Kreditzuzählung analog das Darlehensrecht an → KAPITEL 3: Der Kredit(eröffnungs)vertrag;
• Entstehung des gesetzlich ungeregelten Rechtsinstituts der cic → KAPITEL 6: Cic: Geschöpf der Rechtsanalogie; gewonnen aus den §§ 866, 874, 878 letzter Satz, § 932 Abs 1 letzter Satz ABGB etc;
• gleiches gilt für die Entstehung des Rechtsinstituts des W/StdGG → KAPITEL 5: Störung oder Wegfall der Geschäftsgrundlage;
• und die sog Analogiepraxis zur gesetzlichen Gefährdungshaftung für neue gefährliche Betriebe: Das ABGB setzt für Schadenersatzansprüche grundsätzlich Verschulden voraus. Eine ganze Reihe von schadenersatzrechtlichen Spezialvorschriften (sog Gefährdungshaftung) statuiert aber eine verschuldensunabhängige Haftung; zB für Kraftfahrzeuge, Eisenbahnen oder Flugzeuge. Der OGH wandte in seiner Rspr mitunter den Gedanken der Gefährdungs-, als Nicht-Verschuldenshaftung auch auf Fälle an, die bisher gesetzlich noch nicht als gefährliche Betriebe anerkannt waren. Ausführlicher: → KAPITEL 9: Haftungsprinzipien – Exkurs: Gefährdungshaftung.
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 46/36: Ausstellungszelt wird durch „Raketen” / Feuerwerkskörper beschädigt; das „Abbrennen von Feuerwerken” wird kraft Ähnlichkeitsschlusses als gefährlicher Betrieb angesehen; ähnlich SZ 31/26: Zirkuszelt wird durch Rauchgase eines Magnesitwerks beschädigt.
SZ 26/75: Unfall bei Sesselliftbenützung – OGH wendet auf Sessellift die Haftungsregeln für Eisenbahnen an; diese Rspr fand schließlich ins EKHG (§ 2 Abs 1) Eingang. Der Gesetzgeber fing die vorausgeeilte Rspr legislativ wieder ein.
Eine neue, bislang nicht erkannte, Möglichkeit böten komplizierte medizinisch-technische Geräte und Verfahren, wie: Computertomographie (CT), Endoskopie, Laparaskopie und -tomie, Telemedizin, überhaupt Computer integrated Surgery (CiS) usw, aber auch Sachverhalte aus dem Bereich der Umwelthaftung.
Die hM entwickelte in Analogie zum Erbvertrag, den Vermächtnisvertrag → KAPITEL 17: Vermächtnisverträge.
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 26/67 (1953): Zur Begründung einer abstrakten Rente (→ KAPITEL 9: Die abstrakte Rente) wird § 843 Abs 4 dtBGB als ein „den natürlichen Rechtsgrundsätzen entsprechender Satz” betrachtet; Lückenfüllung durch ausländisches Recht.
Ausbildung einer allgemeinen Gegeneinrede der Arglist gegen die Verjährungseinrede; zB wenn der Versicherer (= Schuldner) Vergleichsverhandlungen (mit dem Versicherungsnehmer) solange hinauszieht, bis die Verjährung eingetreten ist (Erwecken berechtigten Vertrauens beim Versicherungsnehmer): so JBl 1967, 144.
Zum sog Totenrecht: Bestimmung der Bestattungsart und des Bestattungsortes: Vgl SZ 45/133 (1972) – verheirateter Mann setzt Freundin als Universalerbin ein und begeht in der Folge Selbstmord. Bestattungsanordnung erfolgt durch Freundin (nicht im Familiengrab); Ehefrau will Mann später exhumieren und im Familiengrab beisetzen lassen, was vom OGH uH auf die Totenruhe abgelehnt wird. Die Begründung des OGH erscheint hier noch nicht ausgereift. Vgl aber nunmehr JBl 2000, 110: Zur Totenfürsorge für die verunglückte Tochter → KAPITEL 11: Beispiele zur Anwendung der ¿natürlichen Rechtsgrundsätze¿. Die Rechtsfindung beruht auf natürlichen Rechtsgrundsätzen. – Zum Totenrecht: Gschnitzer, AllgT2 75 und Bydlinski in Rummel 2 I § 7 Rz 13.
Beispiel
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5. Die Größenschlüsse
Zur Analogie werden als Sonderformen auch die sog Größenschlüsse gezählt. Wir unterscheiden zwei Arten:
Das argumentum a minori ad maius ist der Schluss vom Kleineren auf‘s Größere: Ordnet das Gesetz etwas als Rechtsfolge schon für einen – dem Gesetzeszweck nach – weniger wichtigen Sachverhalt an, muss diese Anordnung erst recht für wichtigere Fälle / Sachverhalte gelten!
argumentum a minori ad maius
§ 523 ABGB (nach Ehrenzweig, Sachenrecht) regelt sowohl die actio negatoria, wie die actio confessoria. Diese Rechtsschutzinstrumente kommen erst recht gegen den zur Anwendung, der sich ein Recht nur anmaßt und nicht einmal behauptet berechtigt zu sein.
Beispiele
Rechtssprechungsbeispiel
In EvBl 1964/292 (Hälfteeigentümer lässt vom Hausschwamm befallenes Haus sanieren) zieht der OGH – ohne dies auszudrücken – einen Größenschluss zu § 1097 ABGB: Wenn schon der Bestandnehmer vom Gesetz als Geschäftsführer ohne Auftrag für wichtige Ausbesserungen / Reparaturen angesehen wird, dann erst recht der Miteigentümer!
EvBl 1999/70: Die Klage auf Einwilligung in die bücherliche Einverleibung einer durch Grundstücksteilung entstandenen offenkundigen Dienstbarkeit kann in analoger Anwendung des § 70 GBGim Grundbuch angemerkt werden. – „Kann nun eine Streitanmerkung gem § 70 GBG selbst im Fall eines Klagebegehrens auf ‚Zuerkennung eines dinglichen Rechts’ wegen Ersitzung bewilligt werden, so führt ein Größenschluss als Mittel der Analogiebildung ... zum Ergebnis, dass dieselbe Rechtsfolge auch für den noch gewichtigeren Fall einer schon durch Grundstücksteilung entstandenen offenkundigen Dienstbarkeit gelten muss ....”
LG Salzburg 3. 8. 2000, 54 R 139/00f, JBl 2000, 801: Mutter spielender Kinder züchtigt fremdes Kind. Art 2 EMRK, §§ 16, 1325 ABGB und die Bestimmungen des StGB gewähren ein Persönlichkeitsrecht auf körperliche Unversehrtheit, das neben zivilrechtlichen Ansprüchen auch einen Unterlassungsanspruch beinhaltet. – Beachte: Die naheliegende Lösung, die E auch auf einen Größenschluss – argumentum a maiori ad minus – aus dem Züchtigungsverbot des § 146a ABGB heraus zu stützen, wird nicht gesehen.
Das argumentum a maiori ad minus ist der Schluss vom Größeren auf’s Kleinere: Löst nach dem Gesetz nicht einmal der „größere”, gewichtigere Sachverhalt eine Rechtsfolge aus, so gilt das erst recht für den weniger wichtigen / „kleineren”.
argumentum a maiori ad minus
Beispiel
Kein Größenschluss ist der sog Umkehrschluss, das argumentum e contrario. Bindet der Gesetzgeber erkennbar eine Rechtsfolge an bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen (zB Tb-Element1+Tb-Element2+Tb-Element3), so soll die Rechtsfolge nicht eintreten, wenn ein Sachverhalt nur einen Teil dieser gesetzlich vorgeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt: zB nur Tb-Element1+Tb-Element2 aufweist. – Analogie (in dieser Form) wird demnach ausgeschlossen, wenn das Gesetz die Rechtsfolge nur für einen ganz bestimmten Fall eintreten lassen will, was im Einzelfall freilich zu beweisen ist und nicht von vornherein anzunehmen ist. Ob e contrario oder per analogiam geschlossen werden darf, kann mitunter strittig sein.
Das argumentum e contrario
Beispiel
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6. Die teleologische Reduktion
Hier soll – vgl etwa F. Bydlinski in Rummel I3 § 7 Rz 7 – der ratio legis dadurch Geltung verschafft werden, dass eine (sprachlich) zu weit geratene Anordnung des Gesetzgebers auf das eigentlich Gemeinte eingeschränkt, also „reduziert” wird; Telos = altgriechisch Ziel, Zweck. Ob die Voraussetzungen teleologischer Reduktion vorliegen, kann zweifelhaft sein.
der ratio legis Geltung verschaffen
Teleologische Reduktion und Interpretation verfließen häufig ineinander. Zulässig erscheinen sie nur dann, wenn sich die Wertbasis einer Norm so verändert hat, dass ihr ursprünglicher Normzweck nicht mehr erreicht werden kann, was nicht leichtfertig angenommen werden darf. Wer dies behauptet, ist dafür „beweispflichtig”. Dabei ist zu beachten, dass nicht immer die ganze Norm geändert werden muss, sondern es auch genügen kann, Teile ihres Tatbestands oder ihrer Rechtsfolge/n zu modifizieren.
Beispiel
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7. § 8 ABGB: Authentische Interpretation
Das ist die Interpretation einer Vorschrift – im nachhinein – durch den Gesetzgeber selbst. Sie ist selbst wiederum Gesetz. – Der Gesetzgeber macht von dieser ihm auch heute noch zustehenden Möglichkeit selten Gebrauch.
Dieses Interpretationsmittel spielte aber vor allem in der vorkonstitutionellen Ära des ABGB noch eine Rolle, wo „der Gesetzgeber” die Anwendung des ABGB interpretativ festigte und weiterbildete. Das betrifft vor allem die ersten Jahrzehnte des ABGB nach seiner Kundmachung; inbesondere zwischen 1812 und 1846, vgl aber auch noch G. v. 28.3.1875, RGBl 37 zu § 1072.
Interpretationsmittel der vorkonstitutionellen Ära
Die authentische Auslegung erfolgte in der Form von Hof(kanzlei)dekreten; HfKD – zB von 1846, JGS 970 betreffend § 399 ABGB: Schatzfund. Sie betrafen aber auch die §§ 119, 138, 179, 538, 700, 763, 1249, 1333, 1335, 1367, 1500 ABGB aF. Schey in Klang2 I/1, 15 betont:
Hof(kanzlei)dekrete
„Aber in demselben Maße wie in Rechtslehre und Rechtsanwendung das Gefühl der vom Gesetzbuche gewährten Richterfreiheit [durch § 6 und inbesondere § 7 ABGB!] sich festigte, hörte die alte Gewohnheit, in jedem Falle von Schwierigkeit bei dem ‚obersten Richter ‘ anzufragen, und damit der Anlass zu einer authentischen Interpretation auf.”
Das Konzept der sich über die §§ 6 und 7 ABGB entwickelnden richterlichen Lückenfüllung, verdanken wir – wie erwähnt – Karl Anton von Martini.
Von der authentischen Interpretation zu unterscheiden ist der Fall, dass der Gesetzgeber im Gesetz selbst anordnet, wie ein Begriff auszulegen / zu verstehen ist; vgl § 42 ABGB:
Legalinterpretation
„Unter dem Namen Eltern werden idR ohne Unterschied des Grades alle Verwandten in der aufsteigenden; und unter dem Namen Kinder alle Verwandten in der absteigenden Linie begriffen.”
In einem solchen Fall bedarf es keines neuerlichen Gesetzesbeschlusses zur Interpretation. – Man kann hier von Legalinterpretation sprechen.
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III. Auslegung von Rechtsgeschäften und Verträgen: §§ 914, 915 ABGB
Literaturquelle
Rechtsgeschäfte bestehen aus Willenserklärungen iSd § 863 ABGB → KAPITEL 5: Arten von Willenserklärungen: § 863 ABGB. Bei der Auslegung von Rechtsgeschäften und Verträgen geht es daher vornehmlich – wenn auch nicht ausschliesslich – um die Auslegung von Willenserklärungen, sei es einer, beider oder mehrerer Partei/en. – Es ist aber nicht immer einfach zB die wahre Absicht der Vertragsparteien zu erforschen. Die interpretative Suche nach der Parteienabsicht kann sich dabei auch nicht immer nur am Willen des/r Erklärenden orientieren. Bei entgeltlichen Verträgen hat sich die Auslegung vielmehr an der Verkehrsauffassung, der Verkehrssitte auszurichten, was nichts anderes bedeutet, als dass es nicht immer nur auf den Erklärungswillen oder den Erklärungswortlaut ankommt, sondern auch objektive Verkehrsschutzinteressen für die Auslegung eine Rolle spielen; sog Vertrauenstheorie → KAPITEL 5: Zur Rechtsgeschäftslehre des ABGB.


Vertragsauslegung und Willenserklärung
Abbildung 11.13:
Vertragsauslegung und Willenserklärung
1. Die „Stufen“ des § 914 ABGB
§ 914 ABGB aF lautete:
§ 914 ABGB aF
„Die im ersten Theile (§. 6) in Hinsicht auf die Auslegung der Gesetze angeführten allgemeinen Regeln gelten auch für Verträge. Insbesondere soll ein zweifelhafter Vertrag so erklärt werden, dass er keinen Widerspruch enthalte, und von Wirkung sey.”
Erst die III. TN (1916) hat die Gesetzes- und die Rechtsgeschäftsauslegung getrennt.
Das geltende Gesetz unterscheidet auch in § 914 ABGB – ähnlich den §§ 6 und 7 ABGB – verschiedene Auslegungs- und Lückenfüllungsschritte:
Auslegungs- und Lückenfüllungsschritte
„buchstäblicher Sinn des Ausdrucks” (~ § 6 ABGB: „eigentümliche Bedeutung der Worte”);
„Absicht der Parteien” (~ § 6 ABGB: „klare Absicht des Gesetzgebers”);
„Übung des redlichen Verkehrs” (~ § 7 ABGB: das entspricht der Analogie und den natürlichen Rechtsgrundsätzen).
Die „Übung des redlichen Verkehrs „ in § 914 ABGB, die „Verkehrssitte „ in § 864 ABGB oder die „im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche „ in § 863 ABGB sind maßstäbliche Adaptierungen, die über den Umweg des dtBGB – vgl zB dort §§ 276, 157, im Rahmen der III. TN Eingang ins ABGB gefunden haben. – Aber bereits Hortens Entwurf kannte diese Maßstäbe; vgl dort III 1 §§ 85 ff.
Verkehrssitte
Sie ersetzen den alten Maßstab des ordentlichen Hausvaters / bonus pater familias des römisch-gemeinen Rechts, der griechische Wurzeln hat. Es handelte sich um einen Durchschnittsmaßstab, nicht etwa den eines optimus vir!
Rechtssprechungsbeispiel
EvBl 2000/68 zur Auslegung eines Unterhaltsvergleichs werden die im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten herangezogen und daraus die Geltung der Umstandsklausel abgeleitet.
OGH 5. 4. 2000, 9 Ob A 40/00y, JBl 2001, 192: Gewährt der Arbeitgeber regelmäßig und vorbehaltslos bestimmte Leistungen an seine Arbeitnehmer, gilt dies als schlüssiges Anbot (§§ 863, 914 ABGB), dies auch künftig zu tun. Nehmen die Arbeitnehmer diese Zahlungen entgegen, so liegt darin eine schlüssige Annahme. So werden die Leistungen (dieser Betriebsübung) Inhalt der einzelnen Arbeitsverträge.
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2. Die Unklarheitenregeln der §§ 915, 869 ABGB
Bereits das ABGB von 1811 kannte sie; sie stammen aus den Vor-Entwürfen des ABGB, die sie dem römisch-gemeinen Recht entnommen haben, das sie wiederum den Digesten Justinians entnommen hat.
esianusCodTher III 2 Num 179 (= Entwurf Horten III 1 § 88 = Entwurf Martini III 1 § 46): „Dann Treue und Glauben erheischet, dass ein ernstlich und bedächtlich geschlossener Vertrag nach Thunlichkeit bei Kräften erhalten, und bei bemüßigter Auslegung der Verträgen allemal die Billigkeit vor Augen genommen, erst aber damals, wann sonst auf keinerlei Art die Klarheit und Gewissheit zu erreichen ist, die Ausdeutung der Worten wider jenen Theil gemachet werde, in dessen Macht es gestanden, sich verständlicher und deutlicher auszudrucken.”
Codex Ther
Diese Unklarheitenregeln sind ebenso geniale wie einfache Auslegungsmittel, die eine häufige/re Anwendung in der Praxis verdienten, weil sie unguten Formulierungen auf elegante Weise den „Giftzahn” ziehen.
§ 915 ABGB enthält zwei für die Praxis bedeutsame Vertragsauslegungsregeln, die als „Unklarheitenregeln” bezeichnet werden. Von aller größter Bedeutung ist die zweite für entgeltliche Verträge. Diese zweite Unklarheitenregel schuf mit einfachsten Mitteln ein wirksames Mittel, um gegen eine unseriöse Vertrags(abfassungs)praxis ankämpfen zu können:
§ 915 ABGB
„Bei einseitig verbindlichen Verträgen wird angenommen, dass sich der Verpflichtete eher die geringere... Last auferlegen wollte”; daher ist zB im Zweifelsfall nicht Schenkung, sondern Leihe anzunehmen.
Erste Regel
Das entspricht der römischrechtlichen Regel: donatio non praesumitur.
„Bei zweiseitig verbindlichen [Verträgen] wird eine undeutliche Äußerung zum Nachteile desjenigen erklärt, der sich derselben bedient hat.”
Zweite Regel
§ 869 ABGB steht unter der Überschrift „Wahre Einwilligung” und ergänzt dieses Konzept auf zweifache Weise:
§ 869 ABGB
• er bestimmt ua, dass die Einwilligung in einen Vertrag auch „verständlich erklärt werden muss. Ist die Erklärung [dagegen] unverständlich … so entsteht kein Vertrag.”
