Kapitel 11 | |
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Rechtsanwendung und logisches
Schliessen, Auslegung, System, Methode und Begriffsbildung sind
– wie vieles andere mehr – weithin ein Geschenk der alten Griechen
an Rom und uns. Vor allem die griechische Philosophie, aber auch
ihre Rhetorik, Grammatik und Logik hatten nahezu moderne Standards
geschaffen, die das spätere Rechtsdenken nur zu übernehmen brauchte.
– Aber auch das ‚reine’ Rechtsdenken der alten Griechen war viel
entwickelter, als dies üblicherweise angenommen wird. Insgesamt
gebührt ihnen am europäischen Rechtsdenken ein deutlich größerer Anteil
als den Römern. Aber offenbar gilt auch für das Rechtsdenken die
historische Maxime, dass der Sieger die Geschichte schreibt. Dazu
ist allerdings anzumerken: Auch die Griechen haben manches übernommen,
von Ägypten, Mesopotamien oder Persien. – Aber bei einem genauen Rückblick
zeigt sich, dass nahezu alles, das Privatrecht vorerst ausgenommen,
griechischen Ursprungs ist: Gesetz, Gesetzespräambel, die Idee der
Verfassung samt Normenkontrolle und minutiösem Gesetzgebungsverfahren,
der Kodifikationsgedanke, die Unterscheidung in Privatrecht und
öffentliches Recht (samt der Ausformung zwischen dem Verfassungs-
und Verwaltungsrecht), das Völker-, Natur- und Fremdenrecht, wie
die Entwicklung des Handels-, Straf- und Verfahrensrechts. – Das
römische und unser Privatrecht verdanken den alten Hellenen mehr
als bisher tradiert wurde. – Die Griechen hatten als begabtes Handelsvolk
auch eine hoch entwickelte Kautelarjurisprudenz geschaffen, die
nicht nur alle Basis(rechts)institute kannte, sondern auch höchste
schöpferische Ausformungen wie das Register-, Archiv-, Urkunden-
und Notariatswesen, samt einem modernen Sachenrecht mit Grundbuch
und Publizitätsprinzip. Die Vorläufer des modernen anwaltlichen
Rechtsvertretungswesens waren die griechischen Rhetoren, Logographen und
Bankjuristen/Trapezites, die den Römern schon um die Zeit des Zwölftafelgesetzes
ein hoch entwickeltes Geld- und Bankwesen vermittelten. Dazu kannten
sie – anders als die Römer – die direkte Stellvertretung und hohe
Entwicklungsformen von Zession und Anweisung oder des Vertrags zugunsten
Dritter. Der Persönlichkeitsschutz ist ebenso griechischen Ursprungs
wie die Unterscheidung von Vorsatz, Fahrlässigkeit und Zufall. (Das
klassische römische Recht ist nicht über diese griechische Entwicklungsstufe
hinausgekommen; die Unterscheidung von Fahrlässigkeitsstufen ist
erst Justinianischen Ursprungs.) Im Erbrecht ist die amtlich-staatliche
Einweisung ins Erbe ebenso griechischer Herkunft wie das Parentelsystem
und wahrscheinlich auch schon die Universalsukzession. Die wichtigen
Eigentumsformen waren ihnen ebenso geläufig wie ihr effizienter
Schutz oder erste Ansätze eines gutgläubigen (Eigentums)Erwerbs.
Ohne einen eigenen Begriff dafür zu besitzen kannten sie den Eigentumsvorbehalt
oder Mehrfachverpfändungen von Liegenschaften, von den Hypotheken
ganz abgesehen. Auch die Anfänge eines Berücksichtigens von Willensmängeln
stammt aus der Heimat von Platon, Aristoteles, Theophrast, Demosthenes
ua, die auch disziplinär und methodisch schöpferisch tätig waren:
Sie entwickelten nicht nur die Rechtsphilosophie, die Legistik als
wissenschaftliche Gesetzeskritik und die Rechtspolitik (samt Ansätzen
zur Rechtstatsachenforschung und Rechtssoziologie), sondern im Rahmen
der in der zweiten Hälfte des 4. Jhds v. C. vehement einsetzenden
Ausformungen wissenschaftlicher Einzeldisziplinen auch die geschichtliche
(Rechtsgeschichte) und die vergleichende Betrachtung des Rechts
und in diesem Kontext schießlich die Anfänge der abendländischen
Rechtswissenschaft, die somit schon im Griechenland des ausgehenden
4. Jahrhunderts v. C. entstanden ist und nicht erst in Rom. Das
griechische Rechtsdenken hat auch schon so schwierige und artifizielle
Materien wie das internationale Privat- und öffentliche Recht hervorgebracht,
indem es bspw für Koloniegründungen Kollionsregeln schuf; und dies
seit der Wende vom 7. zum 6. Jhd v. C. | Überblick |
Ein letzter Gedanke: Der juristische Syllogismus und der
gesamte Bereich des rechtlichen Methodeneinsatzes machen ua deutlich,
dass die europäische Jurisprudenz aus dem Schosse der griechischen
Philosophie entstanden ist. Die geisteswissenschaftlich-hermeneutischen
Eierschalen sind nur allzu deutlich noch wahrnehmbar. Die in der
zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts v. C. in Griechenland entstandene
europäische Rechtswissenschaft erweist sich schon in ihrem Ursprung
als Mischdisziplin, angesiedelt zwischen mehreren damals ebenfalls
aus der Philosophie entstandenen Disziplinen: insbesondere der Philosophie
selbst, der Ethik, der Politik, der Rhetorik, die bereits beachtliche
psychologische Elemente kennt und was wir heute sozialwissenschaftliche
Ansätze nennen würden. | |
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I. „Legitimation”
durch Verfahren | |
Wie andere
Wissenschaften, hat auch die Rechtswissenschaft „Methoden” entwickelt.
Sie stammen im Wesentlichen von den alten Griechen, deren Philosophie
die Grundlagen der modernen Wissenschaften und auch der Rechtswissenschaft
geschaffen hat. Methoden sollen die Schritte einer Disziplin leiten,
nachvollziehbar machen und zudem – im besten Fall – eine Art Korrektheits-
und Gerechtigkeitsgewähr dokumentieren. Dieses Bemühen beginnt im
griechischen und römischen Recht und wird inbesondere im 19. und
20. Jhd vertieft. – Die Luhmannsche Formel der „Legitimation durch
Verfahren” ist auch – neben dem Verfahren iSv Prozess – auf das
korrekte „Verfahren” des Rechtsanwenders bei seiner Entscheidungsfindung
(unter Einhaltung der anzuwendenden Methoden) zu beziehen. | |
Allein wir müssen uns
im Klaren sein: Es gibt keinen verbindlichen juristischen Methodenkanon, der
uns im Einzelfall lehrt, wann, welche Methode, wie anzuwenden ist.
Das Heranziehen bestimmter juristischer Methoden hat daher viel
mit fachlichem Geschick, ja Kunstfertigkeit zu tun. Denn: Überall
dort, wo interpretiert wird, gelangen wir an die Grenzen einer Wissenschaft
oder Überschreiten diese Grenzen in Richtung Kunst. – Es ist daher
kein Vergreifen im Ausdruck, wenn der Römer Ulpian (iSd griechischen
Tradition) Recht definiert als: ars aequi et boni, also die Kunst des
Gerechten und Guten. | Existiert
ein verbindlicher Methodenkanon? |
Und
darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen, dass ein rein formales
Orientieren an rechtlichen Methoden noch nicht die Richtigkeit oder
gar die Gerechtigkeit einer Entscheidung verbürgt. Eine juristische
Entscheidung kann methodisch korrekt und dennoch falsch und ungerecht
sein. – Das Problem liegt darin, dass in rechtlichen Entscheidungen
(aller Art) immer wieder gesellschaftliche Werturteile zu
fällen sind – und zwar offen oder verdeckt – und diese Werturteile
unterschiedlich ausfallen können, je nach der sie handhabenden Persönlichkeit
und deren Sozialisation; zB: Ist eine bestimmte Darstellung persönlichkeits(rechts)widrig?
Oder ein Werbeplakat sittenwidrig? | Werturteile |
Es ist daher schon sehr viel, wenn wir uns
des Einflusses von Werten und Bewertungen im Rahmen der rechtlichen Entscheidungsfindung
bewusst werden. Das sollte zur Folge haben, bewusst getroffene Wertungen
offenzulegen, um sie nachvollziehbar zu machen. – Misstrauisch sollten
Sie immer dann werden, wenn jemand von sich behauptet, dass er (im
Gegensatz zu anderen) nicht werte! – All das dispensiert jedoch
nicht davon, sich um größtmögliche Objektivität zu bemühen! | |
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II. Methodenbewusstsein
und Rechtspraxis | |
In der Rechtspraxis spielt das Methodenbewusstsein
oft eine nachgeordnete Rolle. Franz Gschnitzer hat dies einmal so
umschrieben: Viele Rechtsanwender suchen zuerst ein vernünftiges Ergebnis
und kleiden dieses nachträglich in ein methodisches Gewand, um es
(wenigstens) nachträglich zu immunisieren. – Man könnte auch bildlich
sagen: Ein Rechtsanwender bäckt zuerst seinen Gugelhupf (= Ergebnis)
und übergießt ihn nach gelungener Arbeit mit einer Schokolade- oder
Zuckerglasur (= Methode). Ein solches Vorgehen stellt natürlich
nicht den Idealfall methodischen Vorgehens dar. Die Bedeutung theoretisch-methodischen
Denkens muss zwar ernst genommen, darf aber auch nicht zum Selbstzweck
werden. Das gilt in besonderer Weise für ein Rechtsgebiet wie das
bürgerliche Recht / Privatrecht mit seinen unmittelbaren Lebensbezügen; Geburt,
Tod, Erbschaft, Heirat, Kinder, Erziehung, Kauf und Arbeit. – Aber
es braucht Regeln, um eine geordnete Rechtsfindung zu ermöglichen.
Dabei gilt: Weniger, ist oft mehr! | Gugelhupf
mit Zuckerglasur? |
Die folgende „kleine Methodenlehre” enthält die wichtigsten
Schritte dieses Bereichs, sollte aber nicht dazu verleiten, das
Dargebotene für vollständig anzusehen. | |
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III. Methode
und Einheit der Rechtsordnung | |
Zu den Aufgaben juristischer Methode
gehört es auch, den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung zu fördern.
Dies indem zB unterschiedliche Rechtsbereiche sinnvoll aufeinander
abgestimmt und auftretende Widersprüche in der Rechtsordnung – auch
interpretativ – möglichst vermieden werden. Gesetzestechnische Widersprüche
– zB eine uneinheitliche Terminologie – und Normwidersprüche (Antinomien)
sollen ebenso ausgeräumt werden wie Wertungs- und teleologische
Widersprüche, die sich in der Rechtsanwendung oft erst durch historisch-gesellschaftlichen Wandel
ergeben. | Widersprüche
in der Rechtsordnung |
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Daneben
ist es wichtige Gestaltungsaufgabe juristischer Methode, aus der
Vielzahl von Normen Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien zu
entwickeln und diese immer wieder angemessen an den sozialen Wandel
anzupassen. – Auch ein guter Gesetzgeber schafft es nicht, normative
Disharmonien völlig zu vermeiden oder eine lückenlose Rechtsordnung
zu schaffen. | Rechtsgrundsätze und Rechtsprinzipien |
Das Bemühen
um Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung bedient
sich bei der Lösung seiner Aufgaben juristischer Methoden
ieS ebenso wie der Derogationsregeln (lex
specialis etc) oder der authentischen Interpretation
→ KAPITEL 11: §
8 ABGB: Authentische Interpretation. | Einheit und
Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung |
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Während
das Privatrecht seit Alters her viel zur juristischen
Hermeneutik beigetragen hat, lässt sich das vom öffentlichen
Recht nicht in gleichem Maße behaupten. Das öffentliche
Recht erscheint unbewusster und zurückhaltender im offenen Umgang
mit Auslegungsmethoden; vgl aber Th. Öhlinger, Verfassungsrecht
29 ff (19973). – Aber auch das Verfahrensrecht
wendet, obgleich dem öffentlichen Rechte angehörend, privatrechtliche
Auslegungsfiguren an. | |
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EvBl 1999/89: Teleologische Reduktion
im Grundbuchsverfahren: § 95 Abs 1 GBG. | |
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Hans Kelsen führt zum Wesen der Interpretation
in seiner „Reinen Rechtslehre“ 346 (19602)
an: | Hans Kelsen zur
Interpretation |
„Wenn das Recht von einem Rechtsorgan anzuwenden
ist, muß dieses den Sinn der von ihm anzuwendenden Normen feststellen,
muß es diese Normen interpretieren. Interpretation ist somit ein
geistiges Verfahren, das den Prozeß der Rechtsanwendung in seinem
Fortgang von einer höheren zu einer niedrigeren Stufe begleitet.
[Zur Merkelschen Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung → KAPITEL 1: Stufenbau
der Rechtsordnung]
In dem Fall, an den zumeist gedacht wird, wenn von Interpretation
die Rede ist, im Falle der Gesetzesinterpretation,
soll die Frage beantwortet werden, welcher Inhalt der aus der generellen
Norm des Gesetzes in ihrer Anwendung auf einen konkreten Tatbestand
zu deduzierenden individuellen Norm eines richterlichen Urteils
oder eines Verwaltungsbescheides zu geben ist. Aber es gibt auch
eine Interpretation der Verfassung, sofern es eben
gilt, die Verfassung – im Gesetzgebungsverfahren, bei Erlassung
von Notverordnungen oder sonstigen verfassungsunmittelbaren Akten
– auf einer niederen Stufe anzuwenden; und eine Interpretation völkerrechtlicher
Verträge oder der Normen des allgemeinen Gewohnheitsvölkerrechts,
wenn diese oder jene in einem konkreten Fall von einer Regierung
oder einem internationalen oder nationalen Gericht oder Verwaltungsorgan
anzuwenden sind. Und es gibt ebenso eine Interpretation von
individuellen Normen, richterlichen Urteilen, Verwaltungsbefehlen, Rechtsgeschäften usw.,
kurz aller Rechtsnormen, sofern sie angewendet werden sollen. | |
Aber auch die Individuen, die das Recht
– nicht anzuwenden, sondern – zu befolgen haben, indem sie das die Sanktionen
vermeidende Verhalten an den Tag legen, müssen die von ihnen zu
befolgenden Rechtsnormen verstehen und daher ihren Sinn festhalten.