• Satz 3 unserer Bestimmung spricht wie § 915 ABGB „undeutliche Ausdrücke” an und ergänzt dadurch die zweite Unklarheitenregel des § 915 ABGB.
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3. § 863 ABGB – Arten von Willenserklärungen
Nach § 863 Abs 1 ABGB kann man seinen Willen „nicht nur ausdrücklich durch Worte und allgemein angenommene Zeichen” erklären, sondern auch stillschweigend und schlüssig / konkludent durch solche Handlungen, „welche mit Überlegung aller Umstände keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln übrig lassen”. – Abs 2 dieser Bestimmung fügt hinzu, dass „in Bezug auf Handlungen und Unterlassungen „ ... auf die im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen ist”; Verkehrs- und Vertrauensschutz → KAPITEL 5: Zur Rechtsgeschäftslehre des ABGB.
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4. Ergänzende Vertragsauslegung
Die ergänzende Vertragsauslegung soll Lücken füllen, die die Vertragsparteien – idR ungewollt – in ihren Vereinbarungen gelassen haben; sog Vertrags- oder Regelungslücken. Gefragt wird dabei von der Rspr danach, wie die Parteien den Vertrag gestaltet hätten, wenn sie die (Regelungs)Lücke erkannt hätten. – § 914 ABGB stellt auf die Absicht der Parteien und die Verkehrssitte ab. Bei einer unterlaufenen Regelungslücke tritt an die Stelle der ausdrücklich oder doch schlüssig geäußerten Parteienabsicht die hypothetische Erforschung des Parteiwillens.
Vertragliche Regelungslücken
Stärker als der OGH haben das dtRG und der dtBGH früh interessante En zur ergänzenden Vertragsauslegung gefällt. Dabei spielten mehrfach in Verträgen „vergessene” Konkurrenzklauseln / -verbote eine Rolle: – Die Vertragsparteien hatten bspw im Rahmen einer Unternehmensveräußerung vergessen eine Konkurrenzklausel zu vereinbaren. Als nach erfolgter Veräußerung der Verkäufer erneut einen Konkurrenzbetrieb eröffnete, kam es zum Streit und RG und BGH entschieden zugunsten des Erwerbers, fügten also dem Kaufvertrag ergänzend die vergessene Konkurrenzklausel hinzu. Verständige Parteien hätten eben eine solche nach der Verkehrssitte vereinbart und schon ihre ursprüngliche Vereinbarung in diesem Sinne verstanden!
Vorbilder: dtRG und dtBGH
Rechtssprechungsbeispiel
RGZ 117, 177 (1927): Kann beim Verkauf eines kaufmännischen Geschäfts (Herstellung von Krankenwagen) ein Wettbewerbsverbot nur ausdrücklich oder auch stillschweigend auferlegt werden? Es war vergessen worden, in den Vertrag ein Wettbewerbsverbot in Form einer Konkurrenzklausel aufzunehmen. Der Veräußerer des Unternehmens nahm in der Folge wiederum die Produktion auf und holte sich dadurch einen Großteil seines ursprünglichen Kundenstocks zurück. Das RG ergänzte den Vertrag durch eine solche Klausel! – Ähnliche Urteile ergingen zur Veräußerung von Rechtsanwalts- und Arztpraxen; zB BGH, NJW 1955, 337.
EvBl 1940/239 (RG 15.4.1940: Mit interessanten Ausführungen über Funktion und Unterschied von Wettbewerbsklauseln / -verboten nach dem AngG und zwischen Unternehmern): § 1 UWG – Wettbewerbsklausel bei Geschäftsverkauf uH auf SZ 14/69 ( Verkauf einer Schmiede samt Kundenliste) und 173: Verkauf eines OHG-Geschäftsanteils + Konkurrenzverbot (1932);
SZ 25/47 (1952): Die Vereinbarung der Übernahme des Unternehmens durch einen der Gesellschafter einer OHG enthält idR ein stillschweigendes Wettbewerbsverbot.
SZ 36/58 (1963): Wettbewerbsklausel in Pachtverträgen.
OGH 28. 1. 2002, 2 Ob 336/01b, JBl 2002, 653: In einem Transportvertrag wird Kundenschutz vereinbart – „bei … Kontaktaufnahme mit unseren Kunden verfallen sämtliche Forderungen gegen uns”. Der Kläger will von dieser Klausel alle Unternehmen erfasst wissen, die in irgendeiner Weise an Verträgen mit Kunden beteiligt waren. Beklagter nimmt dennoch Kontakt mit Kunden auf und verletzt die Vereinbarung. – OGH: Die früher vertretene These, Konkurrenzverbote und -klauseln seien wegen des Prinzips der Vertragsfreiheit im Zweifel einschränkend auszulegen, dürfte zwar in dieser Allgemeinheit aufgegeben worden sein; die Auslegung eines Konkurrenzverbotes durch ergänzende Vertragsauslegung kommt aber dann in Betracht, wenn dies der Zweck der Vereinbarung oder die Verkehrssitte erfordern.
Die ergänzende Auslegung tritt erst dann auf den Plan, wenn auch das Dispositivrecht (→ KAPITEL 1: Nachgiebiges und zwingendes Recht und → KAPITEL 7: Nachgiebiges und zwingendes Recht) die aufgetretene Regelungslücke einer Parteienvereinbarung nicht schließen kann; Susidiarität dieses Lückenfüllungsmittels. – Bezogen auf die Gesetzesauslegung entspricht die ergänzende Vertragsauslegung den Lückenschließungsinstrumenten des § 7 ABGB: Analogie und natürliche Rechtsgrundsätze.
Subsidiarität der ergänzenden Auslegung
Armin Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I/1, Allgemeiner Teil (19512), führt zur Auslegung von Willenserklärungen und Rechtsgeschäften aus:
Armin Ehrenzweig
„Die Auslegung einer Willenerklärung ermittelt den Sinn der Erklärung, dh das, was der Erklärende als seinen Willen hat erklären wollen. In diesem Sinne stellt die Auslegung eines Testamentes den Willen des Erblassers fest. Fragen, an die er nicht gedacht hat, löst die ergänzende Auslegung in seinem Sinne, dh so, wie er sie vermutlich gelöst hätte ... [Es wird daher auch von hypothetischer Auslegung gesprochen.]
In derselben Weise entscheidet bei Verträgen der gemeinsame Wille der Parteien: ‘Bei Auslegung von Verträgen ist nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdruckes zu haften, sondern die Absicht der Parteien zu erforschen ...’ (§ 914 ABGB). Der Code civil (Art 1156), der hier [sc: der III. TN] als Vorbild gedient hat, sagt ausdrücklich: ‘On doit dans les conventions rechercher quelle a été la commune intention des parties contractantes, plutôtque de s’arrêter au sens litteral des termes’. Auch für Verträge gilt also die Regel ‘Falsa demonstratio non nocet ’ (§ 571 ABGB), freilich nur unter der Voraussetzung, dass beide Teile dasselbe gewollt und ihren Willen übereinstimmend falsch erklärt haben ... Von der Absicht der Parteien spricht § 914 ABGB, nicht wie § 133 dtBGB von ihrem ‘Willen’. Die Absicht ist bei der Vertragsauslegung ebenso zu verwerten, wie nach § 6 ABGB bei der Gesetzesauslegung. Sie ist nach dem Herrenhausberichte (S 274) ‘nichts anderes als der Geschäftszweck, die causa des Vertrages’. Danach gestattet § 914 ABGB auch die ergänzende Auslegung. Der Richter kann also im Hinblicke auf den gemeinsamen Geschäftszweck einen übereinstimmenden Willen auch dann feststellen, wenn ein Punkt streitig ist, an den die Parteien nicht gedacht haben, oder hinsichtlich dessen jede Partei etwas anderes gewollt hat. Sogar dann kann die Auslegung gelingen, wenn die Parteien sich bewusst auf eine zweideutige Fassung geeinigt haben, weil jede von ihnen erwartet hat, der Richter werde die Bestimmung in ihrem Sinne auslegen. In solchen Fällen holt der Richter nach, was die Parteien versäumt haben; die Auslegung wird zur Ergänzung des Vertrages.”
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5. Weitere Auslegungsregeln im ABGB
Neben den §§ 914, 915 enthält das ABGB auch an anderen Stellen Auslegungshilfen für Rechtsanwender; vgl etwa § 1406 Abs 2 (Schuldbeitritt), § 521 (Wohnrecht), § 614 (Substitution), § 655 (Vermächtnisse), § 42 (Eltern, Kinder) oder § 1106 (Bestandvertrag).
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6. Rspr-Beispiele
Rechtssprechungsbeispiel
EvBl 1971/317: Auslegung einer Konkurrenzklausel: Verpachtung des einzigen Spenglerei-Installationsbetriebs im Brixental / Tirol. – Die umstrittene Vertragsklausel lautete: „Der Pächter verpflichtet sich – bei sonstiger Leistung der vollen Genugtuung und einer vom Gericht zu bestimmenden Konventionalstrafe – drei Jahre nach Ablauf des Pachtverhältnisses im Brixental kein gleichartiges Gewerbe zu betreiben. Diese Bestimmung gründet darauf, dass der Pachtbetrieb der einzige einschlägige Betrieb im ganzen Brixental ist und die Verpächterin ihrem Pächter ihren gesamten Kundenstock zur Verfügung stellt.” Der Pachtvertrag war am 2.2.1971 aufgelöst worden. Die beklagte ehemalige Pächterin betreibt seither ein eigenes Installationsunternehmen in Hopfgarten. Der ehemalig Verpächter stellte daher einen Antrag auf einstweilige Verfügung und Unterlassungsklage, weil die Gefahr bestand, dass der Kundenstock des verpachteten Unternehmens verloren geht und eine Wiederverpachtung des Unternehmens dadurch unmöglich wird. – Umstritten war inbesondere, ob eine Unterlassungsklage möglich war, oder ob nur Schadenersatzansprüche des früheren Verpächters bestanden. Der OGH entschied, dass die wirtschaftliche Bedeutung der Konkurrenzklausel einen Unterlassungsanspruch rechtfertigt. Dabei stützte er sich auf § 914 ABGB: „Absicht der Parteien”. Der Zweck der Klausel lag seines Erachtens darin, nach Beendigung des Pachtvertrags einen ruinösen Wettbewerb zwischen den Vertragspartnern zu vermeiden. Der OGH erblickte daher zu recht als primäre Verpflichtung des Pächters die Unterlassung eines Konkurrenzbetriebs und nur sekundär – inbesondere bei Zuwiderhandeln – parallel dazu Schadenersatz.
Beachte
Rechtssprechungsbeispiel
ZAS 2001, H. 5 (Judikaturbeilage) – OGH 24.1.2001, 9 Ob A 217/00b: Umfang des Konkurrenzverbots nach § 7 AngG – Leitender Angestellter eines Software-Unternehmens erwarb (gemeinsam mit einem Vorstandsmitglied) über einen Treuhänder eine Geschäftsbeteiligung an einem Zulieferunternehmen, das ausschließlich für das Unternehmen seines Arbeitgebers produzierte. Diese Beteiligungen wurden dem Arbeitgeber verheimlicht. – Arbeitgeber sprach nach Bekanntwerden der Beteiligung die Entlassung aus, weil sich der Arbeitnehmer weigerte seine Beteiligung aufzugeben. Unter Berufung auf die §§ 7 und 13 AngG begehrte der Arbeitgeber ferner die Abtretung der Geschäftsanteile, Herausgabe der bezogenen Dividenden und (darüber hinausgehenden) Schadenersatz. – Der OGH bestätigte die Entlassung wegen Vertrauensunwürdigkeit, wies aber alle anderen Ansprüche des Klägers ab
OGH 14. 10. 2002, 1 Ob 113/02b (verst Senat), JBl 2003, 176: Die Kläger pachteten von der Beklagten (Gemeinde) ein Restaurant im Bade- und Festspielgelände und akzeptierten im Vertrag (nur) das Anbieten „kleiner Speisen” durch Dritte an Veranstaltungstagen. 3 Jahre später verpachtete die Beklagte aber noch eine „Gourmet-Zeile”, ein weiteres Restaurant und ein Buffet an andere Unternehmer, was zu erheblichen Umsatzeinbußen bei der Klägerin führte. – OGH: Ein durch die entgegen vertraglichen Verpflichtungen des Bestandgebers erfolgte Eröffnung von Konkurrenzunternehmen im Einzugsbereich des Bestandobjekts (mit)verursachter erheblicher Rückgang des Geschäftserfolgs rechtfertigt ein Zinsminderungs- bzw -befreiungsbegehren gem § 1096 Abs 1 ABGB. – Leider fehlen Erhebungen in Richtung Naturalrestitution (§ 1323 ABGB) und das vereinbarte Konkurrenzverbot, die diesen eklatanten Vertragsbruch am konsequentesten ausgeräumt hätte.
Konkurrenzverbot: Untersagung einer konkurrierenden Tätigkeit während des Bestands einer rechtlichen inbesondere einer vertraglichen Beziehung; zB § 112 HGB: für OHG-Gesellschafter oder nach § 7 AngG für Arbeitnehmer während eines aufrechten Arbeitsverhältnisses.
Unterscheide: Konkurrenzverbot <-> Konkurrenzklausel
Konkurrenzklausel: Stellt eine vertragliche Beschränkung für die Zeit nach Beendigung des Vertrags dar; vgl etwa § 36 AngG. Vgl auch die eben behandelte E des OGH; EvBl 1971/317: Diese E zeigt uns, dass eine Konkurrenzklausel sowohl im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als auch zwischen Unternehmern – also zwei Selbständigen – vereinbart werden kann.
Literaturquelle
Rechtssprechungsbeispiel
Weitere Beispiele zur Vertragsauslegung:
Auslegung einer sog Schwellwertklausel: EvBl 1976/231 → KAPITEL 15: Wertsicherung.
In einem Schenkungsvertrag auf den Todesfall (→ KAPITEL 3: Schenkung auf den Todesfall) wurde folgender Passus streitig: „Hubert B [= der Übernehmer] verpflichtet sich, seinen Onkel Franz B [= Übergeber] in alten und kranken Tagen ... unentgeltlich zu pflegen ...” – Bedeutet diese Formulierung, dass der Onkel: alt und krank sein muss, um die ausbedungenen Leistungen in Anspruch nehmen zu können, oder genügt es, dass er diese auch beanspruchen kann, wenn er sie bloß altersbedingt braucht?
SZ 54/112 (1981): Sind nach vertraglicher Vereinbarung als Leistung neben einem bestimmten Geldbetrag als Hauptleistung auch Arbeitsschichten zu verrichten, ist mangels anderer Konkretisierung unter einer Arbeitsschicht (nach der geltenden Arbeitszeitregelung) eine Arbeitsleistung von acht Stunden zu verstehen und damit die Leistung hinreichend bestimmt / bestimmbar.
JBl 1999, 380: Auslegung einer Reallast des Wasserbezugs – Eine langjährige Abwicklungspraxis der Vertragsparteien und ihrer Rechtsnachfolger lässt Rückschlüsse auf den seinerzeitigen Geschäftswillen zu; „Selbstinterpretation” einer vorprozessualen Praxis.
JBl 1999, 390: Zur Auslegung eines Schiedsvertrags als Prozessvertrag. Dafür ist grundsätzlich Prozessrecht heranzuziehen. Soweit jedoch die Vorschriften des Prozessrechts nicht ausreichen, sind analog die Auslegungsregeln des ABGB heranzuziehen, wobei die Parteienabsicht und die Grundsätze des redlichen Verkehrs zu berücksichtigen sind.
SZ 41/131 (1968): Auslegung eines Haftungsausschlusses in AGB – Die AGB eines Elektrizitätsversorgungsunternehmens (EVU) enthielten folgende Klausel: „Das EVU ist verpflichtet, Strom ... zu liefern, ... und dafür zu sorgen, dass der Abnehmer, ... elektrische Energie zu jeder Tages- und Nachtzeit beziehen kann, soweit das EVU nicht durch höhere Gewalt oder durch Umstände, die abzuwenden nicht in seiner Macht steht, verhindert ist oder die Vornahme betriebsnotwendiger Arbeiten die Unterbrechung erfordern.” – Im Prozess stellte sich die Frage: Umfasst der Haftungsausschluss in den AGB auch Schäden aus vergessener Verständigung von der Abschaltung bei Straßenbauarbeiten? Der OGH meint: „Vereinbarungen über die Beschränkung oder den Ausschluss der Haftung sind nach der Übung des redlichen Verkehrs (§ 914 ABGB) auszulegen.” Die Haftung kann zwar – so der OGH – für betriebsbedingte Schäden, nicht aber für Verstöße gegen eigene Sorgfaltspflichten (hier Warnpflicht) aus dem Vertrag ausgeschlossen werden! Das EVU hatte daher die dem Abnehmer aus der Abschaltung entstandenen Schäden zu ersetzen.