Und schließlich muß auch die Rechtswissenschaft,
wenn sie ein positives Recht beschreibt, dessen Normen interpretieren. | |
Damit sind zwei Arten von Interpretationen gegeben,
die voneinander deutlich unterschieden werden müssen: die Interpretation
des Rechts durch das rechtsanwendende Organ, und die Interpretation
des Rechts, die nicht durch ein Rechtsorgan, sondern durch eine
Privatperson und insbesondere durch die Rechtswissenschaft erfolgt.”
(Hervorhebungen von mir) | |
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1. Rechtsanwendung:
Herzstück der Jurisprudenz | |
Die Frage, die wir idF klären
wollen, ist die, wie in der Rechtspraxis eine verbindliche Entscheidung
– zB ein Urteil – zustande kommt, welche Schritte dazu notwendig
und wie diese Schritte beschaffen sind. – Wir beginnen mit einem
praktischen Fall und gewinnen dabei einen ersten Eindruck (I), um
schließlich das, was in dieser Entscheidung gemacht wurde, zu reflektieren. | |
Die Rechtsanwendung ist das Herzstück
der Jurisprudenz, ihr Verständnis daher von größter Bedeutung.
Im Rahmen der Rechtsanwendung ist es oft nötig, Gesetze oder Verträge
/ Rechtsgeschäfte auszulegen. Darin liegt eine wichtige juristische
Aufgabe. | |
Für Lehrende und Lernende ist zu bedenken,
dass die Rechtsanwendung keine einfache Sache ist und neben Wissen auch
Übung und Erfahrung benötigt. Die folgenden Ausführungen sollen
dabei eine erste Hilfestellung sein. | |
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Die
folgenden Ausführungen bieten Gelegenheit, kurz auf die Frage von
„Sein” und „Sollen” einzugehen, zwei Bereiche der menschlichen Erfahrungswelt,
die sich in der Rechtsanwendung berühren, aber zu unterscheiden
sind. Der (österreichische) Rechtspositivismus hat in dieser Frage wichtige
Klärungen getroffen. | |
Wir
begegnen idF (Lehre vom
Rechtssatz und Rechtsanwendung und Subsumtion) Begriffen – nämlich
Tatbestand, Rechtsfolge und Sachverhalt –, die rechtslogisch verschiedenen
kategorialen Ebenen angehören, was deutlich gemacht werden soll:
Sein(s-) und Sollen(sbereich) sind zwar auseinanderzuhalten, wenngleich
aus methodischem Purismusstreben nicht übersehen werden soll, daß
Übergänge bestehen. – Der Sachverhalt entstammt dem Seinsbereich,
soll aber idF rechtlich beurteilt werden; Tatbestand und Rechtsfolge
dagegen gehören dem Sollensbereich an, sind aber (im Rahmen der
konkreten Rechtsanwendung) wiederum darauf gerichtet, (erneut) einen bestimmten
Seinszustand – und zwar idR einen anderen als den vor dem Verfahren!
– (wieder)herzustellen. Nötigenfalls durch staatlichen Zwang → KAPITEL 1: Frieden
und Ordnung als Rechtsfunktionen. | Zusammenwirken von Seins- und Sollensbereich |
Es stellt eine Schwäche der „Reinen Rechtslehre” dar, nicht
gesehen zu haben, dass es im Rechtsdenken zwischen dem Seins-
und Sollens-Bereich zahlreiche
Übergänge und Wechselbeziehungen gibt, geben muss. Das beginnt bei
Kelsens Grundnorm und reicht bis zum hier erwähnten Umschlagen der
Sollens- in die Seins-Ordnung (als Ziel rechtlicher Verfahren). | |
Zur
Unterscheidung von Seins- und Sollensbereich ein illustratives Beispiel
Robert Walters: Sie stehen als Fußgänger/in vor einer Kreuzung,
deren Ampel rot anzeigt (Sollensbereich = Verbot). Ihr/e Kollege/in
sagt: „Wollen wir nicht hinübergehen, es kommt ja kein einziges
Fahrzeug!” (= Seinsaussage) – Ein allfälliger „positiver Entschluss”,
die Kreuzung bei Rot zu überqueren, vermengt Sein und Sollen, schließt
rechtlich vom einen, auf den andern Bereich, was rechtlich (von
der „Reinen Rechtslehre” Hans Kelsens) verpönt wird. | Beispiel von R. Walter |
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Die Unterscheidung
zwischen Sein und Sollen ist keine reine Juristenerfindung; vielmehr
hat sie das Rechtsdenken von der Religion übernommen, was mittlerweile
schon fast vergessen ist. Die biblische Schöpfungsgeschichte kennt
– wie andere religiöse Texte – mit der Geschichte vom Sündenfall
nicht nur die Unterscheidung von Gut und Böse, sondern auch den
ontologischen Unterschied zwischen Sein und Sollen. – Die dem Menschen
(auch ohne religiösen Bezug) abgeforderte Entscheidung zwischen
Gut und Böse, Sein und Sollen, eröffnet aber auch den (rechtlich
bedeutsamen) Raum für die menschliche Freiheit, die sich so oder
so – also grundsätzlich für beide – entscheiden kann. Die nur scheinbar
rein juristische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen erweist sich
demnach – eine Schichte tiefer – als Voraussetzung menschlich-gesellschaftlicher
Entscheidungsfreiheit. | Vorbild Bibel? |
Allein dieser kleine Rekurs zeigt uns, dass
die von der Reinen Rechtslehre eingeforderte strikte Trennung dieser beiden
Bereiche weder rechtlich durchzuhalten, noch menschlich sinnvoll
ist. Das wird noch dadurch unterstrichen, dass die Freiheit der
Entscheidung keine Beliebigkeit eröffnet, sondern mit Verantwortung
getroffen werden soll und muss und die Kategorie der Verantwortung
sowohl eine Seins-, als auch eine Sollensdimension aufweist. Dazu kommt,
dass das Sollen typisch darauf abzielt, einen unerwünschten Seinsbereich
in einen erwünschten überzuführen oder einen bestehenden Seinsbereich
zu erhalten. | |
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 | Abbildung 11.1: Sein und Sollen (1) |
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 | Abbildung 11.2: Sein und Sollen (2) |
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 | Abbildung 11.3: Sein und Sollen (3) |
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3. EvBl 1983/90:
Ein Langlaufunfall | |
Klägerin = verletzte Schilangläuferin, Beklagter =
Fremdenverkehrsverein als Loipenbetreiber / -halter. | |
(Lebens)Sachverhalt:
Der Fremdenverkehrsverein R. (= Beklagter) betreibt im Gemeindegebiet eine
Langlaufloipe. Im Bereich der Kreuzung dieser Loipe mit einem Gemeindeweg
kam am 20.1.1981 eine Schilangläuferin (= Klägerin) zu Sturz und
verletzte sich dabei schwer. | Sachverhalt |
Der beklagte Fremdenverkehrsverein lässt
die Loipe täglich mittels eines Spurgeräts präparieren. Die Unfallstelle wird
dabei gegen 9 und 10 Uhr durchfahren. Außerdem geben dem Beklagten
die dort tätigen Langlauflehrer Hinweise auf eventuelle Hindernisse.
Einen eigenen Auftrag dazu erteilte ihnen der Beklagte jed Vorbild
Bibel? och nicht. | |
Im Zuge von Schneefräsearbeiten der Gemeinde
kam es bei der Kreuzung der Loipe mit einem Gemeindeweg zu einer
80 cm tiefen Stufe in der abfallenden Loipe. Auf das Gefälle wurde
150 m vor der Stelle durch eine Tafel hingewiesen; „Achtung fallendes
Gelände”! Die Klägerin – eine etwa 70 Jahre alte Dame – wollte die
Kreuzung in Schussfahrt passieren. Ein vor ihr dort gestürzter Langläufer
versuchte sie durch Winken vor der Gefahrenstelle zu warnen, worauf
sie nur rief, man solle die Bahn freigeben. Erst aus einer Entfernung
von etwa 1 1/2 m erkannte die Klägerin die Gefahr der Stufe, konnte
aber nicht mehr anhalten und kam zu Sturz. | |
| Tatbestand |
„Wird
durch den mangelhaften Zustand eines Weges ein Mensch getötet, an
seinem Körper oder an seiner Gesundheit verletzt oder eine Sache
beschädigt, so haftet derjenige für den Ersatz des Schadens, der
für den ordnungsgemäßen Zustand des Weges als Halter verantwortlich
ist, sofern er oder einer seiner Leute den Mangel vorsätzlich oder
grob fahrlässig verschuldet hat ....” | |
Wir haben nunmehr die
beiden (Eck)Pfeiler der Rechtsanwendung kennengelernt: (Lebens)Sachverhalt
und gesetzlicher Tatbestand. Die konkrete Rechtsanwendung /
-findung erfordert nun ein ständiges Hin- und Herwandern des „Blicks”
von der einen zur andern Seite (vom Seins- zum Sollensbereich!),
zumal der (konkrete) Sachverhalt mit dem (abstrakten) Tatbestand
auf Übereinstimmung geprüft werden muss. Denn nur dann kann der
jeweilige Tatbestand auf einen Sachverhalt angewendet werden. –
Gefahren und Fehlermöglichkeiten tun sich im Rahmen der Rechtsanwendung
sowohl auf der Tatbestands-, wie der Sachverhaltsseite auf: Man
presst zB in den Sachverhalt etwas hinein, was der Wirklichkeit
nicht entspricht (oder vergisst etwas wesentliches) oder legt einen
Tatbestand zu weit oder zu eng aus oder stützt sich gar auf den
falschen. Grund dafür kann eigenes Interesse, also Voreingenommenheit
sein, aber auch ein Irrtum. Aufgabe der Rspr ist es, „Toleranzbreiten”
der Interpretation von Normen festzulegen, die nicht über- und unterschritten
werden dürfen. | |
Sehen wir uns in der Folge also an, wie der OGH an diesen
Fall herangeht, welche Fragen er (näher) untersucht und wie er schließlich
entscheidet. Mehr zur Vorgangsweise dann unter: Subsumtion. | |
Aus dem Urteil des OGH: Als Weg iSd
§
1319a ABGB sind anerkanntermaßen auch alpine Skipisten
anzusehen. Um so mehr sind dieser Bestimmung auch Langlaufloipen
zu unterstellen, die einem Weg im üblichen Sinn noch viel ähnlicher
sind. – [Die richterliche / juristische Auslegungsarbeit besteht
hier also darin, den Gesetzesterminus des § 1319a ABGB, wo von „Weg”
gesprochen wird, im konkreten Fall auf Skipisten – und hier auf
eine Langlaufloipe – anzuwenden.] | |
Unter grober Fahrlässigkeit iSd § 1319a
ABGB ist eine auffallende Sorglosigkeit zu verstehen, bei der die
gebotene Sorgfalt nach den Umständen des Falles in ungewöhnlicher
Weise verletzt wird und der Eintritt des Schadens nicht nur als
möglich, sondern geradezu als wahrscheinlich vorauszusehen ist.
[Zu den Verschuldensgraden und ihrer Bedeutung → KAPITEL 9: Abgestufte
Verschuldenshaftung.] | |
Überlege: Warum geht der OGH hier so zielstrebig auf grobe
Fahrlässigkeit los? § 1319a Abs 1, Satz 1 Ende ABGB enthält
die Lösung: „ ... vorsätzlich oder grob fahrlässig verschuldet hat
....” – Ein Schadenersatzanspruch nach dieser Gesetzesstelle setzt
nämlich – anders als im Normalfall (!), wo schon für leichte Fahrlässigkeit
einzustehen ist – grobe Fahrlässigkeit voraus. | |
Das Vorhandensein einer 80 cm hohen Stufe in einer Langlaufloipe
schafft eine ungewöhnliche gefährliche Situation. Zwar muss ein
Langläufer die für diese Sportart typischen Risiken eingehen, doch
braucht er nicht mit solchen ungewöhnlichen Gefahrenquellen zu rechnen.
Vor derartigen atypischen gefährlichen Hindernissen muss vielmehr
der Loipenhalter die Langläufer schützen. | |
Bei größerem Schneefall muss mit einer Schneeräumung durch
die Gemeinde immer gerechnet werden und ebenso mit durch Schneefräsen
entstehenden Stufen in der Loipe. Der Beklagte hätte zum einen seinen
Loipendienst mit der Schneeräumung der Gemeinde koordinieren müssen,
um allfällig auftretende Hindernisse sofort beseitigen zu können.
Zum anderen hätte er für den Fall kurzfristiger Überschneidungen
mit einer Warntafel auf die Wegkreuzung hinweisen müssen. [Noch
besser wäre eine kurzfristige Sperre der Loipe gewesen.] | |
Dieses doppelte Versäumnis ist dem Beklagten als grobe Fahrlässigkeit
anzulasten. Jedoch wäre auch die Klägerin verpflichtet gewesen,
auf den Zustand der Loipe Bedacht zu nehmen und sich in ihrer Laufweise
den Gegebenheiten anzupassen. Sie hat jedoch die Wegkreuzung im
Bereich eines für Langläufer immer gefährlichen Gefälles erst zu spät
bemerkt. [?] Darüber hinaus reagierte sie nicht auf die Tatsache,
dass ein anderer Skifahrer angehalten hatte und ihr mit den Skiern
Warnzeichen gab. Sie handelte damit sehr unvorsichtig, sodass die
Annahme gleichteiligen Verschuldens gerechtfertigt ist. [Welche
Rechtsfigur wendet hier der OGH auf die Langläuferin an? → Rechtsanwendung
und Subsumtion]
Die Annahme eines 50%igen Mitverschuldens der Klägerin erscheint
sehr hart! | |
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II. Die Lehre vom
Rechtssatz | |
Paragraphen
/ Rechtsnormen / Rechtsvorschriften – diese Begriffe sind Synonyma
– stellen rechtstechnisch sog Rechtssätze dar; daher Lehre vom Rechtssatz.