Haftungsausschluss in AGB (1)
Abbildung 11.14:
Haftungsausschluss in AGB (1)


Haftungsausschluss in AGB (2)
Abbildung 11.15:
Haftungsausschluss in AGB (2)
Rechtssprechungsbeispiel
OGH 30. 8. 2000, 6 Ob 174/00g, SZ 73/132: Eine GmbH hat Kreditschulden von nahezu 5 Mio S bei der A-Bank. Zur Besicherung wird eine Global- und Mantelzessionsvereinbarung geschlossen, die jedoch aufgrund unzureichender Kenntlichmachung in der offenen Postenliste (OP-Liste) der Kreditschuldnerin mangels Publizität nicht zu einer Abtretung der Forderungen führt. Als die GmbH bei der A-Bank keine weiteren Kredite mehr erhält, wendet sie sich an die B-Bank, der sie die bereits erfolgte Globalzession zugunsten der A-Bank mitteilen. Zur Besicherung des neuen Kredits wird auch mit der B-Bank ein Global- und Mantelzessionsvertrag geschlossen und im Laufe der Zeit werden ihr auch Forderungen im Wert von über 4 Mio S abgetreten. Nach dem Konkurs der GmbH klagt die A-Bank die B-Bank auf Zahlung dieses Betrages. – OGH: Die Globalzession künftiger Forderungen bedarf der Anbringung eines Generalvermerks in der offenen Postenliste. Dieser muss den Zessionar und das Datum des Zessionsvertrags anführen. Im konkreten Fall wurde nur der Buchstabe „Z” auf jede Seite der OP-Liste gesetzt). Wenn trotz des Fehlens eines ausreichenden Buchvermerks ein zweiter Zessionar vom Globalzessionsvertrag des ersten Kenntnis hat (hier: Information durch den Zedenten selber), wird er wegen des Eingreifens in fremde Forderungsrechte schadenersatzpflichtig. – Überlege: Kann bei Vereinbarung einer Globalzession stillschweigend ein Abtretungsverbot angenommen werden und wie könnte es begründet werden? (§ 914 ABGB iVm mit ergänzender/hypothetischer Vertragsauslegung) Didaktisch vorbildliche Gliederung der E
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D. Rechtsquellen des Privatrechts
Wir haben uns mit der Rechtsanwendung und Rechtsfindung, dem Subsumtionsvorgang und der Lehre vom Rechtssatz sowie der Auslegung von Gesetzen, Rechtsgeschäften und inbesondere Verträgen befasst und haben nun noch ein weiteres Kapitel nachzutragen: Die Frage der Rechtsquellen. – Rechtsanwendung setzt nämlich, wie der Begriff sagt, die Anwendung von „Recht” voraus. Aber was alles ist nun Recht? Die Antwort ist schwieriger, als die Frage vermuten lässt. Und die Antwort war im Laufe der Zeiten nicht immer dieselbe. Die Rechtsquellenlehre will also klären, „was” heute als Recht anzusehen ist – zB Gesetzesrecht, Gewohnheitsrecht, Richterrecht – und „wie” geltendes Recht entsteht; sei es im nationalen, supranationalen oder internationalen Bereich.
Der Fragenbereich der Rechtsquellen war immer – und ist es bis heute – umstritten. – So lässt sich etwa fragen, ob das Naturrecht auch heute noch eine Rechtsquelle in Österreich ist? Die §§ 7 und 16 ABGB legen das nahe, was die weitere Frage erheben lässt, was wir heute unter Naturrecht verstehen. Auch die Entscheidungen der Höchstgerichte werfen immer wieder einschlägige Fragen auf. Und der rechtsquellentheoretische Stellenwert juristischer Lehrmeinungen wechselte in der Rechtsgeschichte. In der Kodifikationsgeschichte des österreichischen Privatrechts war bspw die Stellung der Partikularrechte, also territorialer Sonderrechte umkämpft, sollte doch einheitliches Recht für alle geschaffen werden → § 10 ABGB: Gewohnheiten
Literaturquelle


Bundesgesetzblatt
Abbildung 11.16:
Bundesgesetzblatt
I. Einteilung der Rechtsquellen
1. Rechtsentstehungs- und Rechtserkenntnisquellen
Traditionellerweise wird unterschieden zwischen:
• Rechts-Entstehungs-Quellen (fontes iuris essendi oder materielle Quellen) und
• Rechts- Erkenntnis-Quellen (fontes iuris cognoscendi, formelle Quellen).
Erstere sind jene, aus denen das Recht „fließt” (zB Gesetzesrecht = gesatztes Recht oder Gewohnheitsrecht), also Recht in seiner Entstehungsform. – Letztere vermitteln uns die Kenntnisbereits entstandenen Rechts; Recht in seiner Erscheinungsform: zB Gesetzbücher, Bundes- und Landesgesetzblätter, Entscheidungssammlungen, Rechtsdatenbanken, Urkunden, Urteile, Bescheide, Verträge etc.
Zum Kollektivvertrag als (Sonder)Rechtsquelle → Der Kollektivvertrag als Rechtsquelle
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2. Generelle und individuelle Rechtsquellen
Neben Rechtsentstehungs- und Rechtserkenntnisquellen wird auch zwischen:
generellen (zB Gesetze, Staatsverträge, Gewohnheitsrecht, sog Rechtsverordnungen, Kollektivverträge) und
individuellen (Urteile, Bescheide, Vertrag, Testament etc) Rechtsquellen unterschieden → KAPITEL 1: Stufenbau der Rechtsordnung: Stufenbau der Rechtsordnung.
Generelle Rechtsquellen richten sich an alle Rechtsadressaten, mag das auch nur eine größere Gruppe (wie die Kaufleute: HGB) sein oder wie bei Kollektivverträgen Angehörige bestimmter Berufe. Individuelle Rechtsquellen dagegen richten sich bloß an Einzelne, etwa an die Parteien eines Vertrags oder eines Rechtsstreits oder Verwaltungsverfahrens.
Das Gesetz als generelle Norm verbietet schon begrifflich Sondergesetze für oder gegen bestimmte Personen. Das wurde schon vom XII-Tafelgesetz untersagt, kam aber dennoch schon in Rom vor; zB lex Clodia. Wie schwer aber auch solch’ wichtige Prinzipien einzumahnen sind, lehrt uns die von der ÖVP-FPÖ-Regierung durchgeboxte lex Salmutter.
BGBl-G, BGBl 660/1996
Das BGBl erscheint nunmehr in 3 Teilen und verlautbart:
In Teil I: Gesetzesbeschlüsse des NR, Kundmachungen (Kdm) über Wiederverlautbarungen, Kdm der Bundesregierung, Kdm des Bundeskanzlers über die Aufhebung verfassungswidriger Gesetze, Art 15a Abs 1 B-VG Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern.
In Teil II: Entschließungen des Bundespräsidenten, Verordnungen der Bundesregierung und der Bundesminister, Kdm über das Außerkrafttreten von Verordnungen, Kdm des Bundeskanzlers oder eines BM über die Aufhebung gesetzwidriger Verordnungen, nicht unter Art 15a Abs 1 B-VG fallende Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern.
In Teil III: Staatsverträge, Rechtsvorschriften internationaler Organe mit unmittelbarer Wirkung für Österreich, Kdm über die Feststellung der Gesetz- oder Verfassungswidrigkeit eines Staatsvertrags.
Nach § 5 Abs 3 BGBl-G können Bundesgesetzblätter auch auf andere technische Weise zur Verfügung gestellt werden; zB elektronische Medien wie Internet, Rechtsdatenbanken etc. Das Rechtsinformationssystem des Bundes – das sog RIS – (http://www.ris.bka.gv.at/) enthält das gesamte Bundes- und Landesrecht sowie oberstgerichtliche Judikatur und Behörden-Links.
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II. Das Gesetzesrecht
Das Gesetzesrecht ist heute die klar dominierende Rechtsquelle. Früher war das anders; vgl daher die dem § 10 ABGB entnehmbare Ablehnung des Gewohnheitsrechts. Der ABGB-Gesetzgeber wollte die neue Kodifikation nicht durch das Entstehen von (neuem) Gewohnheitsrecht entwertet wissen.
Das Gesetz als Instrument der Rechtssetzung und Gesellschaftssteuerung stammt, wie vieles andere rechtliche, aus dem alten Griechenland; vgl Barta, „Graeca non leguntur”? – Zum Ursprung des europäischen Rechtsdenkens im antiken Griechenland (in Vorbereitung: 2005)
Die §§ 1-9 ABGB, auf die in der Folge kurz eingegangen wird, stammen aus Martinis „Einleitung” seines Entwurfs für ein österreichisches bürgerliches Gesetzbuch (1796), die zunächst ins WGGB (1797) und dann ins ABGB (1811) einflossen. – Wie ernsthaft über das Verfassen von Gesetzen nachgedacht werden kann, lehrt uns Platons Dialog „Nómoi” (= Die Gesetze).


Gesetz: Mittel der Gesellschaftssteuerung
Abbildung 11.17:
Gesetz: Mittel der Gesellschaftssteuerung
1. § 1 ABGB: Was regelt das bürgerliche Recht?
Das bürgerliche Recht regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Bürgern / Individuen „unter sich”, also als gleichberechtigte Privatleute. Die Formulierung des § 1 ABGB stammt aus Martinis Entwurf. – Die Diktion des Gesetzes: „Unter sich” betont die Gleichstellung der Parteien des Privatrechts (im Gegensatz zum öffentlichen Recht, das grundsätzlich von einer Über- und Unterordnung ausgeht) → KAPITEL 1: Zur Abgrenzung: Privatrecht ¿ öffentliches Recht.
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2. § 2 ABGB: Gesetzeskenntnis
Rechtskenntnis war früher (inbesondere vor den Kodifikationen) ein großes Problem und wird heute wieder zunehmend zu einem solchen. – Rechtskenntnis darf aber nicht wieder zu einem Glücksspiel werden! Es ist zu wenig, wenn sich nur Angehörige des sog Rechtsstabs „auskennen“.
Wer ist Normadressat? – Bürger oder Rechtsstab?
Vgl Bertold Brecht, Der kaukasische Kreidekreis: „Und das Recht ist eine Katze im Sack.”
Literaturquelle
Rechtssprechungsbeispiel
Vgl nur den Sachverhalt von EvBl 2002/145 (Eisenbahnoberleitung über Kleingarten) → KAPITEL 10: Entscheidungsbeispiele zu den Kapiteln 9 und 10.
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3. § 3 ABGB: Inkrafttreten von Gesetzen
§ 3 ABGB wird modifiziert durch § 4 BGBl-G. – Bundesgesetze treten demnach grundsätzlich mit Ablauf des Kundmachungstages in Kraft. Der Gesetzgeber kann aber ein späteres Inkrafttreten festsetzen; sog Legisvakanz / vacatio legis.
Legisvakanz
Die Kundmachung von Rechtsquellen wird als Publikation oder Promulgation bezeichnet. Gehörige Kundmachung setzt sowohl die formelle, wie eine wirkungsvolle / effektive Kundmachung (= materielle Publikation) voraus.
Publikation
Das erweist sich immer wieder als Problem. Viele Menschen kennen auch „ihre” Rechte, also auch das für sie günstige Recht, nicht.
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4. § 5 ABGB: „Gesetze wirken nicht zurück”
Gemeint ist damit ein (nachträglich festgesetzter) Geltungsbeginn von Gesetzen vor ihrer Kundmachung. – Es handelt sich dabei um einen wichtigen legistischen Programmsatz, der aber immer wieder durchbrochen wird, weil es sich um eine einfachgesetzliche Bestimmung und nicht um Verfassungsrecht handelt. Rechtsstaatlich sind derartige Maßnahmen problematisch, was seit der Antike so gesehen wird.
Verhindert werden soll damit idR eine sonst mögliche Spekulation Betroffener mit den neuen Regelungen.
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5. § 9 ABGB: Zur Geltungsdauer von Gesetzen
„Gesetze behalten so lange ihre Kraft, bis sie von dem Gesetzgeber abgeändert oder ausdrücklich aufgehoben werden.”
Es gibt allerdings immer wieder Gesetze auf Zeit; zB auf 5 Jahre. Das kann sinnvoll sein, um beobachten zu können, ob sich eine Regelung bewährt. – Bejaht man das Gewohnheitsrecht als Rechtsquelle, muss man auch die Derogation von Gewohnheitsrecht für möglich halten, was die Lehre des öffentlichen Rechts bestreitet.
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6. Formelle und materielle Derogation
Im Zusammenhang mit der Frage der Geltung von Gesetzen steht die ihrer Derogation. Unterschieden werden muss zwischen materieller (= bloß „inhaltlich und nicht ausdrücklich abgeändert”) und formeller (= „ausdrücklich aufgehoben”) Derogation. – Derogation meint demnach Aufhebung eines Rechtssatzes durch einen anderen, späteren uzw im Stufenbau der Rechtsordnung mindestens ranggleichen (oder ranghöheren).
Zum Derogationszusammenhang im Rahmen des Stufenbaus der Rechtsordnung → Formelle und materielle Derogation
lex postérior dérogat legi prióri = das spätere Gesetz, hebt das frühere auf
lex spécialis derogat legi generali = das speziellere Gesetz, hebt das allgemeinere auf
lex superior derogat legi ínferiori = das höherrangige Gesetz, hebt das niederrangigere Gesetz auf.
Beispiel für ein eigenes DerogationsG ist das Erste BundesrechtsbereinigungsG (1. BRBG) 1999, BGBl I Nr 191. Es geht dabei um die Bereinigung der vor 1946 kundgemachten einfachen Bundesgesetze und Verordnungen, die, ausgenommen jene, die im Anhang des Gesetzes in eine Liste aufgenommen wurden, nicht weitergelten, sondern ab 1.1.2000 aufgehoben wurden.
BundesrechtsbereinigungsG
In die Liste aufgenommen wurde bspw das ABGB von 1811. Beim Erstellen dieser Liste sind aber Fehler unterlaufen; vgl etwa die wohl ungewollte Aufhebung des HfKD 1846, JGS 970 betreffend § 399 ABGB: Schatzfund → KAPITEL 2: Arten des originären Eigentumserwerbs.
㤠1 (1. BRBG) 1999, BGBl I Nr 191
Alle auf der Stufe von einfachen Gesetzen oder Verordnungen stehenden Rechtsvorschriften des Bundes, die vor dem 1. Jänner 1946 kundgemacht wurden und noch als Bundesrecht in Geltung stehen, treten, sofern sie nicht im Anhang zu diesem Bundesgesetz angeführt sind, mit Ablauf des 31. Dezember 1999 außer Kraft.
§ 3
(1) Eine Rechtsvorschrift im Sinne dieses Bundesgesetzes umfasst die Erstfassung einer Norm samt allen zugehörigen Novellen. Tritt eine Rechtsvorschrift auf Grund des § 1 außer Kraft, so bewirkt dies daher auch das Außerkrafttreten aller Novellen, einschließlich solcher, die nach dem 31. Dezember 1945 kundgemacht wurden.
§ 4
(1) Die im Anhang angeführten Rechtsvorschriften bleiben in ihrer am 31. Dezember 1999 geltenden Fassung weiter aufrecht.
(3) Unter § 1 fallende Rechtsvorschriften, die in der Folge wiederverlautbart wurden, gelten ab dem Tag der Kundmachung ihrer Wiederverlautbarung als Bundesgesetz in der durch die Wiederverlautbarung bewirkten Fassung. Bei mehrfach wiederverlautbarten Rechtsvorschriften ist die zeitlich letzte Wiederverlautbarung maßgebend.”
§ 5
(1) Die Aufhebung von Rechtsvorschriften durch § 1 bewirkt, dass diese Vorschriften nur mehr auf Sachverhalte anzuwenden sind, die sich vor dem 1. Jänner 2000 ereignet haben.
§ 6
Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Jänner 2000 in Kraft.”
Literaturquelle
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7. Der Kollektivvertrag als Rechtsquelle
Der Kollektivvertrag dient rechtlich als Ausgleich für das Versagen der Vertragsfreiheit des bürgerlichen Rechts im Bereich des Einzelarbeitsvertrags. Kollektivverträge sind bestrebt, aus der bloß formalen Gleichbehandlung der Arbeitsvertragspartner (also von Arbeitgebern und Arbeitnehmern) eine echte Gleichstellung zu machen. Dadurch wird eine inhaltliche Typisierung der vom jeweiligen Kollektivvertrag umfassten Arbeitsverträge erreicht.
Zum Kollektivvertrag vgl auch → KAPITEL 12: Kollektivverträge.
Obwohl es Kollektivverträge in nahezu allen entwickelten Ländern der Erde gibt, ist die Terminologie unterschiedlich: Deutschland spricht vom Tarifvertrag, Italien vom contratto colletivo, Frankreich von Convention Collective de travail, die Schweiz vom Gesamtarbeitsvertrag, die USA von collectiv agreement und Großbritannien von collectiv bargain oder joint agreement.
Der Kollektivvertrag wird zwar vom B-VG (noch) nicht als eigene Rechtsquelle genannt, wird aber mittlerweile als Rechtsquelle sui generis anerkannt. Seine Besonderheit liegt darin, dass er eine Kombination von schuldrechtlichem Vertrag, geschlossen zwischen den Kollektivvertragsparteien, und eigener – vom ArbVG 1974 verliehener – normativ rechtlicher (Gesetzes)Kraft darstellt. Dieser normative Teil des Kollektivvertrags besitzt Gesetzesrang, ist also Gesetz im materiellen Sinn und daher Rechtsquelle. Der normative Teil des Kollektivvertrags wirkt wie ein Gesetz auf die umfassten Einzelarbeitsverhältnisse ein; aber auch auf die Beziehung zwischen Betriebsinhaber und Belegschaft und die Beziehung zwischen einzelnem Arbeitnehmer und seinem Arbeitnehmerverband. Als Rechtsquelle steht der normative Teil von Kollektivverträgen über dem einfachen dispositiven Gesetzesrecht.
Rechtsquelle sui generis
In manchem Gesetz findet sich daher die ausdrückliche Anordnung, dass ein Abgehen von der getroffenen Regelung durch Kollektivvertrag möglich ist.
Für die Auslegung von Kollektivverträgen ist zu berücksichtigen: Obwohl der Kollektivvertrag wie ein Vertrag zustande kommt, wirkt er in seinem normativen Teil wie ein Gesetz im materiellen Sinn und wird daher nach hA auch wie ein Gesetz ausgelegt; dh Anwendung der §§ 6, 7 ABGB – vgl etwa E des OGH 1976, ZAS 1978, 105 – und nicht der §§ 914, 915 ABGB.
Auslegung von Kollektivverträgen
Unterschiedliche Meinungen existieren über die Frage, ob der Kollektivvertrag (als Gesetz im materiellen Sinn) bloß einer mittelbaren Grundrechtsbindung unterliegt (so zB Strasser, Arbeitsrecht II 141 f und der OGH in: DRdA 1999, 32: Anm Runggaldier) oder eine unmittelbare Grundrechtsbindung anzunehmen ist; so Runggaldier und Marhold.
Grundrechtsbindung
Allgemein zur Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht → KAPITEL 4: Grundrechte und Privatrecht.
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III. Das Gewohnheitsrecht
1. § 10 ABGB: Gewohnheiten
„Auf Gewohnheiten [gemeint ist das Gewohnheitsrecht] kann nur in den Fällen, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft, Rücksicht genommen werden.”
Das ABGB steht dem Gewohnheitsrecht (consuetudo) ablehnend gegenüber; vgl schon → Das Gesetzesrecht (am Beginn). In der Kodifikationsgeschichte des ABGB war diese Frage heftig umstritten. Das Gesetz als neue und dem Kodifikationsgedanken entsprechende Rechtsquelle, wird über das alte Gewohnheitsrecht gestellt. Im Gesetz findet nunmehr der Wille des absoluten Monarchen als Gesetzgebers seinen normativen Ausdruck. Gewachsene Rechtsvorstellungen des Volkes werden unter die Oberherrschaft des Gesetzes und damit des Monarchen gestellt und bedeuten dadurch keine normative Konkurrenz mehr. – Während es in der griechischen Frühzeit des 7. Jhd v. C. „modern” war, die alte Rechtsquelle des normativen Wissens (~ Gewohnheitsrecht, Sitte, Moral, Religion etc) durch die neue des gesatzten Rechts zu ersetzen (den Thesmos, später Nomos), galt dies politisch für die Zeit um 1800 nicht mehr. Dafür sprachen aber politische und ökonomische Gründe.
Ablehnende Haftung des ABGB
Das (Privat)Recht in den österreichischen Ländern vor der Kodifikation war in verschiedene Landes- und Partikularrechte zersplittert, wozu ein bedeutender Anteil von (ungeschriebenem) Gewohnheitsrecht kam. Erst das ABGB beendet diese Rechtszersplitterung. Von der Kodifikationsidee her ist es also verständlich, dass der Gesetzgeber des ABGB bestrebt war, die Kraft des Gewohnheitsrechts zu brechen. – Das ist ihm aber ebenso wenig (vollständig) gelungen ist, wie später dem öffentlichen Recht.
Rechtszersplitterung
Ein Beispiel für die Lebenskraft des Gewohnheitsrechts lieferte schon das römische Recht, das bis zum „Zwölf-Tafelgesetz” (451/450 v. C.) auf mündlich tradiertem Gewohnheitsrecht beruhte. Erst die – freilich gar nicht vollständige – Kodifikation beendete vorerst die mit dem Gewohnheitsrecht und dessen Auslegung verbundene Rechtsunsicherheit; vgl P.G. Stein, Römisches Recht und Europa 14 (1996). Allein sehr bald entstand das Problem von neuem; vgl F. Pringsheim, Ausbreitung und Einfluss des griechischen Rechts (1952):
Beispiel römisches Recht
„Das wirkliche Rom war einer umfassenden Kodifizierung so abgeneigt, wie es heute England ist. Die tausendjährige Geschichte von den XII Tafeln bis Justinian kennt keine vollständige Rechtssammlung. Griechenland aber legte sein Recht immer gern in die Hand eines persönlichen Gesetzgebers. Von der archaischen Zeit an ist hier das Gesetz die eigentliche Rechtsquelle.”
Literaturquelle
Beachten will das ABGB Gewohnheiten/consuetudo nur dann, wenn ein Gesetz sich auf Gewohnheitsrecht beruft. Das geschieht in der Tat da und dort im ABGB selbst (zB §§ 389, 501, 549 ABGB) und in anderen Gesetzen. Vgl insbesondere Art 4 EVHGB:
Skeptisches ABGB
„In Handelssachen sind die Vorschriften des allgemeinen bürgerlichen Rechts nur insoweit anzuwenden, als nicht die besonders für Handelssachen geltenden Gesetze etwas anderes bestimmen. Unter diesen Gesetzen ist auch das Gewohnheitsrecht zu verstehen.”
Von der hA wird diese enge Fassung des § 10 ABGB aber extensiv oder vielleicht sogar berichtigend interpretiert.
Der für den Rechtsanwender zulässige Rückgriff auf Generalklauseln (→ Gegen die guten Sitten) und unbestimmte Rechtsbegriffe (→ Zur Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen) stellt – unterstützt durch § 7 ABGB (→ § 7 ABGB: Die Lückenschließung) – rechtsquellentheoretisch eine zusätzliche Art Rechtsquelle dar, die keineswegs unbedeutend ist. – Was in einer Rechtsordnung sittenwidrig ist, stellt danach nicht der Gesetzgeber, sondern der Richter fest.
Rückgriff auf Generalklauseln etc
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2. Praktische Bedeutung des Gewohnheitsrechts
Praktische Bedeutung besitzt das Gewohnheitsrecht heute noch vor allem in seiner Ausformung als Richter- oder Judikaturrecht; dazu Gschnitzer im Franz Gschnitzer Lesebuch → § 10 ABGB: Gewohnheiten (Literatur). Dies trotz § 12 ABGB → Zum Rechtsquellencharakter von Urteilen – Richterrecht? – Auch in der EU ist das Richterrecht – geschaffen vom EuGH – wieder von Bedeutung.
Eine Reihe neuer, im Gesetz nicht oder anders geregelter Rechtsinstitute, beruht heute auf Richterrecht. Sie sind bereits gewohnheitsrechtlich verfestigt. Eigenartigerweise werden die damit verbundenen Fragen nicht mit letzter Konsequenz reflektiert. Es hat den Anschein, als wollten Rspr und Schrifttum den eigenen Bewegungsspielraum nicht einschränken. Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit spielen dabei offenbar nur eine untergeordnete Rolle. – Vgl jedoch die beiden Publikationen F. Gschnitzers.
Richterrecht
Beispiel
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3. Zum Streit über das Gewohnheitsrecht
Das österreichische Verfassungsrecht kennt keinen abgeschlossenen Rechtsquellenkatalog; vgl Art 1 B-VG. Auch der des ABGB ist unvollständig. – Bedeutung als (materielle) Rechtsquellen des Privatrechts besitzen heute aber – hier wie dort – vornehmlich:
• das Gesetz(esrecht) und
• das Gewohnheitsrecht.
Vertreter der „Reinen Rechtslehre” (etwa R. Walter, ÖJZ 1963, 225) leugnen die Existenz(berechtigung) des Gewohnheitsrechts und behaupten, das B-VG 1920 habe die Rechtserzeugung abschließend geregelt und dadurch dem § 10 ABGB (soweit er Gewonheitsrecht zulässt) derogiert. – Dem ist nicht beizupflichten und das Rechtsleben spricht eine deutlich andere Sprache. Vielmehr sind Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht als getrennte und (partiell) miteinander konkurrierende Rechtsquellen weiterhin anzuerkennen. Mehr bei Gschnitzer, FGL 657 ff.
Manch künftige Frage, die sich daraus für das Gewohnheitsrecht ergibt, harrt aber noch auf ihre Lösung!
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IV. Zum Rechtsquellencharakter von Urteilen – Richterrecht?
„Die in einzelnen Fällen ergangenen Verfügungen und die von Richterstühlen in besonderen Rechtsstreitigkeiten gefällten Urteile haben nie die Kraft eines Gesetzes, sie können auf andere Fälle oder auf andere Personen nicht ausgedehnt werden”; § 12 ABGB.
1. Gewohnheitsrecht heute
Um aus höchstrichterlichen Entscheidungen Gewohnheitsrecht entstehen zu lassen, bedarf es gar nicht der Annahme einer Derogation des § 12 ABGB. Es bleibt vielmehr dabei, dass der einzelnen gerichtlichen Entscheidung keine Gesetzeskraft zukommt. Die einzelne Entscheidung ist aber Beginn und Voraussetzung des idF entstehenden Gewohnheitsrechts. Es ist dabei durchaus sinnvoll für das Entstehen von Gewohnheitsrecht auch weiterhin:
Kriterien des Gewohnheitsrechts
Langdauernde Übung (longa consuetudo) und
Rechtsüberzeugung / communis opinio necessitatis zu fordern.
Verschoben hat sich bei der Bildung von Gewohnheitsrecht seit geraumer Zeit nur der Kreis der Akteure, der die in Entstehung begriffene Norm mit Rechtsüberzeugung anwendet. Es ist heute idR nicht mehr das Volk, das diese Übung ausführt, sondern stellvertretend für das Volk der Rechtsstab in einem weiten Sinn. Es handelt sich um eine andere Art demokratischer Repräsentation, die hier stattfindet. Der Rechtsstab umfasst – bspw im Privatrecht – nicht nur die ordentliche Gerichtsbarkeit, sondern auch die Praxis (Richter, Rechtsanwälte, Notare etc) und das Schrifttum. Entstandenes Gewohnheitsrecht unterliegt daher ebenso dem Einfluss des Verfassungsrechts wie gesatztes Recht und ihm kann ebenso durch gesatztes wie späteres Gewohnheitsrecht derogiert werden. Der Gerichtsbarkeit käme nicht nur bei der Anwendung, sondern auch bei der inhaltlichen Gestaltung – dem sprachlichen Ausdruck – von Gewohnheitsrecht besondere Bedeutung zu. Sie hätte auch über dessen Einhaltung zu wachen!
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2. Die Meinung Armin Ehrenzweigs
Armin Ehrenzweig vertritt in seinem System des österreichischen allgemeinen Privatrechts I/1 Allgemeiner Teil (19512) eine andere Meinung:
Präjudizien haben nicht die Kraft des Gesetzes. Das würde niemand bezweifeln, auch wenn es nicht im [A]BGB stünde. Die Kraft des Gerichtsgebrauches ist eine andere als die des Gesetzes; sie ist geringer und sie ist größer. Geringer, weil der Gerichtsgebrauch den Richter nicht bindet, und größer, weil die Kraft des Gesetzes selbst, seine Wirksamkeit und seine Bedeutung davon abhängt, ob und wie es angewendet wird: denn nach der behördlichen Praxis, nicht unmittelbar nach dem Gesetze und nicht nach den Meinungen der Schriftsteller richtet die Bevölkerung ihr Verhalten ein.
Dem angehenden Richter ist es vielleicht eine freundliche Vorstellung, dass er an den Gerichtsgebrauch nicht gebunden ist und sich darum die Mühe ersparen kann, frühere Entscheidungen zu studieren. Diese Vorstellung ist irrig. Wenn der einzelne Richter von der bisherigen Übung abgeht, so ist dies ein Unternehmen, das besonderer Rechtfertigung bedarf. Nicht die Unkenntnis der Übung, sondern nur die nach reiflicher Prüfung gewonnene Überzeugung von ihrer Unhaltbarkeit ist eine solche Rechtfertigung. Vergessen wir nie, dass die Änderung der Rechtsprechung (anders als die des Gesetzes) zurückwirkt auf Geschäfte, die im Vertrauen auf die bisherige Übung abgeschlossen worden sind. Vergessen wir aber auch nie, dass der Gerichtsgebrauch nicht erstarren darf, dass er der allmählichen Fortbildung bedarf. Tiefgreifende Änderungen gleichsam mit einem Schlage zu vollziehen, ist die Aufgabe der Gesetzgebung. Die Rechtsprechung verändert das Recht allmählich, in unermüdlicher Kleinarbeit. Sie vermeidet Überraschungen. Was stürzen soll, wird zuerst als zweifelhaft hingestellt. An die Stelle gleichförmiger Entscheidungen treten unsicher schwankende, ausweichende, widersprechende, die den Rechtsverkehr warnen und vorbereiten, bis schließlich nach einer unerfreulichen und doch wohltätigen Übergangsperiode des Tastens und Prüfens immer entschiedener die neue Praxis sich durchringt.
... Diese Aufgabe der Befestigung und der Fortbildung der Praxis ist in erster Linie dem obersten Gerichtshof zugewiesen. Zwar sind die unteren Gerichte an die von ihm angenommenen Rechtssätze nicht gebunden, aber sie können sich, dank dem Rechtsmittelzuge, ihrer Anwendung auf die Dauer nicht entziehen.”


Rechtsquellen des Privatrechts
Abbildung 11.18:
Rechtsquellen des Privatrechts
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3. Das Gewohnheitsrecht in der Rechtsgeschichte
F. Gschnitzer hat in einer Juristentagsrede (ÖJT 1967, II 6. Teil, 24 ff) darauf hingewiesen, dass dem Gewohnheitsrecht in der Rechtsgeschichte gegenüber dem gesatzten Recht der „Vorrang” gebührt.
• Mag auch gerade in Europa durch das frühe und hochentwickelte Rechtsdenken der alten Griechen das Gesetzesrecht (zunächst ab der Mitte des 7. Jahrhunderts v. C. der Thesmos, dann ab dem Ende des 6. Jahrhunderts v. C., der neue Nomos) bereits im 7. Jhd v. C. eine Rolle gespielt haben; das Gewohnheitsrecht wurde dadurch – entgegen anderen Meinungen (insbesondere H. J. Wolff) – keineswegs vollständig verdrängt und spielte in Griechenland bis zuletzt eine nicht unwichtige Rolle. – Bei den Römern war dies noch ausgeprägter, da diese mit der griechischen Idee des Gesetzes nie allzu viel anzufangen vermochten. Sowohl ihre erste und eigentlich ihre einzige Kodifikation – das Zwölf-Tafelgesetz – war griechisch inspiriert, und erst recht das Gesetzgebungswerk Justinians. Das Gewohnheitsrecht dominierte jedenfalls in Rom klar.
Gewohnheitsrecht in der Rechtsgeschichte
• „Daß im deutschen Recht das Gewohnheitsrecht in allen in allen Zeitsbschnitten und Rechtsbereichen praeter wie contra legem eine massgebliche Rolle spielt, muß kaum betont werden. Auch die Rezeption vollzog sich so und er von der Wissenschaft stark beeinflusste usus modernus Pandectarum passte das übernommene Recht den Bedürfnissen an.”
• „Dasselbe gilt für die kirchliche Rechtsgeschichte. So schon Puchta, der Vater des Gewohnheitsrechtes (2. Teil, 1837, S. 264 ff). Nach Scherer (…) kann die Existenz kirchlichen Gewohnheitsrechtes nicht geleugnet werden und gibt es auch eine consuetudo contra legem zwar nicht gegen das göttliche, wohl aber gegen das positive menschliche Recht. Nach Jacobsen (…) hat das Gewohnheitsrecht nach der Lehre der Reformatoren große Bedeutung und geht auch vor Gesetzesrecht.”
• „Ein sehr erheblicher Teil des Völkerrechts besteht aus Gewohnheitsrecht. Längere Zeit dauernde Übung mit Rechtsüberzeugung wird als Voraussetzung anerkannt und ihm auch derogatorische Kraft zugesprochen.” (Verdross …)
• „Das Verfassungsrecht beruht in Ländern, die wie England keine geschriebene Verfassung besitzen, auf Gewohnheitsrecht. Dass auch kodifizierte Verfassungen Platz für Gewohnheitsrecht lassen, beweisen Dänemark und Norwegen. … Im schweizerischen Recht besteht nach Lehre und Rechtsprechung ‚die Eigentumsgewährleistung (als die Garantie eines Grundrechtes!) nicht nur dort wo sie verfassungsrechtlich ausdrücklich anerkannt ist, sondern auch kraft ungeschriebenen Rechtes.’ (Meier-Hayoz …) Für die Lehre vom österr. Verfassungsrecht ist kennzeichnend, dass im HB von Adamovich-Spanner … Ausführungen über das Gewohnheitsrecht fehlen. …”.
• „Das Verwaltungsrecht spiegelt die verschiedenen Anschauungen in ganzer Breite wider. Die ältere österr. Lehre (Herrnritt, …) – in Übereinstimmung mit der älteren deutschen Lehre – zweifelte nicht am Bestand des Gewohnheitsrechts neben dem gesatzten Recht. …Die neue österr. Lehre lehnt dagegen im Hinblick auf Art. 18/I B-VG. Gewohnheitsrecht als ursprüngliche Rechtsquelle ab (Merkel,…; Antoniolli, …; Adamovich, …). Dagegen vertritt die deutsche Verwaltungsrechtslehre überwiegend die gleiche Kraft des Gewohnheitsrechts mit dem gesetzten Recht. Besonders eindrücklich Forsthoff (…) …”
• „Für das Strafrecht spricht eine Minderheit dem Gewohnheitsrecht jede Bedeutung ab; die konträre Ansicht gibt ihm gleichen Rang mit dem Gesetz. So auch Rittler (…). Nach der herrschenden Mittelmeinung kann es zwar strafgesetzliche Tatbestände aufheben, nicht aber angesichts des Satzes nullum crimen sine lege neue strafbare Tatbestände begründen …”
• „Für das österreichische Zivilprozessrecht vertreten sowohl Pollak (…) wie Menger (…) – freilich mit abweichenden Begründungen – ddie Ansicht, dass Gewohnheitsrecht als ebenbürtige Rechtsquelle bestehe.” Sperl und Petschek-Stagel lehnen dies dagegen ab. (alle Fundstellen: Gschnitzer, FGL 650 ff)
• Schließlich bringt Gschnitzer (FGL 660 ff) Nachweise von Gewohnheitsrecht im österreichischen Privatrecht. Er führt an: die Wald- und Wegefreiheit (inclusive Schwämmesuchen und Beerensammeln); das Anerbenrecht sowie neue Rechtsbildungen; vgl dazu aber insbesondere schon seine Ausführungen in FGL 465 ff: „Schafft Gerichtsgebrauch Recht?”