Rechtssätze sind Sollenssätze und besitzen idealtypisch folgenden
(inneren) Aufbau: | |
Wenn A ist (=
Tatbestand), soll (= Rechtsfolgeanordnung) B sein (=
Rechtsfolge). – Man kann daher vereinfachend sagen: Paragraphen
bestehen aus Tatbestand und Rechtsfolge. | |
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 | Abbildung 11.4: Was ist Tatbestands-, was Rechtsfolgeelement? |
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III. Rechtsanwendung
und Subsumtion | |
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Um einen „Fall” rechtlich
entscheiden zu können, bedarf es weiterer begrifflicher Unterscheidung. Ein
dritter Begriff, der Sachverhalt, tritt neben Tatbestand und Rechtsfolge.
– Sachverhalt ist das, was sich tatsächlich in
der Außenwelt(= Seinsbereich) zugetragen hat; zB
ein Verkehrsunfall oder – wie in unserem Beispiel – ein Unfall beim
Langlaufen. Dieser konkrete ( Lebens)Sachverhalt muss
in der Folge gerichtlich erhoben (dh in allen wichtigen Details
verbindlich festgestellt) und schließlich rechtlich beurteilt werden. | |
2. Sachverhaltsfeststellung
als rechtliche Aufgabe | |
Ein
Sachverhalt besteht meist aus mehreren / vielen Tatsachen / Fakten;
rechtlich bedeutsamen und weniger bedeutsamen. Es ist eine wichtige
rechtliche Aufgabe, alle rechtlich bedeutsamen, relevanten Tatsachen
/ Sachverhaltselemente zu sammeln und daraus „den” konkreten, rechtlich
relevanten, dem Urteil zugrundezulegendenSachverhaltzusammenzustellen. | |
Dazu
reicht häufig juristischer Sachverstand nicht aus. Sachverständige
aus allen Lebensbereichen werden zur Klärung der Faktenlage herangezogen;
Buch- oder Verkehrssachverständige, Mediziner, Psychologen, Baumeister,
Architekten oder Techniker usw. | Klärung der Faktenlage auch durch Sachverständige |
Im Zivilprozess bereitet es in der 1. Instanz
oft die größten Schwierigkeiten, den richtigen Sachverhalt festzustellen. Das
bringt eine alte – freilich bewusst überspitzt formulierte – Justizregel
zum Ausdruck: Dass der Erstinstanzrichter auch (rechtlich) richtig
entscheidet, ist nicht so wichtig; wichtig dagegen erscheint, dass
er den Sachverhalt korrekt erhebt. | |
3. Freie
richterliche Beweiswürdigung | |
Im (Zivil)Prozess müssen relevante / erhebliche
Tatsachen bewiesen werden (zur Beweislast → KAPITEL 9: Beweislast
und Anspruchsdurchsetzung),
was auf verschiedene Weise möglich ist. Tatsachen können bspw durch
Urkunden- oder Zeugenbeweis erhärtet oder entkräftet werden; zu
den Beweismitteln → KAPITEL 19: Das
Verfahren erster Instanz.
– Vorsicht ist hier allerdings geboten, zumal sich – wie aus Untersuchungen
bekannt – Zeugen/innen auch irren können und nicht immer die Wahrheit
sagen; Zeugenabsprachen, oft minutiös (von Rechtsanwälten) vorbereitet,
kommen immer wieder vor. Alle Beweise – auch der Zeugenbeweis –
unterliegen daher der freien richterlichen Beweiswürdigung; § 272
Abs 1 ZPO. | |
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 | Abbildung 11.5: Zum Langlaufloipenfall: EvBl 1983/90 |
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4. Der Subsumtionsvorgang | |
Rechtliches
(Be)Urteilen, richterliches Entscheiden geht folgenden (logischen)
Weg; sog Subsumtion = Unterstellen eines konkreten
Sachverhalts unter einen (passenden) abstrakten, gesetzlichen Tatbestand: | |
Der
konkrete Sachverhalt wird einem geeigneten (abstrakt
im Gesetz formulierten) Rechtssatz, genauer dessen
Tatbestand, unterstellt. – Das erfordert Rechtskenntnis.
Man muss wissen, wo sich ein geeigneter Tatbestand im Gesetz findet.
– In einem zweiten Schritt wird die in diesem Rechtssatz (abstrakt
formulierte) Rechtsfolge auf den „konkreten Fall” (= Sachverhalt)
übertragen. – In unserem Beispiel wird der erhobene Sachverhalt
des Langlaufunfalls dem abstrakten Rechtssatz / Tatbestand des §
1319a ABGB (Wegehalterhaftung) unterstellt, weil dieser auf unseren
Sachverhalt passt. Die in § 1319a ABGB (abstrakt) angeordnete Rechtsfolge
(„ ... haftet derjenige für den Ersatz des Schadens ...”) wird auf
den (konkreten) Fall angewandt. (Dies ist deshalb möglich, weil
– wie wir schon gehört haben – der Begriff „Weg”, als Tatbestandselement des
§ 1319a ABGB, in dieser Gesetzesstelle so verstanden / ausgelegt
wird, dass darunter auch eine Langlaufloipe oder Schipiste zu verstehen
ist.) – Das heißt: Der beklagte Fremdenverkehrsverein muss der Langläuferin
Schadenersatz leisten. Wie viel, muss im Prozess geklärt werden. | Sachverhalt
wird Rechtssatz unterstellt |
Für
jene, die es schon am Beginn des Studiums genauer wissen wollen:
Eigentlich wird der Sachverhalt „Langlaufunfall” nicht nur dem Tatbestand
des § 1319a ABGB unterstellt / subsumiert, sondern auch dem des
§ 1325 ABGB und – darüber hinaus – auch noch den §§ 1293–1295 ABGB. Und
die Rechtsfolgeanordnungen der §§ 1319a und 1325 ABGB werden durch
§ 1304 ABGB, der das Mitverschulden „des Beschädigten” regelt, zusätzlich
ergänzt. Weil die Langläuferin den Unfall mit-verschuldet hat, erhält
sie vom OGH nicht vollen (Schaden)Ersatz, sondern bloß die Hälfte
zugesprochen. – Daraus ist zu ersehen, dass Tatbestände nicht nur
aus einem (einzigen) Paragraphen bestehen können, sondern auch aus
mehreren Normen. | Ein
„Tatbestand“ kann auch aus mehreren Paragraphen bestehen |
Die Zurechnung von Mitverschulden erfolgt
in der Praxis grobschlächtig; nämlich zur Hälfte, einem Drittel
oder einem Viertel, selten feiner. – Und darüber, ob ich „dem/r
Beschädigten” die Hälfte, ein Drittel oder bloß ein Viertel Mitverschulden
zurechne, lässt sich wacker streiten. – Das gilt gerade auch für
unseren Fall, in dem der OGH ein sehr problematisches Hälfte(mit)verschulden
der Klägerin annimmt. – Dazu kam es auch deshalb, weil der Sachverhalt
schlampig erhoben und daher keinesfalls in allen Punkten zutreffend
subsumiert wurde. Sowohl dem Anwalt der Klägerin, als auch dem Gericht
sind hier Nachlässigkeiten anzukreiden! Versuchen Sie die Schwächen der
Sachverhaltsfeststellung und -beurteilung herauszufinden. | |
 | Abbildung 11.6: Der juristische Syllogismus |
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IV. Rechtsanwendung
und Fallösung | |
1. Law in the books
and law in action | |
Das Gesetz gibt uns
nicht auf alle Fragen eine Antwort. So werden Sie zB vergeblich
eine Antwort darauf suchen, was der sog Eigentumsvorbehalt ist → KAPITEL 8: Eigentumsvorbehalt
als Warensicherungsmittel.
Er ist im Gesetz nicht geregelt. Dies, obwohl er von größter praktischer
Bedeutung ist. Er wird auf § 1063 ABGB gestützt, der aber nur den
Kreditkauf / Kauf auf Borg regelt → KAPITEL 2: Kreditkauf. | |
iSv Eugen EhrlichAus dem Gesetz lässt sich also
nicht immer alles und vor allem nicht immer das wirklich angewandte
(das lebende Recht iS Eugen Ehrlichs) Recht entnehmen.
Mitunter unterscheidet sich das tatsächlich gelebte Recht ( law
in action) von der gesetzlichen Regelung ( law in
the books) erheblich. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang
neben dem Eigentumsvorbehalt auch § 1062 ABGB in Bezug auf die sog
Abnahmepflicht von Käufern, die das Gesetz zwar (in der genannten Bestimmung)
festlegt, die aber von der Praxis / Rspr – entgegen dem Gesetzeswortlaut
– nicht vertreten wird → KAPITEL 7: Keine
rechtlich durchsetzbare Abnahmepflicht. | „Lebendes
Recht” |
Lernen können Sie daraus folgendes:
Das Gesetz( buch) ist wichtiges
Handwerkszeug des/der JuristenIn. Aber das Gesetzbuch regelt längst nicht
alle Rechtsfragen, lässt vielmehr manche Lücke offen, die
von den Gerichten (der Rspr / Judikatur) unter Mithilfe des Schrifttums
geschlossen wird; und manche Frage, die das Gesetz zwar regelt,
wird dennoch von der Rechtspraxis anders gehandhabt; vgl etwa die
hPr zu § 429 ABGB (Versendungskauf) → KAPITEL 2: Versendungskauf. | Gesetz(buch)
regelt nicht alles |
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Das Recht lebt in seinen Fällen, nicht in den Gesetzbüchern.
Interessant wird ein Befassen mit Recht dann, wenn jemand in der
Lage ist, Fälle / Probleme rechtlich zu erörtern und schließlich
zu lösen. Lehr- und Gesetzbücher benötigen wir, um Fälle und Probleme
zu lösen und jenes Wissen zu erwerben, das uns hilft, Recht sachgerecht
anzuwenden. | |
Wir alle haben
in der Kindheit gerne Geschichten gehört. Das rechtswissenschaftliche
Studium bietet die Möglichkeit „Geschichten” in abgewandelter Form
zu erzählen / zu hören oder doch zu lesen. Die „Geschichten der
Rechtswissenschaft” sind ihre „Fälle”, die gerichtlichen Entscheidungen,
die zu lesen immer wieder lehrreich ist, mag man mitunter auch anderer
Meinung sein als das entscheidende Gericht. Man kann von Fall-Geschichten sprechen. | Fall-Geschichten |
Auf die große Bedeutung gerichtlicher Entscheidungen für
die juristische (Aus)Bildung soll daher aufmerksam gemacht werden.
„Geschichten” helfen uns, sich das Erzählte leichter zu merken.
Und gute „Geschichten” verdichten ihr Thema auf das Wesentliche
und vermitteln Einsichten in schwierige Fragen auf verständliche
Weise. – Kurz: Gute „Geschichten” geben wichtige Einblicke, helfen
dabei sich den Stoff leichter zu merken und regen zu eigenem Denken
an. | |
Das Lösen von Fällen ist
eine wichtige juristische Aufgabe, die am Beginn des Studiums eine
Herausforderung darstellt und daher Unterstützung benötigt. – Sie
werden es erleben, dass es zweierlei ist, Recht zu lernen und
es zu verstehen, und es in der Folge – anhand zu lösender Sachverhalte
– anzuwenden, also selbst Fälle zu lösen. Das erfordert
Geduld und Übung. Das Lehrbuch will dabei Hilfe leisten, ohne zu
verkennen, dass diese Form der juristischen Tätigkeit nicht die
einzige juristische Aufgabe künftiger Tätigkeit darstellt. Hinzuweisen
ist daher schon hier, dass die juristische Problemlösung durchaus
vielgestaltig auftritt: Neben der üblichen Falllösung bei Gericht,
Rechtsanwalt, Notar oder in der Verwaltung gehören hierher auch
andere Varianten juristischer Tätigkeit; etwa das rechtsberatende
Gespräch, das idR psychologisches Einfühlungsvermögen und Taktgefühl
erfordert oder die streitschlichtende juristische Tätigkeit (Mediation),
für die ähnliches gilt. (Außergerichtliche) Streitschlichtung ist
eine alte juristische Fertigkeit, die nur vorübergehend in Vergessenheit
geraten ist und erst jetzt wieder eine Rolle zu spielen beginnt;
vgl aber schon die Rolle des „Mittlers” in Goethes „Wahlverwandtschaften”
oder das Verständnis von Platon oder Aristoteles vom Recht und der
richterlichen Aufgabe als Mitte oder Mittlertätigkeit zwischen den divergierenden
(Partei)Interessen. – Auch das Recherchieren von Sachverhalten,
eine eminent juristische Tätigkeit, will gelernt sein, wird aber
in der Ausbildung meist kommentarlos übergangen. Ähnliches gilt
von der Fertigkeit, (gute!) Verträge, Testamente oder andere rechtlich
relevante Erklärungen zu entwerfen; sog Kautelarjurisprudenz. –
All diese Fertigkeiten benötigen Erfahrung, Zeit und Geduld, um
wachsen zu können. | Lösen
von Fällen |
(Übungs)Fälle / Sachverhalte
sollten daher zunächst, um didaktisch hilfreich zu sein, nicht zu schwierig
sein. Hier versagen viele Falllösungsbücher. Es ist am Anfang schon
schwer genug, einen rechtlichen Sachverhalt ohne „Mascherl” beurteilen
zu müssen. | (Übungs)Fälle |
3. Hinweise
für das Bearbeiten von (Rechts)Fällen | |
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Zum Fall / Sachverhalt: Grundvoraussetzung jeder Falllösung
ist es, den Sachverhalt und die damit verbundene juristische Fragestellung
richtig zu erfassen. Fehler, die dabei gemacht werden, verfälschen
das Resultat und machen es leicht wertlos. – Tips für die Sachverhaltsaufnahme
und –darstellung bei Klausuren und Prüfungen: | |
Der
Sachverhalt ist daher aufmerksam – wenn möglich zweimal – durchzulesen
und auch in seinen Details ernst zu nehmen; nichts darf hinzugefügt,
nichts unterstellt, aber auch nichts weggelassen werden. Wurde nichts
anderes ausgeführt, ist von normalen Umständen auszugehen. Manche
Fallbearbeitungen gehen fehl, weil wichtige Details übersehen oder
neue hinzugedichtet werden. | Sachverhalt aufmerksam durchlesen |
Wichtiges im
Text sollte – wenngleich sparsam – unterstrichen werden, zB mit
Leuchtstift. Aber nicht alles unterstreichen, und besser nicht ganze
Sätze, sondern nur Stichwörter. – Wenn möglich sollte eine graphische
Skizze angefertigt werden: Das erhöht den Überblick. Die Parteien
/ Personen des Falls (Erst- / Zweitkläger, Beklagte, dritte Personen
von Bedeutung etc) in die Skizze einsetzen. Rechtlich relevante
Vorgänge, (Zeit)Abläufe, inbesondere behauptete oder mögliche Ansprüche
graphisch darstellen. | Leuchtstift-Skizze |
| |
Der Sachverhalt ist nicht moralisch zu bewerten („Besonders
verwerflich ist natürlich die Tatsache …”), sondern einer rechtlichen
Lösung zuzuführen. | |
Beim
Lösen von Klausurfällen liegen die Dinge einfacher als in der Wirklichkeit.
– Der Sachverhalt muss nicht erst aus widerstreitenden (Parteien)Behauptungen
und Darstellungen von Sachverständigen, Zeugen oder Urkunden herausdestilliert
werden, er ist vielmehr vorgegeben. Strittige Punkte sind meist
als solche gekennzeichnet. Der Sachverhalt muss aber insgesamt ernst genommen
werden. – Nicht auszuschließen ist, dass die Sachverhaltsdarstellung
auch überflüssige, für die Fallbehandlung irrelevante Teile enthält.
Sie sind zu übergehen, allenfalls für „unbeachtlich” zu erklären. | Sachverhalt ist ernst zu nehmen |
Häufige Fehler im Rahmen der Falllösung: | |
• Mitunter
wird zu rasch mit der Fallbearbeitung begonnen: – eingehendes Textstudium
+ Anfertigen einer Skizze sind aber ratsam, weil sie bereits ein
Überprüfen erster Assoziationen verlangen. | |
• Der Sachverhalt wird eigenmächtig
– ob bewusst oder unbewusst sei dahingestellt – abgeändert,
um sich in Stoffbereichen zu bewegen, die man beherrscht. Hier wird
der ’Wunsch’ zum Vater des Gedankens. – Das führt direkt in die
Themenverfehlung und stellt keine Falllösung dar. | |
• Immer wieder kommt es auch zu einem Abgleiten
in andere Probleme, die der Sachverhalt gar nicht stellt, wodurch
zumindestens wertvolle Zeit zur Bearbeitung der gestellten Aufgabe
verlorengeht. Sollten Sie über genug Zeit verfügen, steht es ihnen
immer noch frei, allfällige Randfragen oder Alternativprobleme zu
erörtern. Das birgt aber auch Gefahren! Dazu kommt: Eine zielstrebige,
klare und nicht ausufernde (Fall)Lösung hat viel für sich und macht
einen guten Eindruck. | |
• Willkürliche Unterstellungen vereinfachen
den Fall entweder unerlaubterweise oder erschweren ihn unnötigerweise. | |
•
Rechtsansichten der Streitteile,
die der Sachverhalt vielleicht wiedergibt, werden in ihrer Bedeutung
oft überschätzt. | |
• Zu argumentieren ist (möglichst
genau) an Hand des Gesetzes (wortlauts), nicht
aufgrund eigener (oft nur vager) Erinnerung. | |
•
Trennen Sie die gestellten
Fragen klar auch in Ihrer Antwort. Das erhöht auch
ihre juristische Übersicht. | |
• Gedanklich sollte sich alles klar aneinander
reihen. Gedankensprünge sind zu vermeiden! – Kurze,
durchdachte Antworten sind vagen Erörterungen vorzuziehen. | |
• Begründen Sie ihr Vorgehen (Methode), wie ihre
Lösung sorgfältig; die Entscheidungsbegründung ist ein hoher juristischer
Wert, denn die Jurisprudenz ist eine Argumentationskunst. | |
Es ist nicht nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, beim Erarbeiten
rechtlicher Fragen schematisch vorzugehen. Ein solches Vorgehen
erhöht insbesondere auch die Sicherheit in der unangenehmen Prüfungssituation,
in der mit Nervosität gerechnet werden muss. Ein solches Arbeitsprogramm hilft
geordnet argumentieren, vermeidet Wesentliches zu vergessen oder
– besonders häufig – Überflüssiges zu erörtern. Ein (Fall)Schema
muss aber nicht (immer) starr eingehalten werden. Eine gewisse logische
Reihenfolge ist aber auch arbeitsökonomisch: | Methodisches
Vorgehen bei der Fallbearbeitung: |
Bei
einem Fall mit Auslandsberührung (§ 1 IPRG; Art 1 EVÜ): Vor der
Prüfung zivilrechtlicher Anspruchsgrundlagen ist die Frage zu beantworten:
Welche Rechtsordnung gelangt zur Anwendung? | Auslandsberührung |
Anspruchsgrundlagen
sind jene Rechtsnormen, die geeignet sind, das konkrete Begehren
einer Partei oder der Parteien – zB auf Schadenersatz oder Leistung
einer Sache, rechtlich zu stützen. – Dabei ist ein einfaches Frageschema
nützlich, wie: Wer (= Kläger) kann von wem (=
Beklagter), was (= Klagebegehren), woraus (=
gesetzliche Anspruchsgrundlage) fordern? | Anspruchsgrundlagen |
Welche gesetzlichen Normen kommen (überhaupt)
für die Anwendung in Frage? Allenfalls: Bestehen zwischen Gesetz
und Praxis, Judikatur und Schrifttum Divergenzen? – Etwa beim Verständnis
des § 1298 ABGB oder des § 1320 ABGB. – Eine Falllösung im Rahmen
einer (schriftlichen) Prüfung, muss sich nicht nur an der Praxis
orientieren. | Anwendbare
Normen |
Vgl dazu gleich unten das „Grobschema für
das Suchen und Behandeln von Anspruchsgrundlagen”. – Zur Topik gleich
mehr. | |
Für
Klausuren und Diplomprüfungsfälle ist es am besten, von der allgemeinen
Fragestellung am Ende der Fallerzählung auszugehen. – Aber Vorsicht:
Nicht vorschnell ausschließlich eine Spur verfolgen, sondern immer topisch auch
andere Möglichkeiten in Betracht ziehen und sich dann, gewissermaßen
im K.O.-System, für eine – die „beste” – Lösung entscheiden. Diese
„Wahl” muss solide begründet werden. | Fragestellung am Ende der Fallerzählung |
Zur Topik:
F. Horak, Rationes decidendi. Entscheidungsbegründungen bei den
älteren römischen Juristen bis Labeo 45-64 (1969); zu Begründungen
in der Wissenschaft: derselbe, aaO 9-44. – Die Topik geht auf Aristoteles
zurück und meint: das Ver-Orten des Problems und seiner Lösung.
Das setzt voraus, andere mögliche (Lösungs)Orte zuvor auszuscheiden,
was mit Argumenten zu belegen, also zu begründen ist. ZB: Von den
(Lösungs)Möglichkeiten 1, 2 und 3 wird 2 gewählt, weil …! | Topik |
Hier ist stets zu prüfen:
Ist der begehrte oder in Aussicht genommene Anspruch korrekt, also
fehlerfrei entstanden? – Oder bestehen Einwendungsmöglichkeiten?
Etwa: Gesetz- oder Sittenwidrigkeit nach § 879 ABGB oder das Vorliegen
eines Formmangels oder die Möglichkeit der Irrtumsanfechtung. –
Und in der Folge ist zu fragen: Besteht der Anspruch noch, selbst
wenn er ordnungsgemäß entstanden ist? Oder ist er bereits erloschen?
Oder bestehen doch Einredemöglichkeiten (= Geltendmachung eines
Gegenrechts); etwa Verjährung, Verzicht, Aufrechnung, Gewährleistung,
bereits erfolgte Zahlung oder ist etwa der Anspruch noch gar nicht
fällig? | Ist
der Anspruch korrekt entstanden? |
Wurde
ein konkreter (Gesetzes)Tatbestand gefunden (oder mittels der Analogieformen
des § 7 ABGB gebildet), sind die dort geforderten Tatbestandselemente
aufzulisten und auf Übereinstimmung mit dem konkreten Sachverhalt
zu überprüfen. Die Reihenfolge richtet sich nach logischen Konsequenzen
und Zweckmäßigkeit. – Hier ist es von Bedeutung, gut zu argumentieren
und das jeweilige Teilergebnis angemessen zu begründen. | Tatbestandselemente auflisten |
Ist ein Amtshaftungsanspruch zu
beurteilen, sind primär die Tatsbestandselemente des § 1 AHG zu
prüfen: – Hat das Organ eines dort genannten Rechtsträgers den
Schaden zugefügt?; handelte das Organ „in Vollziehung der Gesetze”?;
– war das Organverhalten „rechtswidrig” und „schuldhaft”?;
– und schließlich: Welchen „Schaden” hat der Kläger
erlitten? Darüber hinaus ist auf weitere Besonderheiten nach dem
AHG zu achten; etwa: Zuständigkeit, Aufforderungsverfahren, Verurteilung
in Geld. | |
Klärung der Klagslegitimation/en,
also von Aktiv- und Passivlegitimation/en. Grundkenntnisse des Verfahrensrechts
(ZGV) sind daher auch für alle materiellrechtlichen Prüfungen ratsam → KAPITEL 19: Das
Verfahren erster Instanz. | Klagslegitimation |
Versuch einer Subsumtion des
konkreten Sachverhalts unter den ausgewählten (gesetzlichen) Tatbestand.
Die Tatbestandselemente des Gesetzes bieten ein (mehr oder weniger)
klares Prüfungsprogramm und helfen Irrwege zu vermeiden. Hier ist
aber bereits zu argumentieren und zu begründen, wobei auf eine klare
und einfache Gedankenführung zu achten ist. | Subsumtion |
Fragen der Beweislast sind
stets sorgfältig zu prüfen! Sie sind idR verfahrensentscheidend!
– Auch in der Praxis muss sich der Richter klar werden, wen, wofür
die Beweislast trifft. Erst dann kann er das Beweisverfahren korrekt
durchführen. | Beweislast |
Dabei ist neben der Grundregel, dass jede Partei
die für sich günstigeren Umstände zu beweisen hat, darauf zu achten,
ob § 1296 oder § 1298 ABGB oder eine gesetzliche oder von der Rspr
entwickelte Sonderregel zur Anwendung gelangt; etwa die in den §§
1319 und 1320 ABGB statuierte gesetzliche oder die von der Rspr
entwikkelte Beweislastumkehr bei Schutzgesetzverletzung zum Tragen
kommt. | |
Bei Ansprüchen
mehrerer Personen gegeneinander ist zu fragen: Hängen die
Ansprüche voneinander ab? Wie ist die rechtliche Beziehung zueinander?
Dann sollten diese Ansprüche in logischer Reihenfolge geprüft werden. | Ansprüche mehrerer Personen |
Nützlich ist es, sich wiederholt während der Fallbearbeitung
– gleichsam probehalber – zu fragen, weshalb eine bestimmte
Frage untersucht wird und welche Konsequenzen eine
Antwort in der einen oder anderen Richtung hätte. | |
Im Rahmen der Fallbearbeitung
sind alle Anspruchsgrundlagen zu prüfen, die ernsthaft in Betracht
kommen, aber nur diese; Topik. Dabei sollte eine gewisse Reihenfolge
unter Berücksichtigung folgender Grundsätze eingehalten werden: | Grobschema beim Suchen und Behandeln
von Anspruchsgrundlagen |
• Allfällige Vorfragen sind
zuerst zu erörtern; | |
•
Ansprüche aus Vertrag (zB Kauf-
oder Behandlungsvertrag) und aus vertragsähnlichen Beziehungen
(zB cic) sind vor allfälligen deliktischen Ansprüchen
zu behandeln; | |
•
sachenrechtliche Fragestellungen
und Ansprüche sollten vor schuldrechtlichen geklärt
werden; | |
• ein Heranziehen subsidiärer Auffangtatbestände (etwa:
Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung / Kondiktionen, GoA
oder W/StdGG) – kann nur das Ergebnis sorgfältiger vorangegangener
Recherche sein, die zum Ergebnis geführt hat, dass keine primäre
Anspruchsgrundlage (bspw Gewährleistung, Irrtum oder Schadenersatz) zur
Lösung heranzuziehen ist; vgl die Ausführungen in → KAPITEL 5: Auffangtatbestände. | |
• Allfällige Anspruchsgrundlagen aus
Spezialgesetzen (leges speciales), die weitere Untersuchungen
erübrigen können, sind zuerst zu prüfen; zB WEG, BTVG oder EKHG,
AHG, ASVG. | |
• Es empfiehlt sich, einen Fall, der zB durch
das Personenrecht, Sachenrecht und das Schuldrecht führt, entsprechend dem
systematischen Aufbau des Gesetzes zu analysieren; dh zuerst Fragen
des Personen- oder Familienrechts, dann des Sachenrechts und zuletzt
jene des Schuldrechts zu prüfen. – Natürlich ist idF darauf zu achten,
dass die einzelnen Ergebnisse nicht unvermittelt nebeneinander stehen
bleiben; sie sind – wenn erforderlich – aufeinander zu beziehen. | |
•
Im übrigen sollte möglichst jene Anspruchsgrundlage
zuerst geprüft werden, die die größte ”Durchschlagskraft” besitzt
und die geringsten Anforderungen an die Behauptungs- und Beweislast
stellt; zB Irrtum (§ 871 ABGB) vor Drohung / Täuschung (§ 870 ABGB)
oder W/StdGG | |
• Zu beachten bleibt, dass Anspruchskonkurrenz und Anspruchskumulierung möglich
sind. | |
•
Kann ein Anspruch nicht unmittelbar auf das Gesetz
gestützt werden (weil zB eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt),
ist die Anspruchsgrundlage – unter Berücksichtigung der Interessenlage
– auf die Lückenschließungsregeln des § 7 ABGB (Gesetzes- und Rechtsanalogie,
natürliche Rechtsgrundsätze) zu stützen. | |
• Abschließend ist zu prüfen, ob die gestellten Fragen
beantwortet wurden. Zudem ist das Ergebnis kurz
und klar zusammenzufassen und zwar in der Reihenfolge
der Fragestellung. – Das gewonnene Ergebnis sollte auch im Hinblick
auf seine Schlüssigkeit und Plausibilität nochmals überdacht werden. | |
• Zu beachten bleibt, dass die Falllösung ein interpretativer
Gesamtakt ist, dessen Teilschritte stimmig sein müssen.