Das oftmals totgesagte Gewohnheitsrecht beweist, wenngleich in sich wandelnder Art und in unterschiedlichen Gebieten der Rechtsordnung, seine Lebenskraft. Es steht zudem mit dem Gesetzesrecht in einem funktionalen Wechselspiel; es bereitet Regeln vor, die von der Rechtsüberzeugung der das Recht handhabenden Kreise geschaffen werden und es mindert seine Bedeutung nicht, dass der Gesetzgeber dieses gewohnheitsrechtlich vorgeformte Richter(gewohnheits)recht idF immer wieder in das gesetzliche Recht aufnimmt. Das Gesetzesrecht kann sich dann bereits auf eine anerkannte Praxis oder ein funktionierendes Rechtsinstitut stützen, dessen legistische Inkorporation kein Risiko mehr darstellt. So unlängst geschehen im Rahmen der deutschen Schuldrechtsreform 2002, die bspw – die gewohnheitsrechtlich aufbereiteten und seit mehr als 100 Jahren angewandten Rechtsinstitute – der Störung / des Wegfalls der Geschäftsgrundlage und der cic ins dtBGB aufgenommen hat. – Dieses Wechselspiel zwischen dem nicht hoch genug einzuschätzenden Gesetzesrecht und dem nahe an den Erfordernissen und Entwicklungen einer sich stets wandelnden Rechtspraxis angesiedelten Richter(gewohnheits)rechts, sollte gefördert und keinesfalls zerstört werden. Auch für die am Entstehen von Gewohnheitsrecht beteiligten Personenkreise macht eine solche Aufgabenteilung die Arbeit interessanter, was ebenfalls Bedeutung besitzt. – Mit Gschnitzers Schlusssatz in seiner Juristentagsrede 1967 (FGL 669) will auch ich schließen, zumal diese Aussage wohl auch noch für unsere Zukunft wichtig ist:
Was können wir daraus lernen?
„Es gibt noch Gewohnheitsrecht auf allen Rechtsgebieten und es wird, ja es muß [wohl], immer Gewohnheitsrecht geben.”
Das Leugnen der Existenz von Gewohnheitsrecht ist – neben der Auseinandersetzung um das Naturrecht – nach wie vor eine der theoretischen Kampflinien des Rechtspositivismus.
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E. Gesetz- und Sittenwidrigkeit
I. Der „Geist” der Rechtsordnung
Der Gesetzgeber stellt in § 879 Abs 1 ABGB zweierlei klar:
• Zunächst, dass Verträge, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen, nichtig sind; und
• zweitens, dass darüber hinaus auch Verträge, die gegen die guten Sitten verstoßen, nichtig sind.
Diesen Fragen wird in der Folge nachgegangen.
1. Verstöße gegen den „Geist” der Rechtsordnung
Gesetze sind einzuhalten. Ja sie sollten geachtet werden! Ist das Gesetz doch der normativ geronnene demokratische Wille des Volkes, der zum Ausdruck gelangt. – Jeder, der Recht und Gesetz bricht, sollte sich des Zusammenhangs bewusst sein, dass er dadurch eigentlich sich selbst schädigt. – Jeder Gesetzgeber steht daher vor der Frage, wie er seine Anordnungen befolgt wissen will. Worin sollen die Konsequenzen (Rechtsfolgen) bestehen, wenn jemand Gesetze nicht achtet oder sonst gravierend gegen grundlegende allgemeine rechtliche Wertvorstellungen (die guten Sitten) – kurz: gegen den „Geist” der Rechtsordnung – verstößt? Der Rückgriff auf die guten Sitten ist nötig, weil kein Gesetzgeber alles regeln kann und dies wohl auch nicht will.
Hier zu erwähnen ist auch die stets aktuelle Gesetzesumgehung → Die (Gesetzes)Umgehung Das römische Recht sprach von in fraudem legis agere, und verstand darunter – griechisch inspiriert – zwar keinen Verstoß gegen den Wortlaut – die „verba”, wohl aber gegen die „voluntas / sententia legis”, also den Geist und wahren Sinn eines Gesetzes (ratio legis) oder überhaupt des Rechts.
verba <-> voluntas
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2. Die Gute Sitten-Klausel
Der Gesetzgeber kann und will nicht alles durch Gesetze regeln, ge- oder verbieten. Die Gute Sitten-Klausel ist sein flexibles legistisches Instrument, das er in die Hand des Richters legt. Sie stammt – wie vieles – aus dem ALR (I 4 §§ 6 und 7 sowie I 16 §§ 205 f), das dafür allerdings noch den Begriff der „Ehrbarkeit” verwendet. Den modernen Begriff prägt dann der frCC: Art 6 und 1133.
Flexibles legistisches Instrument
Vgl auch schon § 26 Satz 4 ABGB von 1811, wo – gemeinsam mit den §§ 878, 879 ABGB aF – das spätere Programm des § 879 Abs 1 ABGB vorweggenommen wurde. Vgl in der Folge auch § 138 Abs 1 dtBGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig”; Abs 2 regelt den Wucher. – Die Schweiz kennt die Sittenwidrigkeit in den Art 19 Abs 2, 20 Abs 1 und 41 Abs 2 OR. Das OR hat neben den Guten Sitten auch den Begriff der öffentlichen Ordnung (ordre public) aufrecht erhalten (Art 19 Abs 2 OR); vgl aber schon § 26 Satz 4 ABGB und idF § 1295 Abs 2 ABGB, § 27 Abs 1 Z 5 MRG, § 6 Abs 1 KSchG und nunmehr § 6 IPRG.
Der Gesetzgeber bedient sich dieses Instruments, um Verstöße gegen grundlegende rechtliche Wertvorstellungen, die aber gesetzlich nicht explizit verboten sind, ahnden zu können. Der Richter hat im Einzelfall zu entscheiden, ob etwas – zB ein bestimmtes Verhalten oder Unterlassen oder eine Vertragsklausel – sittenwidrig und damit nichtig ist oder nicht.
Verstöße gegen grundlegende rechtliche Wertvorstellungen
Die als Generalklausel konzipierte Gute-Sitten-Klausel (Näheres → Zur Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen) hilft dem Rechtsanwender somit, den „Geist” des Gesetzes, ja der Rechtsordnung auch zu wahren, wenn keine gesetzliche Anspruchsgrundlage zur Verfügung steht. Sie gewährt demnach eine allgemeine gesetzliche – nicht näher spezifizierte – Anspruchsgrundlage zur Verteidigung der Grundwerte der (Privat)Rechtsordnung. – Der Richter trägt dabei hohe Verantwortung.
Generalklausel
Es war K. A. v. Martini, der erstmals in der Neuzeit der Richterschaft jenes Vertrauen seitens des Gesetzgebers im Rahmen der Rechtsanwendung entgegenbrachte, das bis dorthin auch die Aufklärung des 18. Jhd nicht zustandegebracht hatte. Es hat sich gelohnt, dass er die damit verbundenen Anfeindungen ertragen und seine wohlüberlegten Vorschläge nicht zurückgenommen hat. In der richterlichen Kompetenz der Lückenfüllung (im Einzelfall) durch den späteren § 7 ABGB sowie Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe war eine Konkurrenz der alleinigen Gesetzgebungsbefugnis des Landesfürsten erblickt worden. – Enttäuscht wurde dieses Vertrauen des Gesetzgebers in die Richterschaft im Laufe der Geschichte nur selten, gravierend aber in der Zeit des Nationalsozialismus.
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3. Rechtsquelle – „Gute Sitten”
Die Hereinnahme des § 879 ABGB in dieses Kapitel erfolgte nicht zufällig: Denn das Feststellen einer Gesetz- und erst recht das von Sittenwidrigkeit verlangt interpretatives Geschick; darüber hinaus wird durch die Bezugnahme unserer Bestimmung auf die Generalklausel der „Guten Sitten” eine Rechts- und Beurteilungsquelle von beachtlicher gesellschaftlicher Relevanz geschaffen, die das Privatrecht in die Lage versetzt, rasch und flexibel auf gesellschaftliche Ereignisse und Änderungen – auch ohne Hilfestellung durch den Gesetzgeber – zu reagieren und – wenigstens – im Einzelfall eine vorläufige richterliche Entscheidung eines gesetzlich nicht geregelten Sachverhalts vorzunehmen. Mit dieser Bestimmung setzte der Gesetzgeber in die Richterschaft enormes Vertrauen, das aber zum Wohle des Ganzen nötig erscheint. Manchmal würde man sich mehr und ein rascheres Einfühlungsvermögen in den gesellschaftlichen Wandel und die Beurteilung neuer Sachverhalte wünschen. So hat es in Österreich – im Vergleich zu Deutschland – bspw sehr lange gedauert, bis bestimmte Bürgschaftsübernahmen als sittenwidrig erkannt wurden → Weitere Beispiele zur allgemeinen Sittenwidrigkeit Und manche Entscheidung grenzt an die vom ABGB wie dem Code Civil zutiefst abgelehnte Rechtsverweigerung; vgl die E des OGH (5.2.1996, 6 Ob 2325/96x, ÖWR 1998, E 19 = wobl 1997/39: Stabentheiner), mit der er es ablehnte, das auch für Lebensgefährten/innen statuierte Eintrittsrecht (§ 14 MRG → KAPITEL 6: Anwendungsbereich des MRG) auf gleichgeschlechtliche Lebensgefährten/innen zu erstrecken. Mut und gesamtgesellschaftliche Optik tut dem Richterstand aber immer gut. – Zuletzt soll noch auf die innere Verwandtschaft des § 879 mit § 7 ABGB hingewiesen werden, diese großartige Schöpfung Martinis, deren Funktion § 879 ABGB fortsetzt.
Rechts- und Beurteilungsquelle von gesellschaftlicher Relevanz
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II. Unerlaubtheit allgemein
1. „Nichtig” iSd § 879 Abs 1 ABGB
§ 879 ABGB regelt also zweierlei:
• Verstöße gegen ein (ausdrückliches) gesetzliches Verbot und
• Verstöße gegen die guten Sitten, die demnach – obwohl nicht normiert – ebenfalls Teil der Rechtsordnung sind. Verstöße gegen die guten Sitten sind daher rechtswidrig. – Freilich handelt es sich dabei nicht um explizit ausformuliertes Recht; es muss vielmehr erst durch den Richter – im Einzelfall – gewonnen und festgestellt, also konkretisiert werden.
§ 879 Abs 1 ABGB enthält die wichtigste Generalklausel des österreichischen Privatrechts. Die Abs 2 und 3 geben Beispiele dafür, was dem Gesetzgeber in Abs 1 als gesetz- und sittenwidrig vorgeschwebt ist. Dadurch wird die „abstrakt” gehaltene Generalklausel konkreter, anschaulicher, mithin für den Rechtsanwender und Rechtsadressaten fasslicher.
Wichtigste Generalklausel des österreichischen Privatrechts
Es war Martinis Verdienst, als erster die legistische Bedeutung einer Abkehr von sog Kasuistik erkannt und an deren Stelle bewusst (!) allgemeine und unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln, überhaupt Generalisierung sowie den Mut zur Lücke gesetzt zu haben. – Dies in Abkehr vom preußischen Landrecht (ALR) und noch vor dem frCC. Bedauerlicher Weise wurde diese großartige Leistung der abendländischen Rechtsgeschichte der Neuzeit von der Rechtsgeschichte kaum zur Kenntnis genommen. – Zu Martinis legistischen Maximen und seiner Konzeption eines Volksgesetzbuchs: Barta, in: Barta / Palme / Ingenhaeff (Hg), Naturrecht und Privatrechtskodifikation 26 ff und 38 ff (1999) und nunmehr auch in: Barta / Pallaver / Rossi / Zucchini (Hg), Storia, Istitutioni e diritto in Carlo Antonio de Martini (1726-1800) 87 ff (2002).
Abkehr von sog Kasuistik
Rechtssprechungsbeispiel
Wie ernst die Judikatur Verstöße gegen die guten Sitten nimmt, zeigt die E des OGH, JBl 1987, 334. Danach braucht eine am Vertragsabschluss selbst beteiligte Partei den Vertrag nicht zuzuhalten, wenn der Vertragsinhaltsittenwidrig war; mag die Partei dies auch gewusst haben. – Im konkreten Fall ging es darum, dass die Darstellerin eines Pornofilms nach ihrer Eheschließung die Fertigstellung des Films (Nachdreharbeiten) ablehnte, weil ihr Mann dies nicht wollte. – Aus der E-Begründung des OGH: „Ein Arbeitsvertrag, in dem sich der Arbeitnehmer zur Darbietung geschlechtlicher Betätigung in einem ,scharfen’ Sexfilm verpflichtet, ist nichtig ... Auch ein Vertragspartner, der selbst gegen die guten Sitten verstoßen hat, kann sich auf die Nichtigkeit des Vertrages berufen. Der Einwand, er handle damit gegen Treu und Glauben, kommt dagegen nicht in Betracht.” – Der OGH bewertet die Vertragstreue in diesem Fall zu Recht geringer, als den Wunsch der Frau und ihres Mannes aus diesem Vertrag auszusteigen.
Beispiel
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2. Die Beispiele des § 879 Abs 2 ABGB
Der Gesetzgeber gibt in § 879 Abs 2 ABGBBeispiele dafür, welche Verträge er – auf jeden Fall – als „nichtig”, dh als absolut ungültig, ansieht.
Es sind dies:
• EhevertragZ 1: „wenn etwas für die Unterhandlung eines Ehevertrages bedungen wird”;
• Z 1a: „wenn etwas für die Vermittlung einer medizinisch unterstützten Fortpflanzung bedungen wird” (seit BGBl 1992/275: FMedG);
Fortpflanzungsmedizin
Literaturquelle
Beispiel
• Z 2: „wenn ein Rechtsfreund eine ihm anvertraute Streitsache ganz oder teilweise an sich löst oder sich einen bestimmten Teil des Betrages versprechen lässt, der der Partei zuerkannt wird” (sog quota litis);
quota litis
Rechtssprechungsbeispiel
OGH 19. 9. 2000, 10 Ob 91/00f, SZ 73/144 = JBl 2001, 229 = EvBl 2001/27: Die Abtretung der Honorarforderung eines Rechtsanwalts an einen anderen ist zwar nicht vom Verbot des Ansichlösens der Streitsache (§ 879 Abs 2 Z 2 ABGB) erfasst; weil aber mit der Abtretung auch die Übergabe der Unterlagen, welche die abgetretene Forderung begründen, verbunden ist, liegt jedoch nach § 879 Abs 1 ABGB iVm § 9 Abs 2 RAO (Verschwiegenheitspflicht) absolute Nichtigkeit vor.
• Z 3: „wenn eine Erbschaft oder ein Vermächtnis, die man von einer dritten Person erhofft, noch bei Lebzeiten derselben veräußert wird;”
Lebzeitige Veräußerung einer Erbschaft
• Z 4: Wucher”wenn jemand den Leichtsinn, die Zwangslage, Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung eines anderen dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem Dritten für eine Leistung eine Gegenleistung versprechen oder gewähren lässt, deren Vermögenswert zu dem Werte der [eigenen] Leistung in auffallendem Missverhältnis steht.” – Zu den Voraussetzungen des Wuchers vgl die folgenden Beispiele.
Wucher
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 24/306 (1951): Die Bestimmungen über den Wucher gelten auch für Handelsgeschäfte, Gesellschafts- und Glücksverträge.
Wucher setzt nach der Rspr SZ 27/19 (1954) voraus:
Kriterien des Wuchers
a) ein auffallendes objektives Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung zur Zeit des Vertragsschlusses;
b) bestimmte Eigenschaften des Bewucherten, die die Wahrnehmung seiner Interessen hindern (SZ 43/194 (1970): „Verstandesschwäche” minderen Grades genügt; JBl 1931, 242: Wer sich auf „Gemütsaufregungen” beruft, muss beweisen, dass diese dem Gegenteil wenigstens bekannt sein musste);
c) (subjektive) Eigenschaften des Wucherers, nämlich Ausbeutungsabsicht.
MietSlg 38.073 (1986)Wer den Tatbestand des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB behauptet, hat konkret dazutun (Beweislast), worin die einzelnen gesetzlichen Tatbestandmerkmale zu erblicken sind und durch welche Beweismittel dies bewiesen werden kann.
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III. „Gesetzliches Verbot”
1. Zu weite Formulierung des § 879 Abs 1 ABGB
• Der Wortlaut des § 879 Abs 1 ABGB sanktioniert – in der Fassung der III. TN – scheinbar jedes Rechtsgeschäft, das gegen ein „gesetzliches Verbot” verstößt, mit Nichtigkeit. Das wäre aber zuviel des Guten. Die hM interpretiert (genauer: reduziert teleologisch! → Die teleologische Reduktion) daher die Generalklausel einschränkend – in Anlehnung an § 134 dtBGB –und nimmt Nichtigkeit nur:
• bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung, aber auch dann an,
• wenn der Gesetzeszweck (die sog ratio legis) dies erfordert.
Nicht jeder Gesetzesverstoß führt demnach automatisch zur Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts; daher zB keine Nichtigkeit eines Kaufvertrags außerhalb der Ladenschlusszeit, aber Nichtigkeit eines Umgehungsgeschäfts im Ausländergrundverkehr.
Beispiel
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2. Die Rechtsfolgen unerlaubter Geschäfte
Die gesetzlichen Rechtsfolgen für unerlaubte Geschäfte sind unterschiedlich festgesetzt, die Sanktionen variieren:
Nichtigkeit des ganzen Geschäfts oder nur
Teilnichtigkeit (zB einer Klausel); oder
Gültigkeit + Verwaltungsstrafe (zB bei Missachtung der Errichtung eines Ratenbriefs → KAPITEL 2: Das Abzahlungsgeschäft) nach § 24 Abs 3 iVm § 32 KSchG.