– Dabei können die §§ 6 und 7 sowie 914 und 915 ABGB hilfreich sein. | |
 | Abbildung 11.7: Rechtsanwendung |
|
C. Auslegung von
Gesetzen und Rechtsgeschäften |
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I. Allgemeines
zur Auslegung | |
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Das menschliche Auslegen und Deuten war historisch
zunächst nicht ein solches von Schrift und Text, sondern ein religiös-zeremoniell-rituelles
Deuten durch Älteste, Priester, Auguren und Politiker im Rahmen
religiöser und/oder politischer Handlungen, inbesondere von Opfern;
Vogelflug, Eingeweideschau von Tieren etc. Da aber die Priester
und Auguren bspw in Rom lange auch die frühen Hüter des Rechts waren,
brachten sie ihr vorrechtliches Wissen in die Anwendung des zunächst
noch ungeschriebenen Rechts und in der Folge in die von ihnen gemachten
(Rechts)Aufzeichnungen ein. In Rom lösen sich Priestertum / Religion
und Rechtsanwendung erst allmählich mit dem XII-Tafelgesetz voneinander.
– Im alten Griechenland erfolgte dieser Schritt dagegen wesentlich
früher, nämlich schon in den Reformen Drakons und Solons, ja bereits
mit der Einsetzung von Archonten in der ersten Hälfte des 7. Jhds
v. C. Nahezu alles Methodische stammt aus Griechenland; vgl die
einleitende Übersicht zu diesem Kapitel. | Auslegen
und Deuten |
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Juristen legen Gesetze, Urteile, Bescheide,
Verträge, Willenserklärungen oder ein bestimmtes Verhalten aus.
Theologen die Bibel, Germanisten zB ein (Goethe)Gedicht, ein Dirigent
oder Musikwissenschaftler eine Mozartpartitur, Statistiker, Meinungsforscher
oder Politologen eine empirische Erhebung oder Wahl, Psychoanalytiker
Träume. – Auslegung, Interpretation, Hermeneutik – iS eines optimalen
Verstehens von Vorgegebenem – ist also nicht nur eine juristische Tätigkeit. | Nicht
nur Juristen
interpretieren |
Auslegung will das Verstehen von Texten
und Äußerungen etc und damit das Erfassen von Sinnzusammenhängen fördern,
um daraus menschliche und gesellschaftliche Handlungszusammenhänge
werden zu lassen. | |
Seit alters her wird die rechtliche
Auslegung als Kunst verstanden.
Wie andere Künste, nährt sich auch die Jurisprudenz nicht nur aus
trockener Verstandeskraft, sondern setzt immer wieder auch auf das
natürliche
Rechtsgefühl und
die Phantasie, baut also nicht nur auf rationale Stringenz, Konsequenz
und Härte, sondern auch auf Praktikabilität, Milde, Nachsicht, Menschlichkeit
und Verständnis: Epieikeia (Griechenland) / aequitas (Rom) / Billigkeit
oder equity (Europa/USA) benennen dies zeitlich sukzessiv auch sprachlich.
Dies deshalb, weil nur diese Mischung, Frieden und Akzeptanz getroffener
Entscheidung her- und sicherzustellen vermag. Das alte Leitbild
des weisen Richters und Urteilsspruchs betont diese Orientierung;
vgl dazu schon manche Stelle des Alten Testaments (Salomo!) oder
bei Platon („Politeía”). Die Griechen orientierten sich dabei früh an
der Vorstellung der „Mitte”, dem Méson, das aber nicht rein mathematisch
(miss)verstanden werden darf; Solon, Platon, Aristoteles. Diese
alte Einsicht wird dann im römischrechtlichen Satz (Ulpian) des
„ius est ars aequi et boni” angesprochen, der ebenfalls griechischen
Ursprungs ist. | Auslegung
als Kunst – Rechtsgefühl |
Das Beispiel psychoanalytischer Traumdeutung
und -auslegung lehrt uns etwas auch für die juristische Interpretation
Wichtiges: S. Freud unterscheidet in seiner Traumdeutungslehre zwischen manifestem (=
das, was der Traum real zeigt und ausdrückt) und latentem
Trauminhalt (= wie das Gezeigte, das oft „verschlüsselt”
wird, zu verstehen ist). Diese Unterscheidung wurde in der Folge
von der Philosophie und anderen wissenschaftlichen Disziplinen übernommen;
zB von Theodor W. Adorno. – Auch Juristen/innen benötigen die Fähigkeit
„zwischen” den Zeilen lesen und über den Text hinausgehend mitschwingendes
Vorverständnis und mitunter sogar Vorurteile erkennen und vermeiden
zu können, um Gesetzesmaterialien oder Urteile udgl „ganz“ zu verstehen.
Die Inhalts- oder Judikaturanalyse wendet diese Einsichten methodisch
an. | Manifeste
und
latente Inhalte |
 | |
Wie wird die juristische Auslegung umschrieben? | Juristische
Auslegung |
Celsus,
D. 1, 3, 17: „Scire leges non est verba eorum tenere, sed vim ac
potestatem.” | |
Konstitution der Kaiser Valerian
und Gallienus aus dem Jahre 259: „In Kontrakten muss man mehr auf
die Wahrheit der Sache, als auf das Niedergeschriebene sehen.” | |
Für C. F. v.
Savigny (1779-1861) ist juristische Auslegung ein „wissenschaftliches
Geschäft, Anfang und Grundlage der Rechtswissenschaft”, aber auch
„Kunst”, die sich deshalb „nicht durch Regeln mitteilen oder erwerben”
lässt. Savigny will das Gesetz „in seiner Wahrheit erkennen”; System
des heutigen Römischen Rechts, Bd I 206 (1840). | |
Pfaff
/ Hofmann: „Sie ist Kunst, nicht Kunde – nicht ein Wissen, sondern
ein Können.” | |
Karl Wolff: „Die
Erforschung des Sinns der Gesetzessätze heißt Auslegung”; in: Klang
I2 85. | |
Franz Gschnitzer:
„Auslegen heißt den Sinn eines Verhaltens, vor allem einer Erklärung,
ermitteln”; AllgT1 26. | |
2. Methode
als „Wegweiser“ und „Nach-Weg“ | |
Der
Aufgabenbereich juristischer Methode ist danach ein zweifacher: | |
• Einerseits soll sie
dem Rechtsanwender den Weg zu einer richtigen /korrekten
– oder wie die Griechen dies nannten, zu einer „geraden“ (und nicht
krummen) iSv gerechten – Entscheidung weisen; | |
• zum anderen aber auch von ihr Betroffene oder
auch nur Leser in die Lage versetzen, ihr Ergebnis und
ihre Argumentation, ihre juristische und logische Korrektheit und
Schlüssigkeit rational nachzuvollziehen, also verstehen
zu können. Sie sollen im Stande sein, den Weg, der zur Entscheidung
geführt hat, nach-zugehen. Das gelingt nicht immer, und hier wäre
generell grössere Einfachheit, Klarheit und Kürze zu fordern. Das
ist zugegebenermassen schwieriger, als sich hinter sprachlichen
und disziplinären Unverständlichkeiten zu verstecken. | |
Die Aufgaben juristischer Methode sind demnach unterschiedlicher
Art. Die wesentlichen Aspekte methodischen Verstehens sollen hier
kurz behandelt werden: | |
Methode heißt
im Griechischen Nach-Weg oder Nach-Gehen,
womit ein wichtiges Ziel methodischen Vorgehens klargelegt wird;
nämlich, dass sich – wie erwähnt – der Weg von der getroffenen Entscheidung,
zB einem richterlichen Urteil, von einem späteren Betrachter zurückverfolgen
lässt, hin zu seinem logischen, rationalen, juristischen Ausgangspunkt,
womit Willkür und Unkorrektheit des oder der Entscheidenden – möglichst
– ausgeschlossen werden sollen. Das ist jedenfalls der Anspruch jeder
Methode, auch der juristischen. Natürlich wird er nicht immer und
vor allem nicht immer voll eingelöst. Aber es gilt gute Annäherungswerte
an dieses Ziel zu erreichen. Solches Bemühen zeichnet die Wissenschaften
allgemein – und nicht nur die Jurisprudenz – seit jeher aus. | Nach-Weg |
Ernst Bloch meinte in seiner „Tübinger Einleitung zur Philosophie”: | |
„Methode haben heißt, mit dem Weg der Sache
gehen. …” | |
Das ist so zu verstehen,
dass die Methodenwahl vom zu lösenden Problem her
und nicht etwa vom eigenen Vorverständnis verstanden und getroffen
werden muß. – Die juristische Methode ist aber keine Ware von der
Stange, sondern Maßanfertigung (im Einzelfall). – Es wäre auch ein
Irrtum zu meinen, die Anwendung juristischer Methoden würde stets
die Lösung bis in alle Details vorgeben. Deshalb sollte als Faustregel
bedacht werden, daß auch die Anwendung juristischer Methoden nicht
mehr zu leisten vermag, als die Richtung zu weisen, in der die Lösung
zu suchen ist; Wegweiser- und Orientierungsfunktion juristischer
Methode. | Methodenwahl |
Zu beachten ist ferner, dass Methoden, auch die juristische,
Gefahr laufen, zu mechanischer Anwendung, zu standardisierten Abläufen
zu verkümmern, womit aber jede Methode ihre Leistungsfähigkeit und
Spannkraft verliert. – Denn es besteht immer wieder die Gefahr /
Versuchung, Methode nur zur Sicherung des eigenen (subjektiven)
Urteils zu missbrauchen. | |
| |
Die Regeln der §§
6, 7 ABGB, die von der Gesetzesauslegung handeln, galten bis zur
III. Teilnovelle / TN (1916) auch für die Auslegung von Rechtsgeschäften
und Verträgen. § 914 ABGB nF wurde erst durch die III. TN eingefügt;
vgl den Text des § 914 ABGB aF → Die
„Stufen“ des § 914 ABGB
| |
Andere
Rechtsordnungen, etwa das dtBGB, kennen nur Regeln über die Auslegung
von Willenserklärungen, nicht wie das ABGB auch Vorschriften über
die Auslegung von Gesetzen. Zur Auslegung von Verträgen nach Treu
und Glauben vgl aber die §§ 157 und 242 dtBGB → Treu
und Glauben
| |
Gewisse
Besonderheiten gelten für die Auslegung der Verfügungen von Todes
wegen (Erbrecht), obwohl es sich auch hier um Rechtsgeschäfte
(Testament, Erbvertrag) handelt. Oberstes Auslegungsziel ist hier
die Erforschung und Respektierung des Erblasserwillens. – Ähnliches
gilt nach der ersten Unklarheitenregel des § 915 ABGB für unentgeltliche
Geschäfte. | Erbrecht |
Vgl § 655 ABGB (Allgemeine Auslegungsregel bei
Vermächtnissen): „Worte werden auch bei Vermächtnissen in ihrer
gewöhnlichen Bedeutung genommen; es müsste denn bewiesen werden,
dass der Erblasser mit gewissen Ausdrücken einen ihm eigenen besondern
Sinn zu verbinden gewohnt gewesen ist; oder, dass das Vermächtnis
sonst ohne Wirkung wäre.” – Der Willensgrundsatz gilt aber nach
hA nicht nur für Vermächtnisse. | |
Für die Gesetzesauslegung ieS (§ 6 ABGB)
und die Lückenschließung nach § 7 ABGB ist ebenso wie für die Auslegung
von Verträgen und Rechtsgeschäften nach den §§ 914, 915 ABGB zu beachten,
dass nach hA die im Verfassungsrecht, inbesondere in den Grundrechten,
niedergelegten Wert(halt)ungen auf das Privatrecht mittelbar – dh
über Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe wie § 16 und
§ 879 ABGB – einwirken und im Rahmen der Gesetzes- und Vertragsauslegung
und der Lückenschließung zu beachten sind; dazu → §
7 ABGB: Die Lückenschließung
| Einwirkung
der Grundrechte |
Sowohl
die Gesetzesauslegung, als auch die Auslegung von Rechtsgeschäften
/ Verträgen gehört zur sog rechtlichen Beurteilung,
ein Begriff der im Verfahrensrecht (genauer: im
Rechtsmittelverfahren → KAPITEL 19: Das
Rechtsmittelverfahren)
von Bedeutung ist. Die Richtigkeit der vorgenommenen Auslegung unterliegt
daher im Rechtsmittelverfahren als rechtliche Beurteilung der Überprüfung durch
das Berufungs- oder Revisionsgericht, während das für den Bereich
der Tatsachen- oder Sachverhaltsfeststellung nicht gilt! | Verfahrensrecht |
4. Legistische
Qualität und Auslegung | |
Gute
Gesetze mindern den Auslegungsaufwand, schlechte vermehren ihn.
Gute Gesetze sparen Zeit und Geld und erhöhen den wichtigen Rechtswert: Rechtssicherheit.
– Gehaltvolle Legistik, mitunter – vor allem früher – auch als Kunst
der Gesetzgebung bezeichnet, sollte daher eine Selbstverständlichkeit
sein. Leider überwiegen die negativen Beispiele. | Rechtssicherheit |
Gute Gesetze sind
in klarer und einfacher Sprache abgefasst, kein Fachkauderwelsch.
– Aber wem ist heute noch die Rechtssprache ein
Anliegen? | Rechtssprache |
 | |
5. Auslegung im
öffentlichen Recht | |
Auch das öffentliche Recht ist auf
die Auslegung von Normen angewiesen. Da es kaum eigene gesetzliche
Auslegungsregeln kennt, wird immer wieder auf das ABGB zurückgegriffen.
Die „Reine Rechtslehre“ hat versucht, den Auslegungskanon des öffentlichen
Rechts einzuschränken. Das ist misslungen. – Auch das öffentlichrechtliche
Recht kennt aber judikativ-gewohnheitsrechtlich verfestigte Auslegungsregeln:
Etwa das Steuerrecht den Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise und
der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit spielt immer
wieder bei der Auslegung öffentlichrechtlicher Normen eine Rolle;
vgl etwa VwGH, ÖJZ 1999 Nr 94, S. 395: § 40 Abs 1 und 4 SPG: Personendurchsuchung
– Notwendigkeit des Entkleidens – Verhältnismäßigkeit. Im Verfassungsrecht
gilt die sog Versteinerungstheorie. | Judikative
Auslegungsregeln |
 | |
II. Gesetzesauslegung:
§§ 6, 7 ABGB | |
1. Gesetzesauslegung
ieS und iwS | |
Das ABGB regelt die
Gesetzesauslegung iwS in den §§ 6 und 7 ABGB; iwS insofern, als
§ 7 ABGB eigentlich keine Auslegungsregeln mehr enthält, sondern
Regeln der Lückenfüllung. Das Feststellen einer Lücke setzt aber
– immerhin – ein Auslegungsergebnis voraus. | |
Auszulegen sind in Gesetzen einzelne Worte, Sätze und
ihr Zusammenhang – also der Text, aber bspw auch
die Reichweite von Generalklauseln ( → Generalklausel)
und die darin verwendeten unbestimmten Gesetzes- oder Rechtsbegriffe wie:
– die guten Sitten (§ 879 ABGB → Gegen
die guten Sitten),
– schwere Eheverfehlung (§ 49 EheG), – berechtigte Sicherheitserwartungen
des durchschnittlichen Benützers (§ 5 PHG → KAPITEL 7: Produkthaftung
¿ PHG 1988),
– aus triftigen Gründen (§ 31e Abs 1 KSchG) oder – wichtiger Grund
iSd § 30 MRG uvam. | Was
ist auszulegen? |
Gerade die Interpretation eines
bürgerlichen Gesetzbuchs sollte sich weithin vom alltäglichen
Sprachgebrauch/ Wortverständnis leiten lassen. Das lehrt uns einerseits
eine bedachte und einfache Wortwahl in der Legistik und andrerseits,
dass die Wortinterpretation – als erster und wichtiger
Schritt der Auslegung – ernst zu nehmen ist. Goethes Faust-Verse
– „… legt ihr nicht aus, dann legt ihr unter” – sollten uns eine
Warnung sein. | |
| Auslegung von
Kollektivverträgen |
2. Beispiele
zur Gesetzesauslegung | |
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 | Abbildung 11.8: Gesetzesauslegung: § 6 ABGB |
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3. §
6 ABGB: Instrumente der Gesetzesauslegung | |
Zur
Schrittfolge der Auslegung: Auszugehen ist bei der Gesetzesauslegung,
die den maßgeblichen Sinn eines Rechtssatzes feststellen will, von
der | Schrittfolge |
•
Wortinterpretation,
die bei Bedarf zur | |
•
Satz-
und grammatikalisch-logischen Interpretation zu
erweitern ist. Dafür ordnet § 6 ABGB an, die ”klare Absicht
des Gesetzgebers” zu erforschen, womit auch die | |
•
historisch(-subjektive) Auslegung
(Was wollte der historische Gesetzgeber erreichen?), und die | |
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teleologisch-objektive Auslegung
(Was kann objektiv als Zweck einer Regelung angesehen werden?) angesprochen
werden; man nennt das auch Willens- oder Sinnesinterpretation iS eines
Erkennens der ratio legis. | |
• Die systematische Interpretation berücksichtigt
zusätzlich den Ort und die Lage einer Norm im Gesetz und im (Gesamt)System.
– Vgl das oben → Beispiele
zur Gesetzesauslegung erwähnte Beispiel der Konventionalstrafe. | |
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OGH 29. 5. 2000, 7 Ob 104/00w, SZ 73/89 = JBl 2000, 784:
OGH kommt durch systematische Interpretation zum Ergebnis, dass
die II. TN zum ABGB auch nach dem BundesrechtsbereinigungsG noch
gilt. | |
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All das offenbart eine gewisse Relativität methodischer
Schritte und das Erfordernis sorgfältiger historischer
Auslegung, was nicht damit zu vereinbaren ist, dass mit „Zeiller”
alles endet! | |
Das Ergebnis einer Auslegung kann auch darin bestehen, dass
der Gesetzestext korrigiert werden muss. Ein solches
Ergebnis bedarf aber sorgfältiger Prüfung! | |
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 | Abbildung 11.9: Mögliche Auslegungsschritte: § 6 ABGB |
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Die Auslegung
als interpretativer „Gesamtakt”: | Auslegung als „Gesamtakt” |
Die Auslegung ist ein „Gesamtakt”, womit gemeint ist, dass
häufig nicht nur ein einzelner isolierter Auslegungsschritt gesetzt
wird, sondern oft mehrere gleichzeitig – das heisst: neben- oder
nacheinander, die auch aufeinander bezogen sein müssen. Etwa: Wortinterpretation
+ grammatikalische + historische + systematische + teleologische
Auslegung, allenfalls kombiniert mit Analogie. | |
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JBl 1991, 591 (§
6 ABGB, § 22 UVG): Die Gesetzesauslegung darf bei der Wortinterpretation
nicht stehen bleiben. Der übliche normale Wortsinn ist nur ein Hinweis
für die Auslegung der Norm, nicht mehr; erst der äußerst mögliche
Wortsinn steckt die Grenze jeglicher Auslegung ab, welche auch mit
den sonstigen Interpretationsmethoden nicht überschritten werden
darf. – Dadurch, dass das Kind wegen gutgläubigen Verbrauchs der Unterhaltsvorschüsse gemäß
§ 22 Abs 1 UVG nicht zum Ersatz herangezogen werden kann, ist die
subsidiäre Haftung des gesetzlichen Vertreters oder der Pflegeperson
nicht ausgeschlossen. | |
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Zur Korrektur
des § 1325 ABGB durch den OGH in SZ 69/217
→ KAPITEL 9: Schmerzen(s)geld:
Hier korrigiert das Höchstgericht den Gesetzestext contra legem,
worin wohl auch die Annahme einer materiellen Derogation des ABGB
durch das EKHG steckt. | |
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§ 10 ABGB (Gewohnheitsrecht) wird extensiv oder
vielleicht sogar berichtigend interpretiert → Das
Gewohnheitsrecht
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 | Abbildung 11.10: Ergebnis der Auslegung: § 6 ABGB |
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4. §
7 ABGB: Die Lückenschließung | |
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Der Österreicher Eugen Ehrlich gilt als Begründer
und Galionsfigur der immer wieder missverstandenen „ Freirechtsschule”,
die keineswegs einer von gesetzlicher Bindung befreiten Rechtsanwendung
das Wort geredet hat. Kelsens Kritik ging an den Fakten vorbei und
übersieht – wie auch andere (insbesondere deutsche Kritiken) – dass
Ehrlichs Vorbild § 7 ABGB war. Vgl nunmehr → KAPITEL 18: Ehrlichs
Methodenkritik. | |
Findet
sich für einen Sachverhalt – nach eingehender Prüfung – kein passender
gesetzlicher Tatbestand, liegt (für den Rechtsanwender) eine Lücke vor.
– Weil der Rechtsanwender dennoch zu entscheiden hat, muss er in
der Lage sein, Regelungslücken zu schließen. Dazu verweist ihn der Gesetzgeber
in § 7 ABGB auf: | Regelungslücken |
•
Analogie und | | •
natürliche Rechtsgrundsätze, die somit – funktional – dem Schließen von Rechtslücken
dienen. | |
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Eine planwidrige
Regelungslücke wird dann angenommen, wenn die Regelung
eines Sachbereichs keine Bestimmung für eine Frage enthält, die
im gegebenen Zusammenhang an sich geregelt werden müsste; wenn also
das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht (ratio legis) und
seiner immanenten Zielsetzung (Teleologie), unvollständig und daher
ergänzungsbedürftig ist. Die Ergänzung darf dabei nicht einer vom
Gesetz gewollten Beschränkung widersprechen. Inbesondere rechtfertigt
die bloß andere Meinung eines Rechtsanwenders, eine andere Regelung
sei wünschenswert, noch nicht die Annahme einer Gesetzeslücke. | |
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Abgelehnt wurde
daher zB die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke in EvBl 1999/59:
Voraussetzungen für einen Pflegegeldbedarf
→ §
7 ABGB: Die Lückenschließung
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 | Abbildung 11.11: Analogie und natürliche Rechtsgrundsätze |
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Die Lückenschließung
unterscheidet zwischen echter (= Gesetzgeber hat einen Fall oder
eine Fallgruppe „vergessen”, also nicht bedacht) oder Regelungslücke
und unechter oder Wertungslücke; hier liegt zwar eine gesetzliche
Regelung vor, aber diese Regelung entspricht (nach Meinung des Rechtsanwenders
/ der Rechtspraxis) nicht mehr den Erfordernissen (der Zeit). Daher
wird in diesem letzten Fall auch von berichtigender Auslegung (durch
Analogie) gesprochen. | |
Im Strafrecht besteht
dagegen Analogieverbot, was heißt, dass allfällige
Regelungslücken nicht durch Analogie zum Nachteil eines Beschuldigten
/ Angeklagten geschlossen werden dürfen; vielmehr statuiert § 1
StGB den Grundsatz: Keine Strafe ohne Gesetz – nullum crimen
sine lege ! Dazu tritt der uralte, in Ansätzen schon im
antiken griechischen Recht (Aischylos) nachweisbare strafrechtliche
Grundsatz des in dubio pro reo / im Zweifel für
den Angeklagten. | Analogieverbot
des Strafrechts |
Das öffentliche Recht verhält sich der
Analogie gegenüber zurückhaltender als das Privatrecht, ohne so
weit zu gehen wie das Strafrecht; vgl Art 18 B-VG (Legalitätsprinzip).
– Aber auch das öffentliche Recht kommt ohne Lückenfüllung und insbesondere
Analogie nicht aus. | |
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Vgl etwa
die Beispiele zur Anwendung der Rechtsfigur der cic im öffentlichen
Recht
→ KAPITEL 6: Ausdehnung
auf Verkehrssicherungspflichten. | |
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Auch im Verfahrensrecht (das
zum öffentlichen Recht zählt) kommt es immer wieder zu Analogien;
vgl EvBl 1999/70:
§ 70 GBG – Klagsanmerkung kraft Analogie. Für das Verwaltungsstrafrecht
(VStG) gilt allerdings ebenfalls das Analogieverbot. | |
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OGH 14. 1. 2000, 1 Ob 315/99a, SZ 73/7 = JBl 2000, 734: Anwaltshonorar im
UVS- Verfahren wird analog TP 3 B RATG (Gesetzesanalogie) für das
Verfahren vor den Gerichten erster Instanz festgelegt. | |
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OGH 9. 3. 2000, 8 Ob 255/99d, SZ 73/45 = JBl 2000, 671:
Die Manifestationsklage des Art 52 EGZPO ist auch
auf das eheliche Aufteilungsverfahren analog anzuwenden; allerdings
nur die Verpflichtung zur Offenlegung des Vermögens, nicht aber
die Rechnungslegung (Teilanalogie). | |
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In
JBl 2000, 179 lehnt es der OGH bspw ab, die konstatierte Rechtsschutzlücke selbst
zu schließen und verweist auf den Gesetzgeber. Es ging um eine inhaltlich
fragwürdige – hoheitlich eingestufte (?) – Warnung der Dokumentations-
und Informationsstelle für Sektenfragen vor der Sri Chinmoy-Bewegung.
Da das AHG anzuwenden war, und dieses weder Unterlassungs- noch
Widerrufsansprüche kennt, sah sich der OGH nicht in der Lage, einen
Analogieschluss zu § 1330 Abs 2 ABGB etc zu ziehen oder gar auf
die natürlichen Rechtsgrundsätze zurückzugreifen. (?) – Das lehrt
uns, wie ein Höchstgericht – als Rspr-Souverän – eine sinnvolle
und nötige Lückenschließung verweigern kann. ME liegt darin ein
grundrechtswidriger Verstoß gegen die Religionsfreiheit und ein
derartiges Verständnis grenzt an Rechtsverweigerung, weil damit
herkömmlichen, staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften alles,
anderen dagegen nichts gestattet wird. Der OGH hat sich in dieser
E auf eine rechtsstaatlich fragwürdige Weise aus der Affäre gezogen. | Rechtsschutzlücke |
| Lückenfüllung
durch Generalklauseln etc |
§ 7 ABGB dient
als Ganzer der Lückenschließung (in Bezug auf die
bestehende Rechtslage) und sieht dafür drei Analogiestufen vor,
denn auch die natürlichen Rechtsgrundsätze sind eine Form der Analogie.