Verstoß gegen § 879 ABGB: Rechtsfolgen
Abbildung 11.19:
Verstoß gegen § 879 ABGB: Rechtsfolgen
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IV. Die (Gesetzes)Umgehung
Literaturquelle
1. Was ist eine Umgehung?
Die Umgehung, das in fraudem legis agere des römischen Rechts, versucht ein rechtlich unerlaubtes / unmögliches Ziel auf einem scheinbar gangbaren Weg zu erreichen. Dabei wird der „Wortlaut” des Gesetzes zwar vielleicht formal erfüllt, ohne aber seinem Sinn und Zweck gerecht zu werden. Bei der Umgehung ist also nicht nur ein bestimmter Weg zum Ziel (wie beim Umweggeschäft → KAPITEL 5: Umweggeschäfte), sondern das Ziel selbst verboten / unerlaubt.
Beachte: Jede „Umgehung” ist nichtig!
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2. Beispiele
Rechtssprechungsbeispiel
JBl 1989, 780: Wird beim Ankauf einer Liegenschaft der Vertrag vom Käufer nur als Treuhänder abgeschlossen, um die grundverkehrsbehördliche Genehmigung des Eigentumserwerbs durch den Treugeber zu umgehen, so liegt ein [unerlaubtes] Umgehungsgeschäft und kein bloßes Scheingeschäft iSd § 916 ABGB vor.
NKZ 20.11.1993, S. 13: „Grundverkehrsgesetz bewährt sich – 99 Jahre Miete war Wohnungserwerb! Mit einem für 99 Jahre geltenden, unkündbaren Mietvertrag tarnte ein Deutscher in Kitzbühel ein Umgehungsgeschäft. Das Land Tirol hatte jedoch Feststellungsklage eingereicht. Erstmals entschied kürzlich das Landesgericht Innsbruck, dass in so einem Fall kein Mietverhältnis eingegangen, sondern Wohnungseigentum erworben wurde. Damit hat das neue Tiroler Grundverkehrsgesetz seine Feuertaufe bestanden.” Eine typische aus zahlreichen Umgehungsvarianten, um den Ausländergrundverkehr”auszuhebeln” war – inländischer Treuhänder (zB eine „Wohnungseigentumsgesellschaft”als Strohmann) wird / bleibt formeller Eigentümer, die materiellen Käufer werden bloß Mieter, Pächter oder Kommanditisten der Wohnbaugesellschaft. Tiroler Wohnbauvereinigungen schlossen bekanntermaßen, gebilligt von „allerhöchster Politik” (TT) zur Umgehung des Tiroler Grundverkehrsgesetzes tausende 100jährige Mietverträge ab. Tiroler Rechtsanwälte verhöhnen die Rechtsordnung durch den Abschluss von (Umgehungs)Bestandverträgen auf 500 (!) Jahre!
Beispiel
Beachte
Rechtssprechungsbeispiel
Mietzinsvorauszahlung als verbotene Ablöse [§ 27 Abs 1 Z 1 MRG] .... Der Mieter einer Wohnung in Wien hatte dem Vermieter beim Vertragsschluss eine Mietzinsvorauszahlung von 25.800 S übergeben, was genau 6 Monatsmieten zu 4.300 S entsprach. Tatsächlich sollte das Geld an die Stelle von 6 monatlichen Zinszahlungen treten, aber nicht etwa zu Beginn des unbefristeten Vertrages, sondern vor dessen Ende: Während der vereinbarten 6-monatigen Kündigungsfrist würde der Mieter keinen Zins mehr zahlen müssen, so die damalige Abmachung. Die ließ der OGH jedoch nicht gelten. „Eine Einmalzahlung ist ... dann ausnahmsweise keine verbotene Ablöse, wenn es sich um eine echte Mietzinsvorauszahlung handelt„ .... Eine solche Vorauszahlung „muss von den Vertragsparteien von vornherein bestimmten Zeiten zugeordnet werden .... Hiebei muss der Zeitraum, für den die Mietzinsvorauszahlung geleistet wird, von vornherein datumsmäßig bestimmt oder zumindest bestimmbar sein.” Die Klausel, nach der die Vorauszahlung in den letzten 6 Monate des Mietverhältnisses zu verrechnen sei, „würde es ermöglichen, den Verrechungszeitraum uU in eine unabsehbare zeitliche Ferne zu verlegen und solcherart das Ablöseverbot zu umgehen„ .... Der Mieter darf nun seine Vorauszahlung zurückverlangen ....” (Die Presse, 17.6.1995, S. 26)
Oder: Ketten(arbeits)verträge, um Arbeitnehmer um ihre Rechte zu bringen: etwa Kündigungsfristen, Urlaub oder Abfertigung. – Kettenverträge werden von der Rspr als Arbeitsverträge auf unbestimmte Zeit behandelt, wenn nicht besondere wirtschaftliche oder soziale Gründe den Abschluss wiederholter (meist zeitlich unmittelbar hintereinander liegender), auf bestimmte Zeit abgeschlossener Verträge als sozial gerechtfertigt erscheinen lassen; vgl zB SZ 26/233 = ArbSlg 5823 (1953) oder ArbSlg 10.149 (1982): Rechtfertigende besondere Umstände sind in jedem Einzelfall zu prüfen.
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V. Gegen die guten Sitten
Literaturquelle
1. Sittenwidrigkeit: Unterfall der Rechtswidrigkeit
Die Sittenwidrigkeit ist ein „Unterfall” der Rechtswidrigkeitund dient der Rechtsordnung als Korrektiv, wenn gegen ihre Grundsätze, ihren „Geist” verstoßen wird. Die gute Sittenklausel des § 879 Abs 1 ABGB ist ein Instrument gerade für jene Fälle, die gesetzlich nicht (ausdrücklich) geregelt sind. Sie dient somit als (richterliches) Instrument der Lückenschließung (→ § 7 ABGB: Die Lückenschließung) und gibt dem Richter die Möglichkeit, im Einzelfall ein Verhalten oder Unterlassen als mit der Rechtsordnung unvereinbar zu erklären, obwohl dieses Verhalten gesetzlich oder vertraglich nicht ausdrücklich verboten ist.
Was bedeutet der Begriff „Generalklausel”?
Generalklausel
Generalklausel ist eine Bezeichnung für eine gesetzliche Formulierung, welche den Tatbestand / die Tatbestandsvoraussetzungen einer Norm – verglichen mit andern, „normalen” Normen – bewusst weiter und allgemeiner fasst, um eine möglichst effektive und flexible Anwendung in der Rechtspraxis zu gewährleisten. Hier wird dies durch die Formulierung erreicht:
„Ein Vertrag, der … gegen die guten Sitten verstößt …”.
Der Gesetzgeber will damit Rechtsanwender in die Lage versetzen, unerwünschte rechtliche Ergebnisse / Entwicklungen schon im Einzelfall korrigieren zu können, ohne selbst eingreifen zu müssen. Der Gesetzgeber delegiert mit einer Generalklausel einen Teil seiner Rechtssetzungsmacht an den Rechtsanwender, der im Einzelfall unter Zugrundelegung der in der Generalklausel allgemein umschriebenen Wertungen festzustellen hat, ob ein von einer Partei gewünschtes oder erzieltes rechtliches Ergebnis, den von der Rechtsordnung statuierten Grundwertungen entspricht oder nicht. Vgl auch → Zur Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen
Korrektur unerwünschter Ergebnisse
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2. Andere berühmte Generalklauseln
Literaturquelle
• § 1 UWG
„Wer im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung und Schadenersatz in Anspruch genommen werden.”
• § 30 Abs 1 MRG
„Der Vermieter kann nur aus wichtigen Gründen den Mietvertrag kündigen.”
• § 16 ABGB: Generalklausel für Persönlichkeitsrechte.
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3. Weitere Rspr-Beispiele zur Frage der Sittenwidrigkeit:
Rechtssprechungsbeispiel
EvBl 1976/9: Ein Arbeitnehmer beabsichtigte seinen Arbeitsplatz zu wechseln, wurde aber durch Zusagen seines Chefs (zB auf höheres Gehalt etc) zum Bleiben bewogen und sagte dem „neuen Arbeitgeber” ab. In der Folge machte sein Arbeitgeber die gemachten Zusagen davon abhängig, dass sein Arbeitnehmer eine Konkurrenzklausel (§ 36 AngG) unterschreibt, über die ursprünglich nicht gesprochen worden war. – OGH: Da sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts aber nicht nur aus seinem Inhalt, sondern auch aus dem Gesamtcharakter der Vereinbarung – iS einer zusammenfassenden Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck – ergeben kann, kommt es bei der Beurteilung nach § 879 Abs 1 ABGB inbesondere auch auf alle jene Umstände an, unter denen das Rechtsgeschäft abgeschlossen wurde. – Die (nachträglich geforderte) Konkurrenzklausel wurde in concreto – weil sittenwidrig – als nichtig angesehen.
ÖBl 1988, 38: § 1 UWG wird angewandt, um das Schmieren von Reiseleitern und Busfahrern, damit sie die Gäste zu einem bestimmten Restaurant bringen, als sittenwidrig und damit unerlaubt zu qualifizieren. § 1013 ABGB (Geschenkannahmeverbot) enthält ein Schmiergeldverbot.
EvBl 1998/187: § 1 UWG – Zur Sittenwidrigkeit gefühlsbetonter Werbung (Opferlicht): Sittenwidrigkeit wurde hier verneint; vgl auch → KAPITEL 4: Grundrechte und Privatrecht.
JBl 1987, 36 = SZ 59/130 – Lokalverbot eines niederösterreichischen Multifunktionärs: Ein Lokalverbot ist sittenwidrig und der Gastwirt daher zu Aufnahme und Bewirtung verpflichtet, wenn der abgewiesene Gast aus beruflichen und gesellschaftlichen Gründen (zB als Bauernbundfunktionär, Feuerwehrobmann, Pfarrkirchenratsmitglied usw) zum Besuch dieses Gasthauses als dem praktisch einzigen der näheren Umgebung ohne Ausweichmöglichkeit genötigt ist und die Zurückweisung als soziale Diskriminierung empfunden wird. Eine persönliche Konfrontation zwischen Wirt und Gast rechtfertigt die Zurückweisung nicht, wenn der Gast sich dabei anständig benommen hat. – Zu beachten war hier neben der Sittenwidrigkeit und § 16 ABGB (Persönlichkeitsrechtsverletzung) auch der Missbrauch der wirtschaftlichen Monopolstellung; einziges Gasthaus im Ort!
Zur Sittenwidrigkeit sog Abfindungserklärungen oder von Abfindungsvergleichen → KAPITEL 7: Der Vergleich: §§ 1380-1390 ABGB.
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 69/176 (1996): Sponsorvertrag für das Auftreten der drei Tenöre (Carreras, Domingo und Pavarotti) im Wiener Praterstadion – Macht ein Zeitungsunternehmen die Veröffentlichung eines Inserats für die von einem Konkurrenzunternehmen gesponserte Veranstaltung davon abhängig, dass das Logo dieses Mitbewerbers aus dem Inserat entfernt wird, so widerspricht diese Verhaltensweise nicht den guten Sitten iSd § 1 UWG. Vgl auch → KAPITEL 5: Allgemeines zur Vertragsfreiheit: Vertragsfreiheit.
OGH 24.2.1999, 9 Ob A 34/99m: Bestellung eines gewerberechtlichen Scheingeschäftsführers ist sittenwidrig (Konzessionsüberlassung); absolute Nichtigkeit.
OGH 24. 11. 1999, 3 Ob 229/98t, JBl 2000, 513: Der Unterhaltsanspruch zwischen geschiedenen Ehegatten ist nicht zur Gänze Dispositivrecht; daher Sittenwidrigkeit des Beharrens auf einem Unterhaltsverzicht auch für den Fall der Not, wenn bei streitiger Scheidung ein Unterhaltsanspruch bestünde.
OGH 13. 2. 2001, 4 Ob 324/00a, EvBl 2001/137: Didaktisch interessante und übersichtlich gegliederte Ausführungen zur Frage der Sittenwidrigkeit eines Bestandvertrags. – OGH lehnt Sittenwidrigkeit wohl zurecht ab, mag der Vermieter auch 40 Jahre Kündigungsverzicht, einen Verzicht auf Irrtumsanfechtung und eine Ersatzpflicht für Zubauten ausverhandelt haben.
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4. Gute Sitten <-> Moral
Die guten Sitten sind nicht mit der allgemeinen Moral gleichzusetzen. Die Moral besteht aus Zweckmäßigkeitsregeln einer Gesellschaft, um ihren Bestand zu sichern. Die guten Sitten als (gesetzliche) Vorschrift des geltenden (Privat)Rechts verlangen grundsätzlich mehr und gehen über die Moral hinaus. Sie sanktionieren Verstöße gegen wichtige (wenn auch nicht ausformulierte) Grundsätze des Gesetzgebers.
Zutreffend erscheint es, weder das Recht (samt seinen guten Sitten) mit der Moral gleichzusetzen, noch die beiden Begriffe völlig zu trennen. Ein Recht ohne Moral erscheint ebenso undenkbar, wie ein völliges Identifizieren von Moral und Recht / guten Sitten. – Die Praxis des OGH scheint der hier angebrachten Synthese nahe; EvBl 1980/117.
Recht ohne Moral?
Das Recht ist also nicht gleichzusetzen mit der (Gesellschafts)Moral, aber wesentliche Teile des Rechts entsprechen der allgemeinen Moral einer Gesellschaft. Und die Gesellschaftsmoral ist wiederum ein ganz wesentlicher Teil jenes gesellschaftlichen Wertkonglomerats, aus dem die rechtlich so bedeutsamen guten Sitten geschöpft werden, zumal diese gerade dort rechtlich „greifen” sollen, wo der Gesetzgeber keine oder doch keine ausdrückliche Anordnung getroffen hat. Das zeigt: Recht, gute Sitten und (Gesellschafts) Moral stehen in Wechselwirkung, ohne miteinander identisch zu sein. Es gibt zwischen ihnen Überschneidungs-, aber auch Differenzbereiche. Das zeigt sich auch darin, dass Rechts-, Sittenwidrigkeits- und Moralurteile häufig übereinstimmen.
Wechselwirkung
Rechtssprechungsbeispiel
EvBl 1980/117 (Personalbereitstellungsunternehmen behält sich Recht vor, einseitig das Arbeitsentgelt von Arbeitnehmern zu bestimmen): „Ein Vertrag widerstreitet dann den guten Sitten iSd § 879 ABGB, wenn er dem Rechtsgefühl der Rechtsgemeinschaft – das ist die Gemeinschaft aller billig und gerecht Denkenden – widerspricht und somit grob rechtswidrig ist. Sittenwidrigkeit ist inbesondere dann anzunehmen, wenn die vom Richter vorzunehmende Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen oder bei Interessenkollisionen ein grobes Missverhältnis zwischen den durch die Handlung verletzten und den durch sie geförderten Interessen ergibt .... Unter den guten Sitten ist der Inbegriff jener Rechtsnormen zu verstehen, die im Gesetz nicht ausdrücklich ausgesprochen sind, die sich aber aus der richtigen Betrachtung der rechtlichen Interessen ergeben. Die guten Sitten werden mit dem ungeschriebenen Recht gleichgesetzt, zu welchem neben den allgemeinen Rechtsgrundsätzen auch die allgemein anerkannten Normen der Moral gehören.”
Dieses billigenswerte Verständnis der „guten Sitten” entspricht in etwa dem ungeschriebenen Recht der griechischen Frühzeit, das ebenso aus verschiedenen Wertfacetten der Gesellschaft / Polis bestand wie (Gewohnheits)Recht, Kultur, Religion, Moral, Brauch, Sitte und altes Herkommen. Max Weber bezeichnete diese normative gesellschaftliche Wertsynthese als nomologisches Wissen. Im alten Griechenland spielte es bis zum letzten Viertel des 7. Jhd v. C. eine dominierende Rolle und verlor auch nach der drakontischen (624/3 v. C.) und solonischen Gesetzgebung (594/3 v. C.) keineswegs seine Bedeutung. Noch im 5. Jhd. v. C. wurde – ausgelöst von den Sophisten – um die Beziehung und Gestaltung von Nomos und Physis gerungen.
Moral als Wertsynthese?
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5. Treu und Glauben
Ähnlich den guten Sitten wirkt der – aus dem dtBGB stammende, von Gschnitzer als „Zwillingsschwester” der „Gute Sitten-Klausel” bezeichnete – Rspr-Grundsatz von „Treu und Glauben”.
Vgl § 242 dtBGB: „Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern”; Leistung nach Treu und Glauben. – Oder § 157 dtBGB: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern”; Auslegung von Verträgen nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte.
§ 242 dtBGB
Während das ABGB von 1811 keine Regelung des Treu und Glauben-Grundsatzes kennt, war dies in den Vorstufen unserer (Privatrechts)Kodifikation noch anders. Der Codex Theresianus III 2 Num 171 etwa formulierte:
ABGB von 1811 – CodTher
„Bei allen Verträgen muss vornehmlich auf Treu und guten Glauben gesehen, ... werden.”
Der Treu und Glauben-Grundsatz gilt vor allem für das Schuldrecht und betrifft Fragen der korrekten Erfüllung der geschuldeten Leistung, untersagt aber über das Schuldrecht hinaus generell missbräuchliche Rechtsausübung → Rechtsmissbrauch und Schikane Dieser Grundsatz gilt in „konkreten Rechtsbeziehungen”; Gschnitzer, SchRAT2 50.