– Die Analogie, der
Ähnlichkeitsschluss, in ihren Erscheinungsformen: | |
•
der Gesetzes-
/ Rechtssatz- oder Einzel(fall)analogie und | |
•
der Rechts-
Gesamtanalogie, wozu | |
• als „weiteste” Analogieform das Heranziehen
der „natürlichen Rechtsgrundsätze” tritt. | |
Bei der Rechts- oder Gesamtanalogie wird
nicht nur – wie bei der Gesetzes- oder Einzelfallanalogie – ein
einzelner konkreter Rechtssatz als Analogiebasis herangezogen, sondern
mehrere Rechtssätze, also mehrere Paragraphen. Aus diesen (mehreren)
Rechtssätzen wird – weil sie einen rechtsähnlichen Grundgedanken
enthalten – ein neuer Tatbestand (samt Rechtsfolge) gebildet, dem dann
der zu entscheidende Sachverhalt unterstellt werden kann; Paradebeispiele:
cic und W/StdGG, aber auch die sog Analogiepraxis im Bereich der
Gefährdungshaftung, mag dieses Feld, für das der OGH zurecht Lorbeeren
sammeln konnte, mittlerweile versintert sein. | Rechts- oder
Gesamtanalogie |
Was
dient als Analogiebasis ? – Als Quelle der Analogie,
aus deren Substrat eine privatrechtliche Lücke geschlossen werden
soll, dient nicht nur das ABGB oder das Privatrecht, sondern auch
das weite Feld des öffentlichen Rechts, mithin die gesamte Rechtsordnung;
und uU auch fremde Rechtsordnungen (vgl SZ 26/67) und überhaupt
das entwickelte menschliche Rechtsdenken. Letzteres trifft vornehmlich
auf die natürlichen Rechtsgrundsätze zu. | Analogiebasis |
Vgl etwa neben JBl 1953, 267 ( → §
7 ABGB: Die Lückenschließung:
LandesjagdG), auch EvBl 1999/137: In Bezug auf die Verwertung (nach §
1425 ABGB) hinterlegter Gegenstände zieht die Rspr rechtsanalog
§ 377 StPO und § 90 Abs 2 FinStrG heran. Das Handelsrecht bleibt
dagegen ausgespart (?). | |
Eine Unterform der
Analogie ist die „entsprechende” oder „sinngemäße (Rechts)Anwendung” bestehender
Normen. – Hier besteht im Vergleich zur Analogie ein etwas größerer
„Bewegungsspielraum” des Rechtsanwenders, inbesondere auch im Hinblick
auf die Rechtsfolgen. Diese Form der „lockeren” Analogie wählt der
Gesetzgeber mit der Formulierung: „§ ... ist entsprechend / sinngemäß
anzuwenden.” – Ein Unterschied zur „normalen” Analogie liegt auch
darin, dass sich hier der Gesetzgeber selbst des Lückenfüllungsinstruments
Analogie bedient und nicht wie in § 7 ABGB der Rechtsanwender /
Richter. | „entsprechende”
oder „sinngemäße (Rechts)Anwendung” |
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OGH 13.1. 2000, 2 Ob 336/99h, SZ 73/4 = JBl 2000, 530:
Zahlt eine Rechtsanwaltskammer dem Kind eines getöteten Mitglieds
auf Grund der Satzung ihrer Versorgungseinrichtung eine Waisenrente,
so geht der Anspruch des Kindes gegen den Schädiger in entsprechender
Anwendung (§ 7 ABGB) gesetzlicher Legalzessionsnormen (§
1358 ABGB) auf sie über. – Analogie im öffentlichen
Recht. | |
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Zum Heranziehen der natürlichen
Rechtsgrundsätze kommt es erst dann, wenn eine vorliegende
(Gesetzes)Lücke auch nicht durch Gesetzes- oder Rechtsanalogie geschlossen
werden kann. Die Anwendung der natürlichen Rechtsgrundsätze ist
also der Gesetzes- und Rechtsanalogie nachgeschaltet und stellt
den letzten Schritt der Lückenfüllung dar. Die Grenzen zur Rechtsanalogie
sind allerdings fließend. – Während der Rechtsanwender in den beiden
ersten Formen der Analogie noch etwas stärker an der gesetzlichen
„Leine” hängt, führen die natürlichen Rechtsgrundsätze zu noch freierer,
wenngleich immer noch nicht willkürlicher Rechtsfindung; zu Art
1 SchwZGB, Art 12 EG itCC sowie Art 4 frCC → §
7 ABGB: Die Lückenschließung Die
auf Karl Anton von Martini zurückgehenden natürlichen Rechtsgrundsätze
stellen eine – auf die gesamte Rechtsordnung, ja darüber hinaus
(auf das Naturrecht iSd Rechts aller Kulturstaaten) erweiterte –
Form der Analogie dar! Es geht hier um rechtliche Kulturstandards! | Natürliche
Rechtsgrundsätze |
Die
Analogieformen des § 7 ABGB unterscheiden sich dadurch, dass sich
der Analogiefilter ( → KAPITEL 11: Öffnen des Analogiefilters) iS eines normativen Wertbezugsrahmens
immer weiter öffnet und bei den natürlichen Rechtsgrundsätzen auch
die Grenzen des nationalen Rechts hinter sich lässt. – Der (Rechts)Positivismus
hat dem nichts entgegenzusetzen. Martinis § 7 ABGB, für Zeiller
bloß ein „nothwendiges Übel”, stellt ein Weltmonument menschlichen
Rechtsdenkens dar, das in der antiken griechischen Rechtskultur
ebenso wurzelt wie in preußisch-legistischer Vorleistung. | § 7 ABGB: Weltmonument |
Das
bahnbrechende Konzept der §§ 6, 7 ABGB geht – wie erwähnt – auf
Karl Anton von Martini zurück. Martini ist auch der Schöpfer der
in § 7 – weltweit! – erstmals verwirklichten „freieren” richterlichen
Lückenfüllung. Frühere Entwürfe und auch noch das ALR (Einleitung
§§ 47-51) hatten vorgesehen, dass im Falle von Zweifeln und Lücken der
Richter sich an den Monarchen oder eine Kommission zu wenden habe;
§ 49 der Einleitung ins ALR hat aber unseren § 7 ABGB (in seinem
sonstigen Gehalt) teilweise vorweggenommen. Zum frCC gleich unten. | |
Martinis Entwurf I 1 § 12 aus dem Jahre
1796 lautet: „Findet der Richter einen Rechtsfall durch die Worte
des Gesetzes nicht entschieden, so muss er auf den erklärten Sinn
desselben, auf Gründe eines andern damit verwandten Gesetzes, auf
ähnliche Fälle, die im Gesetze bestimmt entschieden sind, Rücksicht
nehmen, und darnach sein Urteil fällen; bleibt ihm noch ein Zweifel
übrig, so hat er denselben mit Hinsicht auf die sorgfältig gesammelten
und erwogenen Sachumstände nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen
aufzulösen.” | |
Art 4 frCode Civil:
„Le juge qui refusera de juger, sous prétexte du silence, de l’obscurité
ou de l’insuffisance de la loi, pourra etre poursuivi comme coupable
de déni de justice.“ | Zur Lückenschließung in anderen
Privatrechtsordnungen |
Übersetzung: Ein Richter, der es ablehnt
zu entscheiden, unter Hinweis auf eine Gesetzeslücke, eine Unklarheit
oder eine Unzulänglichkeit des Gesetzes, macht sich einer Rechtsverweigerung
schuldig und kann deswegen verfolgt werden. | |
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Art 1 Schweizer ZGB: (1)
„Das Gesetz findet auf alle Rechtsfragen Anwendung, für die es nach
Wortlaut oder Auslegung eine Bestimmung enthält.“ | |
(2)
„Kann dem Gesetze keine Vorschrift entnommen werden, so soll der
Richter nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach
der Regel entscheiden, die er als Gesetzgeber aufstellen würde.“ | |
(3) „Er folgt dabei bewährter Lehre und Überlieferung.“ | |
•
Art 12 des
EG zum itCC: „(Auslegung des Gesetzes) Dem Gesetz darf
bei seiner Anwendung kein anderer Sinn als der beigelegt werden,
der sich aus der eigenen Bedeutung der Worte in ihrem Zusammenhang
und aus der Absicht des Gesetzgebers ergibt (1362 ff itCC). | |
Kann ein Streitfall nicht auf Grund einer bestimmten Vorschrift
entschieden werden, so ist auf jene Vorschriften Rücksicht zu nehmen,
die ähnliche Fälle oder verwandte Sachbereiche regeln; bleibt der
Fall immer noch zweifelhaft, so ist nach den allgemeinen Grundsätzen
der staatlichen Rechtsordnung zu entscheiden.“ | |
 | Abbildung 11.12: Öffnen des Analogiefilters |
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Den
natürlichen Rechtsgrundsätzen des § 7 ABGB entsprechen die in Abs
1 des KdmPat
zum ABGB genannten
„allgemeinen Grundsätze der Gerechtigkeit „. Darin
liegt die gesetzliche Ermächtigung des Gesetzgebers an den Rechtsanwender,
an seiner Stelle Recht zu setzen, wenn auch nicht generell, so doch
im Einzelfall. Der Rechtsanwender hat sich dabei in die „Rolle”
– dh die Norm- und Wertwelt – des Gesetzgebers zu versetzen (ein
wichtiger Unterschied zur Schweiz!) und so zu entscheiden, wie dieser
vermutlich entscheiden würde. | „Allgemeine Grundsätze der Gerechtigkeit” |
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Interessant
in diesem Zusammenhang JBl 1999, 390:
Unter den „Grundsätzen der österreichischen Rechtsordnung”
iSd § 595 Abs 1 Z 6 ZPO (Aufhebung eines Schiedsspruches: „…mit
den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar
…”) werden die tragenden Grundsätze der Bundesverfassung, des Straf-,
Privat- und Prozessrechts, aber auch des öffentlichen Rechts verstanden. | |
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Zur analogen
Anwendung des § 970 ABGB (Gastwirtehaftung) auf größere Privatzimmervermieter: SZ 51/158 (1978)
→ KAPITEL 3: Unscharfe
Regelungsränder. | |
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§ 1319 ABGB wird analog
auf Bäume angewandt; zB Baum stürzt um oder morscher
Ast bricht ab und verletzt Passanten; vgl MietSlg 35.260 oder EvBl
1987/192 → KAPITEL 10: Haftung
für Bauwerke: § 1319 ABGB. | |
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Zur analogen
Anwendung des § 1318 ABGB (Haftung des Wohnungsinhabers) auf Waschmaschinen, Geschirrspüler,
Badewannen etc → KAPITEL 10: Haftung
des Wohnungsinhabers: § 1318 ABGB. | |
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§ 1319a
ABGB (Wegehalterhaftung) wird analog auf Baustellen angewandt, wofür
der Baumeister haftet → KAPITEL 10: Die
Wegehalterhaftung des § 1319a ABGB: ZVR 1998/24. | |
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Art 8 Nr 21 EVHGB
(Kein Rücktrittsrecht
des Verkäufers, wenn dieser dem Käufer die Ware übergeben und den
Kaufpreis kreditiert hat) wird analog im bürgerlichen Recht angewandt,
weil dort eine solche Regelung fehlt. – Umgekehrt gelangt § 919
ABGB (Fixgeschäft) analog im Handelsrecht zur Anwendung, weil dessen
§ 364 das Fixgeschäft noch zu umständlich (nämlich mit Rücktritt)
regelt. | |
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Die Risikohaftung
des Auftraggebers zugunsten des Auftragnehmers nach § 1014, 2. HalbS
ABGB wird analog auf Arbeitsverhältnisse, zugunsten von Arbeitnehmern,
angewandt → KAPITEL 12: Risikohaftung. | |
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§ 78 UrhG
trifft eine analogiefähige Regelung des Personenkreises, der postmortale
Persönlichkeitsverletzungen ahnden kann → KAPITEL 4: Sog
postmortale Persönlichkeitsrechte. | |
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§ 372 ABGB
(actio Publiciana) wird analog auf Vorbehaltskäufer und WE-Werber,
die die Wohnung bereits bezogen haben bis zur Verbücherung (zur
Verteidigung gegen Dritte) gewährt. | |
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JBl 1953, 267: OGH bejaht analoge
Anwendung eines LandesjagdG zur Rechtfertigung von bäuerlicher Selbsthilfe
gegen wildernde Hunde, was zeigt, dass die Lückenschließung durch
Analogie nicht nur die Grenze des Privatrechts überschreiten kann,
sondern auch die zwischen Bundes- und Landesrecht. | |
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RdW 1997/5, 285: OGH wendet die
Regelung der §§ 36 f AngG (Konkurrenzklausel für Angestellte) analog
auf Arbeiter an, wenn diese Spezialkenntnisse besitzen und/oder
Träger von Betriebsgeheimnissen sind. | |
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§ 19 Abs 2 EKHG (Kraftfahrzeughalter)
wird analog auf § 1320 ABGB (Tierhalterhaftung) angewandt, wodurch
auch ein Tierhalter für seine Gehilfen nach § 1313a ABGB und nicht
nur nach § 1315 ABGB einzustehen hat → KAPITEL 10: Wer
ist Tierhalter?. | |
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§ 14 Abs 2 GBG
(Höchstbetragshypothek) wird über die in dieser Gesetzesstelle geregelten
Fälle hinaus analog auf weitere Fälle ausgedehnt. Zur Möglichkeit
von Analogie bei taxativer Aufzählung (wie in § 14 Abs 2 GBG): Ablehnung
des lange vertretenen Grundsatzes, dass Ausnahmevorschriften eng
auszulegen sind – singularia non sunt extenda: SZ
69/159 (1996) mwH → KAPITEL 2: Ausnahmen
vom Spezialitätsgrundsatz. | |
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Zur Analogiebasis
der §§ 411-413 ABGB (alluvio und avulsio) auf Lawinenabgänge, Muren
oder Hangrutschungen → KAPITEL 2: Arten
des originären Eigentumserwerbs. | |
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OGH 17. 8. 2001, 1 Ob 83/01i, EvBl 2001/14:
Hausverwalter eines Mietwohnhauses klagt den Dritteleigentümer auf
Zahlung der von ihm vorgestreckten Auslagen, wogegen der Miteigentümer
Verjährung einwendet. – OGH wendet § 355 HGB (Kontokorrent) analog an,
obwohl eine Kaufmannseigenschaft des Hausverwalters nicht festgestellt
wurde. Ein solches „uneigentliches” Kontokorrentverhältnis kann auch
schlüssig zustande kommen. Die Verjährung beginnt in diesem Fall
erst mit Beendigung der Kontokorrentperiode. | |
- Ablehnend OGH 21.4.2005, 6 Ob 69/05y - Mobilfunkvertrag: OGH lehnt eine analoge Anwendung des § 15 Abs 1 KSchG auf freie Dienstverträge mangels Gesetzeslücke ab. – EvBl 2005/166 = JBl 2005, 735 ff
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Im Normalfall umfasst die Analogie Tatbestand
und (!) Rechtsfolge einer Norm. Die Rechtsanwendung kennt aber auch
eine bloße Rechtsfolgenanalogie; etwa im Bereich
des § 871 ABGB, wo die Rspr ausnahmsweise auch bei wesentlichem
Irrtum bloß eine Vertragskorrektur, also die Rechtsfolge des § 872
ABGB, analog zulässt → KAPITEL 5: Unwesentlicher
Irrtum; § 872 ABGB.
– Ähnliches wäre für das Rechtsinstitut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage
(W/StdGG) zu überlegen; vgl den Sachverhalt von JBl 1989, 381: Umsatzrückgang
einer Parkgarage durch Verkehrsbeschränkungen im Einzugsgebiet. | Rspr-Beispiele
für
Gesetzesanalogie |
Die
folgenden Beispiele zur Rechtsanalogie zeigen, dass dadurch auch
neue Rechtsinstitute geschaffen werden können: | Beispiele von
Rechtsanalogie |
• Die Praxis wendet
auf den Kreditvertrag nach Kreditzuzählung analog
das Darlehensrecht an → KAPITEL 3: Der
Kredit(eröffnungs)vertrag; | |
•
Entstehung des gesetzlich ungeregelten Rechtsinstituts
der cic
→ KAPITEL 6: Cic:
Geschöpf der Rechtsanalogie; gewonnen
aus den §§ 866, 874, 878 letzter Satz, § 932 Abs 1 letzter Satz
ABGB etc; | |
• gleiches gilt für die Entstehung des Rechtsinstituts
des W/StdGG
→ KAPITEL 5: Störung
oder Wegfall
der Geschäftsgrundlage; | |
•
und die sog Analogiepraxis zur gesetzlichen
Gefährdungshaftung für neue gefährliche Betriebe: Das ABGB
setzt für Schadenersatzansprüche grundsätzlich Verschulden voraus.