Bedeutung im Schuldrecht
Rechtshistorisch ist er ein Nachfahre der römischrechtlichen exceptio doli (Einrede der Arglist), die im modernen Recht nicht mehr einredeweise geltend gemacht werden muss, sondern eine inhaltliche Anspruchsschranke darstellt, die von Amts wegen wahrzunehmen ist. Die Römer haben den Begriff von den Griechen übernommen, wo er bspw in der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles vorkommt. – Der Grundsatz von Treu und Glauben reicht demnach über die Sittenwidrigkeit und das Schikaneverbot (→ Rechtsmissbrauch und Schikane) hinaus, ergänzt aber diese Rechtsbehelfe.
Eine Umschreibung des Grundsatzes findet sich in SZ 51/103 (1978):
„Der rechtsgeschäftliche Verkehr darf nicht dazu missbraucht werden, einen anderen hineinzulegen, sondern soll sich ehrlich abspielen. Auch die Erfüllung von Verträgen [und nicht nur ihr Abschluss!] hat nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu geschehen. Der Zweck des Vertrages hat über seinen Wortlaut zu triumphieren.”
Unser Grundsatz schützt beide Vertragsteile, also Schuldner und Gläubiger, statuiert aber für beide Seiten unterschiedliche Pflichten; so führt unsere Regel, die partiell auch gesetzlich gewisse inhaltliche Ausformungen erfahren hat, bspw dazu, dass sich der Gläubiger nicht auf eine „unerhebliche Minderung des Wertes” iSd § 932 Abs 2 ABGB (Gewährleistung) oder offenkundige Mängel (§ 928 ABGB) berufen kann; für den Schuldner kann sich aus ihrer Anwendung eine Einschränkung (zB Unzumutbarkeit oder Unerschwinglichkeit der Leistung mit Übergängen zur Unmöglichkeit) oder allenfalls auch eine Erweiterung seiner Leistungspflicht/en (selbständige und unselbständige Nebenleistungspflichten wie Verwahrung, Unterlassung oder Aufklärung) ergeben.
Grundsatz schützt beide Vertragsteile
Diese Einsichten stammen wiederum aus dem alten Griechenland und wurden bereits von Demosthenes und Aristoteles etc formuliert.
So trifft nach Treu und Glauben den Händler gegenüber seinen Kunden die Pflicht zur Kontrolle der gehandelten Ware und zur notwendigen Aufklärung nach dem Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB; der Händler kann sich dabei aber – nach der Rspr – idR auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der vom Produzenten gegebenen Hinweise und Gebrauchsanweisungen verlassen; vgl SZ 54/116 (1981).
Beispiel
Rechtssprechungsbeispiel
Ein wichtiger Anwendungsbereich des Treu und Glaubens Grundsatzes liegt im Gesellschaftsrecht; vgl etwa EvBl 1999/129: § 61 GmbHG – Zur Treuepflicht von GmbH-Gesellschaftern.
JBl 1999, 380: Der Versuch eines Vertragspartners, von der mehrere Jahrzehnte geübten einvernehmlichen Vertragshandhabung abzuweichen, kann gegen Treu und Glauben verstoßen; Auslegung einer Reallast des Wasserbezugs.
Zu Äußerungspflichten aus Treu und Glauben → KAPITEL 5: Die Sonderfälle des § 864 ABGB.


Rechtswidrigkeitszwiebel
Abbildung 11.20:
Rechtswidrigkeitszwiebel
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6. Rechtsmissbrauch und Schikane
Eine andere Ergänzung der Sittenwidrigkeit sind Rechtsmissbrauch (§ 1305 ABGB) und Schikane (§§ 1295 Abs 2, 2. HalbS), die als Erscheinungsform des Rechtsmissbrauchs angesehen wird. Beide Rechtsfiguren kommen in ganz verschiedenen Bereichen der Rechtsordnung vor; etwa Missbrauch der Verjährungseinrede (SZ 47/17), im Pflichtteilsrecht (JBl 1995, 584: Pflichtteilsverzicht), Markenschutzrecht (RdW 1997, 456) oder bei einer Bankgarantie: SZ 66/140.
Rechtsmissbrauch und Schikane entstammen genetisch-historisch, wie die Sittenwidrigkeit und der Treu und Glauben-Grundsatz dem griechischen Billigkeitsdenken (Epieikeia), das zur römischen aequitas und schließlich den erwähnten modernen Facetten dieses Denkens wurde.
§ 1305 ABGB stellt klar,
§ 1305 ABGB
• dass derjenige, der „von seinem Rechte innerhalb der rechtlichen Schranken (§ 1295 Abs 2 ABGB) Gebrauch macht, [für] den für einen anderen daraus entspringenden Nachteil nicht” verantwortlich gemacht werden kann;
• denn wer sein Recht ausübt, handelt nicht rechtswidrig.
Wird dieses Maß überschritten, stehen den davon Betroffenen Unterlassungs- und bei Verschulden Schadenersatzansprüche zu; vgl RZ 1998/1: Rspr-Beispiele.
Der erst durch die III. TN eingefügte § 1295 Abs 2 ABGB, der besser in den Zusammenhang des § 1305 ABGB aufgenommen worden wäre, fordert für die Annahme von Rechtsmissbrauch / Schikane, dass
§ 1295 Abs 2 ABGB
• „die Ausübung des Rechts offenbar den Zweck hatte, den anderen zu schädigen”, also
• die Rechtsausübung in Schadenzufügungsabsicht erfolgte.
Die Rspr legte dann noch (zu lange) ein „Schäuferl” drauf und verlangte, dass die Rechtsausübung offenbar „nur” (!) eine bestimmte Schädigung beabsichtigte, wodurch die Norm ihren „Biss” verlor.
Diese Position ist mittlerweile überwunden; vgl nunmehr EvBl 1987/49, wonach der OGH – in Abkehr von jahrelanger Rspr und in Anlehnung an eine Formulierung Gschnitzers – Schikane nicht nur dann annimmt, wenn die Schädigungsabsicht den einzigen Grund der Rechtsausübung bildet, sondern bereits dann, wenn zwischen den Interessen des Handelnden und jenen des Beeinträchtigten ein „(ganz) krasses Missverhältnis” besteht, also der Schädigungszweck offenbar im Vordergrund steht und andere Ziele der Rechtsausübung im Vergleich dazu völlig in den Hintergrund treten; vgl aber wieder WBl 1994, 167: Rspr-Beispiele. Vgl auch SZ 62/169 (1989)oder SZ 63/49 (1990).
Neue Rspr
Rechtssprechungsbeispiel
Unverständlich erscheinen heute Rspr-Positionen wie die in SZ 24/278 (1951) oder MietSlg 16.023 (1964) vertretenen, wonach dem österreichischen Recht ein allgemeines Schikaneverbot fremd sei. – ABGB-konform war diese Ansicht nicht!
WBl 1994, 167 = ecolex 1994, 162: Die Annahme sittenwidriger deliktischer Schädigung setzt eine vorsätzliche Schädigungshandlung voraus, wobei bedingter Vorsatz hinreicht.
SZ 44/86 (1971): Beweispflichtig dafür, dass der sein Recht Ausübende kein anderes Interesse hatte, als zu schädigen, ist der die Schikane behauptende Kläger; dies ist nunmehr iSv EvBl 1987/49 zu modifizieren.
JBl 1994, 191: Das Schikaneverbot gilt auch im öffentlichen Recht.
RZ 1998/1 und 1 Ob 338/97 f vom 24.2.1998: Darin setzt der OGH seine mit EvBl 1987/49 begonnene kritische Haltung fort. – Zu beachten ist dabei, dass der durch Schikane Beeinträchtigte nicht nur einen Unterlassungsanspruch besitzt, sondern nach allgemeinen Voraussetzungen auch Schadenersatzansprüche erheben kann; zB wenn ein Nachbar schikanös Einwendungen gegen ein Bauvorhaben erhebt!
Literaturquelle
Rechtssprechungsbeispiel
Das Dringen auf genaues Erfüllen eines gerichtlichen Vergleichs ( JBl 1961, 231);
Schikane wurde von der Rspr bspw in folgenden Fällen abgelehnt:
die Verfolgung von Rechten aus einem Bestandvertrag (MietSlg 26.153);
der Abwehr von Eingriffen in das Eigentumsrecht an Grund und Boden, weil bei Gewährenlassen eine Dienstbarkeit ersessen werden könnte (RZ 1993/72) oder RdW 1994, 102: Eigentumsfreiheitsklage erfolgt nicht missbräuchlich, selbst wenn eine Untersagung für den davon Betroffenen wirtschaftlich existenzgefährdend ist; ambivalent JBl 1994, 471 (Ausbau von Hafenbauten am Bodensee ohne Wissen einer Miteigentümerin);
Konkurseröffnungsantrag bei nur teilweiser pfandrechtlicher Sicherstellung der Forderung des Antragstellers.
Mikrophonfall: RdW 1995, 424 = wobl 1996, 144 (Anm Mader) – Wohnungsmieter über einem Gastlokal mit Gastgarten hängte ua aus seinen Fenstern Mikrophone, um Gästegespräche abzuhören und diese dadurch zu vertreiben;
Rechtsmissbrauch wurde angenommen:
Weigerung einer Kreditkartengesellschaft dem Vertragsunternehmen bei Störungen in der Abwicklung die Adresse des Kreditkarteninhabers bekanntzugeben (SZ 61/55 [1988]): Zur Kreditkarte → KAPITEL 15: Die Kreditkarte;
wenn jemand Rückstellung dessen begehrt, was er vertragsmäßig zu leisten verpflichtet ist (römisches Recht: dolo petit / agit, qui petit quod redditurus est): SZ 9/283 (1927) oder HS 4279/39 (Herausgabeanspruch), JBl 1988, 649 (Verdienstentgang);
bei Klagsführung zur Beseitigung eines ganz unwesentlichen Nachteils; MietSlg 26.153. De minimis non curat praetor.
OGH 27.11. 2002, 1 Ob 265/01d, EvBl 2002/72: Grundstückseigentümer lässt an der Grundstücksgrenze mit Zustimmung des Nachbarn eine Garage bauen. Diese ragt 9 cm über die Grenze, was der betroffene Nachbar weiß. Erst nach Fertigstellung klagt er auf Beseitigung. Der Bauführer wendet idF den Erwerb von Eigentum an dem (Überbau)Teil des Nachbargrundstücks ein; § 418 letzter Satz ABGB. – OGH verneint Eigentumserwerb wegen Unredlichkeit und nimmt im Übrigen Rechtsmissbrauch nach § 1295 Abs 2 ABGB an.
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7. Zur Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen
Die Gefahr von (inhaltlich) kaum determinierten Rechtsbegriffen wie den Guten Sitten oder dem Treu und Glauben-Grundsatz liegt in ihrem Missbrauch durch Rechtsanwender.
Missbrauchsgefahr
Der Nationalsozialismus hat Generalklauseln dazu missbraucht, um seine politischen Wertungen durchzusetzen und Juristen haben dabei mitgemacht; bspw im Mietrecht (§ 19 MG; heute § 30 MRG), wo ein für die Kündigung nötiger „wichtiger Grund” allein darin erblickt wurde, dass ein Mieter Jude war. Allein in Wien wurden ab 1938 etwa 60.000 Mietwohnungen auf diese Weise „arisiert”. Eine Entschädigung wurde mit dem Entschädigungsfondsgesetz beschlossen; BGBl I 12/2001. – Hedemann hat die mit Generalklauseln verbundenen Gefahren eindringlich in schwerer Zeit geschildert.
Nationalsozialismus
Literaturquelle
Trotz dieser Gefahr kann der Gesetzgeber aber auf diese Instrumente nicht verzichten, zumal auf der einen Seite keine Rechtsordnung alles zu regeln vermag, und das auch gar nicht erstrebenswert ist, und andrerseits Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe ihrer Funktion nach dazu in der Lage sind, eine Rechtsordnung an die Erfordernisse der Zeit auch ohne Tätigwerden des Gesetzgebers anzupassen.
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VI. Anwendung der Gute Sitten-Klausel
1. Gute Sitten und „Rechtsgefühl”
Die Gute Sitten-Klausel ist in vielen Rechtsordnungen auch ein Instrument, um dem Rechtsgefühl bei Verstößen gegen das allgemeine Rechtsempfinden Achtung zu verschaffen. – Die guten Sitten finden daher sowohl im Wirtschaftsleben Anwendung, wie im persönlichen / privaten Bereich. Einseitige Ausnützung von Wirtschaftsmacht wird ebenso geahndet, wie Verstöße gegen die zwischenmenschliche Moral.
Dass die „guten Sitten” national und international ein dehnbarer Begriff sind, zeigt die Tatsache, dass zB Deutschland, Belgien, Luxemburg und Griechenland lange die legale (!) steuerliche Abschreibung von Bestechungsgeldern für ausländische Beamte kannten; OECD-Erklärung 1997: Die Zeit Nr 23, 30.5.1997, S. 24.
Hier zu nennen sind auch Geschäfte im Zusammenhang mit der Prostitution, die von der Rspr früher generell als sittenwidrig angesehen wurden, mag sich mittlerweile auch schon manches in Richtung Realismus geändert haben. – Eine bürgerliche Scheinmoral bediente sich in Bereichen wie diesem ihres Einflusses, um eigene Wertungen durchzusetzen.
Prostitution
Rechtswissenschaft hat mit Realitätsbewältigung zu tun und doch schleppen manche ihrer Begriffe und Rechtsinstitute überholten Ballast mit sich. Und Probleme, die das dogmatische Konzept stören, wurden von der Rechtswissenschaft immer wieder ganz oder teilweise „verdrängt” oder „abgespalten”. Hier angesiedelt ist auch das Problem der Prostitution (Körper, Sexualität als Ware), die rechtlich zum Teil immer noch nach Christian Morgensterns Palmström-Prinzip gelöst wird: Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Dennoch war die Rspr unseres OGH streckenweise zu diesem Problemkreis realistischer als die des dtBGH. Aber auch der OGH behandelte im Kielwasser des dtRG lange sowohl den Verkauf, wie die Verpachtung und die Geschäftsführung auch polizeilich geduldeter „Freudenhäuser” als sittenwidrig; vgl GlUNF 4867 (1908) und JBl 1933, 210. Wahrlich ein Zeit- und Sittenbild. Dazu kritisch schon Gschnitzer in Klang2 IV/1, 191 f mwH (1952).
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 54/70 (1981): Verdienstentgang einer registrierten Prostituierten → KAPITEL 9: ¿Verdienstentgang¿. Hier ging es um Schadenersatzansprüche nach einer Verletzung. Die Zahlung des Prostituiertenentgelts ist jedoch nach der Rspr nach wie vor unklagbar, weil sittenwidrig. Hier ist die Rspr immer noch auf dem Stand des römischen Rechts: Quod meretrici datur. Man kann da nur sagen: „Es erben sich Gesetz und Recht ….”
JBl 1989, 784: Verträge mit Prostituierten sind nach der Rspr sittenwidrig, mag auch ein geleistetes Entgelt nicht nach § 1174 Abs 1 ABGB zurückgefordert werden können.
JBl 1933, 210: Erachtet noch den Bordellkauf und die Bordellhypothek als ungültig, weil sittenwidrig.
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2. Weitere Beispiele zur allgemeinen Sittenwidrigkeit
Rechtssprechungsbeispiel
SZ 26/52 (1953): Das Verlöbnis eines Verheirateten ist sittenwidrig.
Ebenso der (Voraus)Verzicht eines Ehepartners auf künftige Scheidungsgründe; JBl 1962, 605.
SZ 36/58 (1963): OGH reduzierte eine zeitlich zu lange Konkurrenzklausel im Rahmen eines Metzgereipachtvertrags samt Kundenstock.
SZ 41/131 (1968): Gewerbebetrieb wird von E-Werk nicht von Stromabschaltung verständigt. AGB des E-Werks enthalten für solche Fälle einen Haftungsausschluss; sog Freizeichnungsklausel → KAPITEL 9: Verschulden (culpa). OGH betrachtet den Haftungsausschluss als sittenwidrig, argumentiert aber vornehmlich mit § 914 ABGB (Verkehrssitte).
EvBl 1995/27 und 28: Fax-Werbung. Werbung mittels Telefax ist unzulässig. (Kläger= Rechtsanwälte und Fax-Inhaber; Beklagter = schickte ungefragt Werbematerial mittels Telefax).
EvBl 1995/27 (§ 1 UWG): Das Berufungsgericht erblickt in der unerbetenen Telefaxwerbung eine gegen die guten Sitten im Geschäftsverkehr verstoßende belästigende Werbemaßnahme .... Das Telefaxgerät dient – wie das Telefon – dem Geschäftsbetrieb. Die unerwünschte Inanspruchnahme des Telefaxgerätes durch den Beklagten ist schon deswegen belästigend, weil die Telefaxsendung angenommen werden muss, um festzustellen, ob sie für die Kläger von Wichtigkeit ist oder nicht. Dadurch wird gerichtsbekanntermaßen das Gerät der Kläger blockiert und die Arbeitskraft diverser bei ihnen tätiger Angestellter und der Klägerin selbst unzulässig in Anspruch genommen .... Für die Übersendung des vorliegenden Werbematerials an die Kläger mittels Telefax bestand überhaupt keine Veranlassung. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass allenfalls zwischen den Streitteilen eine Geschäftsbeziehung geringen Ausmaßes bestanden hat bzw dass die Kläger in der Kundenkartei des Beklagten gespeichert sind .... – Vgl auch EvBl 1995/28. – Dasselbe gilt für e-mail-Werbung.
SZ 73/47 = EvBl 2000/147: Postkartenwerbung – Eine durch die Tarnung einer Werbesendung als Privatpost (Ansichtskarte mit Urlaubsgruß) bewirkte Täuschung ist rechtswidrig und stellt wegen der Notwendigkeit, die Werbung zumindest teilweise zur Kenntnis zu nehmen, zu einem mit dem Schutz des Privatbereichs (§ 16 ABGB) unvereinbaren Belästigung. (In der E fehlt ein Bezug auf § 879 ABGB, er ist aber gleichsam mitzudenken. Die E zeigt, dass es in diesen Werbefällen zu Übergängen zwischen § 879 und § 16 ABGB kommt.
EvBl 1999/186: Anruf zu Werbezwecken – Schon das telefonische Einholen der Zustimmung zu einem späteren Werbetelefonat ist ein Anruf zu Werbezwecken iSd § 101 TKG.
„Lösegeldforderungen” für Internet-Adressen sind sittenwidrig: Domain-Grabbing, also das Registrieren von Internet-Adressen bloß zum Zweck, um sie anderen Benutzern später teuer zu verkaufen, ist sittenwidrig; vgl OGH 24.2.1998 – jusline I – Obl 1998, 241 und 27.4.1999 – jusline II – Öbl 1999, 225. Der OGH behandelt Domain-Grabbing als selbständige, sittenwidrige Handlung iSd § 1 UWG.
SZ 68/64 (1995): Ist eine Garantie des Sohnes für seine Mutter sittenwidrig? Bürgschaft, Schuldbeitritt und Garantie sind nicht schon sittenwidrig, weil einer ungleich verhandlungsstärkeren Gläubigerbank ein gutstehender Angehöriger gegenübersteht, dessen Verpflichtung seine Vermögensverhältnisse weit übersteigt, sondern erst unter zusätzlich vorliegenden Umständen, die seine Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen und der Bank zuzurechnen sind. Als solche kommen zB in Betracht: das Abdingen von Schutzvorschriften, Fehlen einer Haftungsbegrenzung, Überschuldung des Hauptschuldners, Verharmlosung des Risikos, Überrumpelung, Unerfahrenheit und mangelndes Eigeninteresse des Angehörigen am Kreditvertrag. – Zur Frage unter welchen Voraussetzungen sog Angehörigenbürgschaften und überhaupt riskante Bürgschaften sittenwidrig sind → KAPITEL 15: Riskante Bürgschaften ¿ Angehörigenbürgschaften.
EvBl 1999/2 (§ 879 ABGB) = SZ 71/117 (1998): Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit einer Bürgschaftserklärung zugunsten von Geschwistern. – Die Grundsätze der Prüfung der Sittenwidrigkeit rechtsgeschäftlicher Haftungserklärungen, die im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie im Verhältnis zwischen Lebenspartnern (Ehegatten oder Lebensgefährten) gelten (SZ 68/64), lassen sich nicht ohne weiteres auf die Beziehungen erwachsener Geschwister übertragen. Zur Bürgschaft → KAPITEL 15: Die Bürgschaft: §§ 1346 ff ABGB.
EvBl 1999/178: Sittenwidriges Handeln eines Internet-Providers im geschäftlichen Verkehr.
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3. Langfristige Lieferverträge – Bierbezugsverträge
Literaturquelle
Praktisch von Bedeutung waren bisher sittenwidrige Vereinbarungen in Lieferverträgen , inbesondere Getränke- und Bierbezugsverträgen:
Rechtssprechungsbeispiel
Die E des OGH EvBl 1983/12 wurde bei den Dauerschuldverhältnissen erwähnt → KAPITEL 6: Rechtsprechungsbeispiele .
Vgl auch JBl 1992, 517: Bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit wegen übermäßiger zeitlicher Bindung kommt es auch auf andere Faktoren, als das bloße Zeitübermaß an; es ist vielmehr im Einzelfall die sich aus dem gesamten Vertragsinhalt ergebende Stellung und Rechtslage der Vertragspartner inbesondere in Rücksicht auf die Beschränkung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit zu beurteilen und auch der etwaige Missbrauch der wirtschaftlichen Verhandlungsübermacht eines Beteiligten zu berücksichtigen.
Eine Besonderheit bei Bierlieferungs- – aber auch anderen – Langzeitverträgen stellt die Verpflichtung des Abnehmers (oder Mieters, Pächters, Wohnungseigentümers etc) dar, übernommene vertragliche (Bezugs)Verpflichtungen auf allfällige Rechts- oder Geschäftsnachfolger zu überbinden; sog Vertragsüberbindungspflichten: Vgl JBl 1985, 742 oder JBl 1988, 720. Auch hierbei dient § 879 ABGB als Korrektiv.
Vertriebsverträge im EU-Binnenmarkt
Im Zusammenhang mit Lieferverträgen, inbesondere Bierbezugsverträgen, soll auf eine für Österreich beachtliche EU-Regelung hingewiesen werden:
Art 85 EGV verbietet wettbewerbshindernde Vereinbarungen, Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen; Art 86 EGV den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung.
Davon ausgenommen sind inbesondere Einzel- und Gruppenfreistellungen: Die wichtigsten Gruppenfreistellungen sind die (speziell für Bierbezugsverträge erlassene Ausnahme der) Alleinvertriebs vereinbarungen, wobei der Lieferant in einem Gebiet nur an einen Händler liefert und die Alleinbezugs vereinbarung, wo der Händler nur von einem Lieferanten bestimmte Waren bezieht. Alleinbezugsverpflichtungen sind nach EG-Recht auf 5 Jahre beschränkt, wenn eine Gaststätte Bier und andere Getränke bezieht; mit 10 Jahren dann, wenn nur bestimmte Biere abgenommen werden.
Die Beschränkungen der Art 85 und 86 EGV kommen aber nurzur Geltung, wenn:
• eine Wettbewerbsbeschränkung bezweckt oder tatsächlich bewirkt wird;
• die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung (Anteil am geographischen relevanten Markt mehr als 5 % oder mehr als ca 4 Milliarden Schilling Umsatz der beteiligten Unternehmen) gegeben ist;
• sowie dann, wenn der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten beeinträchtigt wird.
Beachte
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VII. Verletzung fremder Forderungsrechte
Zum Unterschied der Rechtswirkung zwischen relativen und absoluten Rechten in ihrer rechtlichen Außenwirkung → KAPITEL 7: Die Forderungsrechte als relative Rechte.
Forderungsrechte werden als relative Rechte von der Rechtsordnung nicht in gleichem Maße geschützt wie dingliche und absolute Rechte. Es fehlt ihnen grundsätzlich die Dritt- oder Außenwirkung. Dennoch wurde schon früh ihre – mitunter erhöhte – Schutzwürdigkeit erkannt. Auch der Gesetzgeber des ABGB hat bereits schwere Verstöße gegen Forderungsrechte sanktioniert.
Schutzwürdigkeit relativer Rechte
Der Schutz relativer, also schuldrechtlicher Rechtspositionen wurde im 20. Jhd aber deutlich ausgeweitet und verstärkt. Man denke nur an H. Klangs langen und letztlich erfolgreichen Kampf zur Aufwertung der Rechtsstellung des Mieters gegen störende oder schädigende Einflüsse Dritter, zB bei Immissionen → KAPITEL 8: Die Immissionen ¿ Überblick. Darüber hinaus wird heute eine schützende „Drittwirkung” obligatorischer Rechte auch dann anerkannt, wenn die Rechtszuständigkeit eines schuldrechtlich Berechtigten angezweifelt oder negiert wird.
H. Klangs Kampf
1. Der Schutz von Forderungsrechten im ABGB und ihre Behandlung
§ 367 ABGB bestimmt in seinem letzten Satz, „dass von den redlichen Besitzern das Eigentum erworben [wird], … dem vorigen Eigentümer … [aber] gegen jene, die ihm dafür verantwortlich sind, das Recht der Schadloshaltung zu[steht].”
Nach den Doppelverkaufsbestimmungen der §§ 430, 440 ABGB erlangt der in seinem Forderungsrecht verletzte Erstkäufer zwar nicht Eigentum, doch hat nach Anordnung des § 430 ABGB „der [bisherige] Eigentümer [= der verletzende Vertragspartner!] dem verletzten Teile zu haften” → KAPITEL 8: Der sog Doppelverkauf.
Die Weiterentwicklung eines qualifizierten Schutzes von Forderungsrechten ging idF dahin, beim Doppelverkauf den Erstkäufer nicht nur in Form von Ersatzansprüchen gegen seinen Vertragspartner zu schützen, sondern auch durch eigene (Schutz)Ansprüche gegen den das Forderungsrecht schädigenden Dritten. – Dafür wurde von der Rspr zunächst aber eine arglistige Schädigung des Dritten verlangt; SZ 16/66 (1934) – Realitätenvermittlung:
Arglistige Schädigung durch Dritte
„Kann auch, falls ein Forderungsrecht von einem Dritten beeinträchtigt wird, der Gläubiger grundsätzlich von diesem keinen Ersatz verlangen, so gilt dies nicht, wenn den Dritten der Vorwurf der arglistigen Schädigung trifft, der gegenüber als gegen die guten Sitten [!] verstoßend die Relativität des verletzten Rechtes nicht in Betracht kommt...”
Schon in SZ 19/205 (1937) begnügt sich der OGH mit einer bloß wissentlichen Beteiligung an einer Vertragsverletzung: §§ 1295, 1301 ABGB – (Gang)Klosettbenützung.
Wissentliche Beteiligung
„Wissentliche Beteiligung an einer Vertragsverletzung kann im Sinne des § 1301 ABGB einen Dritten schadenersatzpflichtig machen, auch wenn keine Arglist erweislich ist.” – Der Kläger war Geschäftsmieter im Haus der drei Erstbeklagten, womit eine Gangklosettbenützung verbunden war. Im Rahmen von Umbauarbeiten wurde der Teil des Gangs, in dem sich das Klosett befand, mit einer anderen Wohnung verbunden, deren Mieterin dem Kläger idF die Mitbenützung des Klosetts ebenso verweigerte wie ihr späterer Nachmieter. (Gegen seine Vermieter war der Kläger bereits mit einer Besitzstörungsklage erfolgreich gewesen.) Der Kläger klagte idF die drei Miteigentümer des Hauses und den Mieter (als Viertbeklagten) auf Mitbenützung der Toilette und der OGH gab der Klage statt und meinte: Denn „dadurch wird alles „in den vorigen Stand zurückersetzt” [§ 1323 ABGB].”
In JBl 1961, 416 (Mehrfachverkauf einer Liegenschaft) verlangt der OGH schließlich nur noch eine fahrlässige Beeinträchtigung der Käuferrechte, wobei die Argumentation – billigenswert – eher in Richtung grober Fahrlässigkeit tendiert, zumal dadurch der Unterschied zwischen relativen und absoluten Rechten nicht über Gebühr eingeebnet wird.
Fahrlässige Beeinträchtigung
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2. Weiterentwicklungen
Neben der gesetzlich sanktionierten Verletzung fremder Forderungsrechte im Rahmen des gutgläubigen Erwerbs nach § 367 ABGB oder durch die Doppelveräußerung beweglicher oder unbeweglicher Sachen, werden heute Forderungsrechte auch in folgenden Fällen typischerweise verletzt und daher von der Rspr – auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage – geschützt:
Rechtssprechungsbeispiel
Mehrfachvermietung von Räumlichkeiten; SZ 19/205 (1937): Klosettbenützung → Der Schutz von Forderungsrechten im ABGB und ihre Behandlung
Vertragswidriges Nichtüberbürden eines nicht verbücherten Wohnrechts beim (Weiter)Verkauf der Liegenschaft; SZ 7/301 (1925) → KAPITEL 8: Dingliche Wirkung nur bei Verbücherung.
Verletzung nichtverbücherter Vorkaufsrechte; SZ 31/14 (1959): OGH begnügt sich, Bettelheim und Ehrenzweig folgend, nicht mit einem bloßen Schadenersatzanspruch, sondern gewährt einen Erfüllungsanspruch nach § 1323 ABGB (Naturalersatz). Vgl aber nunmehr JBl 1995, 526: Beeinträchtigung eines nichtverbücherten Vorkaufsrechts – Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs. OGH betont, dass demjenigen, der sich lediglich auf sein nicht verbüchertes Vorkaufsrecht berufen kann, nur unter der Voraussetzung der Beeinträchtigung fremder Forderungsrechte ein auf Naturalrestitution gerichteter Schadenersatzanspruch gegen den Dritten zugebilligt wird. OGH lässt es aber offen „ob und in welchem Umfang die bloße Kenntnis vom Vertragsbruch schadenersatzrechtliche Folgen haben könnte”.
Verletzung der (bloß schuldrechtlichen) Position des Beschenkten bei einer Schenkung auf den Todesfall → KAPITEL 3: Schenkung auf den Todesfall: E des OGH 2.7.1984, NZ 1985, 69 = HS 14.742.
Hierher gehört auch die Verletzung eines bestehenden Zessionsverbots, das die hA mit absoluter Wirkung ausstattet → KAPITEL 14: Globalzession und Abtretungsverbot. – Vgl nunmehr auch SZ 73/132 (2000): Zweimaliger Globalzessionsvertrag an verschiedene Banken: „Wenn trotz des Fehlens eines ausreichenden Buchvermerks ein zweiter Zessionar vom Globalzessionsvertrag des ersten Kenntnis hat (hier Information durch den Zedenten), wird er wegen des Eingreifens in fremde Forderungsrechte schadenersatzpflichtig.” (Sinnvoll erschiene es bei Vereinbarung einer Globalzession stillschweigend oder konkludent ein Abtretungsverbot anzunehmen.)
OGH 26. 2. 2001, 3 Ob 70/00s, JBl 2001, 583: Ehegatte gründet nach Scheidung GmbH, der im Wege der Zwangsversteigerung die Liegenschaft auf der sich das Haus befand, in dem die ehemalige Ehegattin wohnte (§ 97 ABGB), übertragen wird. – OGH: Die Rspr, wonach ein Schadenersatzanspruch gegen einen Dritten schon bei fahrlässiger Verletzung eines besitzverstärkten Forderungsrechts besteht, betrifft nur den rechtsgeschäftlichen Erwerb. Bei Erwerb im Wege der Zwangsversteigerung schadet die Kenntnis eines obligatorischen Rechts, das in den Versteigerungsbedingungen nicht aufscheint aber nicht. Ein Schadenersatzanspruch gegen den Ersteher kann aber bei arglistigem Zusammenwirken (Kollusion) mit dem Schuldner geltend gemacht werden. (Die E ist insofern von Bedeutung, als mit ihr der Schutz fremder Forderungsrechte über den rechtsgeschäftlichen Bereich hinaus auch für die Zwangsversteigerung grundsätzlich anerkannt wird.)
OGH 30. 8. 2000, 6 Ob 174/00g, SZ 73/132: Eine GmbH hat Kreditschulden von nahezu 5 Mio S bei der A-Bank. Zur Besicherung wird eine Global- und Mantelzessionsvereinbarung geschlossen, die jedoch aufgrund unzureichender Kenntlichmachung in der offenen Postenliste (OP-Liste) der Kreditschuldnerin mangels Publizität nicht zu einer Abtretung der Forderungen führt. Als die GmbH bei der A-Bank keine weiteren Kredite mehr erhält, wendet sie sich an die B-Bank, der sie die bereits erfolgte Globalzession zugunsten der A-Bank mitteilen. Zur Besicherung des neuen Kredits wird auch mit der B-Bank ein Global- und Mantelzessionsvertrag geschlossen und im Laufe der Zeit werden ihr auch Forderungen im Wert von über 4 Mio S abgetreten. Nach dem Konkurs der GmbH klagt die A-Bank die B-Bank auf Zahlung dieses Betrages. – OGH: Die Globalzession künftiger Forderungen bedarf der Anbringung eines Generalvermerks in der offenen Postenliste. Dieser muss den Zessionar und das Datum des Zessionsvertrags anführen. Im konkreten Fall wurde nur der Buchstabe „Z” auf jede Seite der OP-Liste gesetzt). Wenn trotz des Fehlens eines ausreichenden Buchvermerks ein zweiter Zessionar vom Globalzessionsvertrag des ersten Kenntnis hat (hier: Information durch den Zedenten selber), wird er wegen des Eingreifens in fremde Forderungsrechte schadenersatzpflichtig. – Überlege: Kann bei Vereinbarung einer Globalzession stillschweigend ein Abtretungsverbot angenommen werden und wie könnte es begründet werden? (§ 914 ABGB iVm mit ergänzender/hypothetischer Vertragsauslegung) Didaktisch vorbildliche Gliederung der E.
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3. Zur Sittenwidrigkeit der Verletzung fremder Forderungsrechte
Der über die §§ 367, 430 und 440 ABGB hinausreichende modernere Schutz fremder Forderungsrechte geht von der Sittenwidrigkeit solcher Schädigungen aus; vgl Gschnitzer, AllgT 717 ff (19922). – Es dürfte nicht schwer fallen, auf Grund der bislang aufbereiteten Schutzpositionen, weitere Fälle und Fallgruppen einzubeziehen.
Mit diesem Ergebnis wird aber der ursprüngliche Weg, den inbesondere die §§ 430 und 440 ABGB gewiesen haben, verlassen. – Über den Umweg eines schadenersatzrechtlichen Naturalersatzanspruchs (§ 1323 ABGB) wird ein Erfüllungsanspruch in Bezug auf den verletzten Vertrag insbesondere dann gewährt, wenn der Verletzer das verletzte Forderungsrecht aufgrund eines bereits eingeräumten Besitzverhältnisses hätte kennen können. Daraus entwickelte sich die heutige Rspr-Linie; vgl schließlich Schilcher / Holzer, JBl 1974, 445 und 512.
Überwiegend abgelehnt wird die Meinung Koziols, der für eine weitgehende Angleichung des Rechtsschutzes absoluter und relativer Rechtspositionen eingetreten war. Diese Meinung ist auch noch nicht ausgereift und nicht frei von inneren Wertungswidersprüchen; vgl nur Koziols und anderer Meinung zum Abtretungsverbot.
Literaturquelle


Relative und absolute Rechte
Abbildung .21:
Relative und absolute Rechte
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