Eine ganze Reihe von schadenersatzrechtlichen Spezialvorschriften
(sog Gefährdungshaftung) statuiert aber eine verschuldensunabhängige
Haftung; zB für Kraftfahrzeuge, Eisenbahnen oder Flugzeuge. Der
OGH wandte in seiner Rspr mitunter den Gedanken der Gefährdungs-,
als Nicht-Verschuldenshaftung auch auf Fälle an, die bisher gesetzlich
noch nicht als gefährliche Betriebe anerkannt waren. Ausführlicher: → KAPITEL 9: Haftungsprinzipien –
Exkurs: Gefährdungshaftung. | |
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SZ 46/36:
Ausstellungszelt wird durch „Raketen” / Feuerwerkskörper beschädigt;
das „Abbrennen von Feuerwerken” wird kraft Ähnlichkeitsschlusses
als gefährlicher Betrieb angesehen; ähnlich SZ 31/26: Zirkuszelt
wird durch Rauchgase eines Magnesitwerks beschädigt. | |
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SZ 26/75: Unfall bei Sesselliftbenützung
– OGH wendet auf Sessellift die Haftungsregeln
für Eisenbahnen an; diese Rspr fand schließlich ins EKHG (§ 2 Abs
1) Eingang. Der Gesetzgeber fing die vorausgeeilte Rspr legislativ
wieder ein. | |
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Eine neue, bislang nicht erkannte, Möglichkeit
böten komplizierte medizinisch-technische Geräte und Verfahren,
wie: Computertomographie (CT), Endoskopie, Laparaskopie und -tomie, Telemedizin,
überhaupt Computer integrated Surgery (CiS) usw, aber auch Sachverhalte
aus dem Bereich der Umwelthaftung. | |
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SZ 26/67 (1953): Zur Begründung
einer abstrakten Rente ( → KAPITEL 9: Die
abstrakte Rente)
wird § 843 Abs 4 dtBGB als ein „den natürlichen Rechtsgrundsätzen
entsprechender Satz” betrachtet; Lückenfüllung durch ausländisches
Recht. | |
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Ausbildung einer allgemeinen Gegeneinrede
der Arglist gegen die Verjährungseinrede; zB wenn der Versicherer
(= Schuldner) Vergleichsverhandlungen (mit dem Versicherungsnehmer)
solange hinauszieht, bis die Verjährung eingetreten ist (Erwecken
berechtigten Vertrauens beim Versicherungsnehmer): so JBl 1967, 144. | |
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Zum sog Totenrecht:
Bestimmung der Bestattungsart und des Bestattungsortes: Vgl SZ 45/133 (1972) – verheirateter
Mann setzt Freundin als Universalerbin ein und begeht in der Folge
Selbstmord. Bestattungsanordnung erfolgt durch Freundin (nicht im
Familiengrab); Ehefrau will Mann später exhumieren und im Familiengrab
beisetzen lassen, was vom OGH uH auf die Totenruhe abgelehnt wird.
Die Begründung des OGH erscheint hier noch nicht ausgereift. Vgl
aber nunmehr JBl 2000, 110: Zur Totenfürsorge für die verunglückte
Tochter → KAPITEL 11: Beispiele
zur Anwendung der ¿natürlichen
Rechtsgrundsätze¿. Die Rechtsfindung beruht auf natürlichen
Rechtsgrundsätzen. – Zum Totenrecht: Gschnitzer, AllgT 2 75
und Bydlinski in Rummel 2 I § 7 Rz
13. | |
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Zur
Analogie werden als Sonderformen auch die sog Größenschlüsse gezählt.
Wir unterscheiden zwei Arten: | |
Das argumentum a minori ad maius ist der Schluss
vom Kleineren auf‘s Größere: Ordnet das Gesetz etwas als Rechtsfolge
schon für einen – dem Gesetzeszweck nach – weniger wichtigen Sachverhalt
an, muss diese Anordnung erst recht für wichtigere Fälle / Sachverhalte
gelten! | argumentum a minori
ad maius |
§ 523 ABGB
(nach Ehrenzweig, Sachenrecht) regelt sowohl die actio negatoria,
wie die actio confessoria. Diese Rechtsschutzinstrumente kommen
erst recht gegen den zur Anwendung, der sich ein Recht nur anmaßt
und nicht einmal behauptet berechtigt zu sein. | Beispiele |
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In EvBl 1964/292 (Hälfteeigentümer
lässt vom Hausschwamm befallenes Haus sanieren)
zieht der OGH – ohne dies auszudrücken – einen Größenschluss zu
§ 1097 ABGB: Wenn schon der Bestandnehmer vom Gesetz als Geschäftsführer
ohne Auftrag für wichtige Ausbesserungen / Reparaturen angesehen
wird, dann erst recht der Miteigentümer! | |
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EvBl 1999/70: Die Klage auf Einwilligung
in die bücherliche Einverleibung einer durch Grundstücksteilung
entstandenen offenkundigen Dienstbarkeit kann in
analoger Anwendung des § 70 GBGim Grundbuch angemerkt
werden. – „Kann nun eine Streitanmerkung gem § 70 GBG selbst im
Fall eines Klagebegehrens auf ‚Zuerkennung eines dinglichen Rechts’
wegen Ersitzung bewilligt werden, so führt ein Größenschluss als
Mittel der Analogiebildung ... zum Ergebnis, dass dieselbe Rechtsfolge
auch für den noch gewichtigeren Fall einer schon durch Grundstücksteilung
entstandenen offenkundigen Dienstbarkeit gelten muss ....” | |
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LG Salzburg 3. 8. 2000, 54 R 139/00f, JBl 2000, 801: Mutter
spielender Kinder züchtigt fremdes Kind. Art 2 EMRK, §§
16, 1325 ABGB und die Bestimmungen des StGB gewähren ein Persönlichkeitsrecht
auf körperliche Unversehrtheit, das neben zivilrechtlichen Ansprüchen
auch einen Unterlassungsanspruch beinhaltet. – Beachte: Die naheliegende
Lösung, die E auch auf einen Größenschluss – argumentum a maiori ad
minus – aus dem Züchtigungsverbot des § 146a ABGB heraus zu stützen,
wird nicht gesehen. | |
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Das argumentum a maiori ad minus ist der Schluss
vom Größeren auf’s Kleinere: Löst nach dem Gesetz nicht einmal der
„größere”, gewichtigere Sachverhalt eine Rechtsfolge aus, so gilt
das erst recht für den weniger wichtigen / „kleineren”. | argumentum
a maiori
ad minus |
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Kein Größenschluss
ist der sog Umkehrschluss, das argumentum e contrario. Bindet der
Gesetzgeber erkennbar eine Rechtsfolge an bestimmte Tatbestandsvoraussetzungen
(zB Tb-Element1+Tb-Element2+Tb-Element3), so soll die Rechtsfolge
nicht eintreten, wenn ein Sachverhalt nur einen Teil dieser gesetzlich
vorgeschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt: zB nur Tb-Element1+Tb-Element2
aufweist. – Analogie (in dieser Form) wird demnach ausgeschlossen,
wenn das Gesetz die Rechtsfolge nur für einen ganz bestimmten Fall
eintreten lassen will, was im Einzelfall freilich zu beweisen ist
und nicht von vornherein anzunehmen ist. Ob e contrario oder per
analogiam geschlossen werden darf, kann mitunter strittig sein. | Das argumentum
e contrario |
 | |
6. Die
teleologische Reduktion | |
Hier soll – vgl etwa
F. Bydlinski in Rummel I3 § 7 Rz 7
– der ratio legis dadurch Geltung verschafft werden, dass eine (sprachlich)
zu weit geratene Anordnung des Gesetzgebers auf das eigentlich Gemeinte
eingeschränkt, also „reduziert” wird; Telos = altgriechisch Ziel,
Zweck. Ob die Voraussetzungen teleologischer Reduktion vorliegen,
kann zweifelhaft sein. | der
ratio legis Geltung verschaffen |
Teleologische Reduktion und Interpretation
verfließen häufig ineinander. Zulässig erscheinen sie nur dann,
wenn sich die Wertbasis einer Norm so verändert hat, dass ihr ursprünglicher
Normzweck nicht mehr erreicht werden kann, was nicht leichtfertig
angenommen werden darf. Wer dies behauptet, ist dafür „beweispflichtig”.
Dabei ist zu beachten, dass nicht immer die ganze Norm geändert
werden muss, sondern es auch genügen kann, Teile ihres Tatbestands
oder ihrer Rechtsfolge/n zu modifizieren. | |
 | |
7. §
8 ABGB: Authentische Interpretation | |
Das ist
die Interpretation einer Vorschrift – im nachhinein – durch den
Gesetzgeber selbst. Sie ist selbst wiederum Gesetz. – Der Gesetzgeber
macht von dieser ihm auch heute noch zustehenden Möglichkeit selten
Gebrauch. | |
Dieses Interpretationsmittel spielte aber vor allem
in der vorkonstitutionellen Ära des ABGB noch eine
Rolle, wo „der Gesetzgeber” die Anwendung des ABGB interpretativ
festigte und weiterbildete. Das betrifft vor allem die ersten Jahrzehnte
des ABGB nach seiner Kundmachung; inbesondere zwischen 1812 und
1846, vgl aber auch noch G. v. 28.3.1875, RGBl 37 zu § 1072. | Interpretationsmittel der vorkonstitutionellen
Ära |
Die
authentische Auslegung erfolgte in der Form von Hof(kanzlei)dekreten;
HfKD – zB von 1846, JGS 970 betreffend § 399 ABGB: Schatzfund. Sie
betrafen aber auch die §§ 119, 138, 179, 538, 700, 763, 1249, 1333,
1335, 1367, 1500 ABGB aF. Schey in Klang2
I/1,
15 betont: | Hof(kanzlei)dekrete |
„Aber in demselben Maße wie in Rechtslehre
und Rechtsanwendung das Gefühl der vom Gesetzbuche gewährten Richterfreiheit
[durch § 6 und inbesondere § 7 ABGB!] sich festigte, hörte die alte
Gewohnheit, in jedem Falle von Schwierigkeit bei dem ‚obersten Richter
‘ anzufragen, und damit der Anlass zu einer authentischen Interpretation auf.” | |
Das Konzept der sich über die §§ 6 und 7 ABGB entwickelnden
richterlichen Lückenfüllung, verdanken wir – wie erwähnt – Karl
Anton von Martini. | |
Von
der authentischen Interpretation zu unterscheiden ist der Fall,
dass der Gesetzgeber im Gesetz selbst anordnet, wie ein Begriff
auszulegen / zu verstehen ist; vgl § 42 ABGB: | Legalinterpretation |
„Unter dem Namen Eltern werden
idR ohne Unterschied des Grades alle Verwandten in der aufsteigenden;
und unter dem Namen Kinder alle Verwandten in der
absteigenden Linie begriffen.” | |
In einem solchen Fall bedarf es keines neuerlichen Gesetzesbeschlusses
zur Interpretation. – Man kann hier von Legalinterpretation sprechen. | |
III. Auslegung
von Rechtsgeschäften und Verträgen: §§ 914, 915 ABGB | |
 | |
Rechtsgeschäfte
bestehen aus Willenserklärungen iSd § 863 ABGB → KAPITEL 5: Arten
von Willenserklärungen: § 863 ABGB. Bei
der Auslegung von Rechtsgeschäften und Verträgen geht es daher vornehmlich
– wenn auch nicht ausschliesslich – um die Auslegung von Willenserklärungen,
sei es einer, beider oder mehrerer Partei/en. – Es ist aber nicht
immer einfach zB die wahre Absicht der Vertragsparteien zu erforschen.
Die interpretative Suche nach der Parteienabsicht kann
sich dabei auch nicht immer nur am Willen des/r Erklärenden orientieren.
Bei entgeltlichen Verträgen hat sich die Auslegung vielmehr an der Verkehrsauffassung,
der Verkehrssitte auszurichten, was nichts anderes bedeutet,
als dass es nicht immer nur auf den Erklärungswillen oder den Erklärungswortlaut ankommt,
sondern auch objektive Verkehrsschutzinteressen für die Auslegung
eine Rolle spielen; sog Vertrauenstheorie → KAPITEL 5: Zur
Rechtsgeschäftslehre des ABGB. | |
 | Abbildung 11.13: Vertragsauslegung und Willenserklärung |
|
1. Die
„Stufen“ des § 914 ABGB | |
§ 914 ABGB aF lautete: | §
914 ABGB aF |
„Die im ersten Theile (§. 6) in Hinsicht
auf die Auslegung der Gesetze angeführten allgemeinen Regeln gelten
auch für Verträge. Insbesondere soll ein zweifelhafter Vertrag so
erklärt werden, dass er keinen Widerspruch enthalte, und von Wirkung
sey.” | |
Erst die III. TN (1916) hat die Gesetzes- und die Rechtsgeschäftsauslegung
getrennt. | |
Das geltende Gesetz unterscheidet auch in § 914 ABGB – ähnlich
den §§ 6 und 7 ABGB – verschiedene Auslegungs- und Lückenfüllungsschritte: | Auslegungs-
und
Lückenfüllungsschritte |
•
„buchstäblicher
Sinn des Ausdrucks” (~ § 6 ABGB: „eigentümliche Bedeutung
der Worte”); | |
•
„Absicht der Parteien” (~ §
6 ABGB: „klare Absicht des Gesetzgebers”); | |
•
„Übung des redlichen Verkehrs” (~
§ 7 ABGB: das entspricht der Analogie und den natürlichen Rechtsgrundsätzen). | |
Die „Übung
des redlichen Verkehrs „ in § 914 ABGB, die „Verkehrssitte „
in § 864 ABGB oder die „im redlichen Verkehr geltenden Gewohnheiten
und Gebräuche „ in § 863 ABGB sind maßstäbliche Adaptierungen,
die über den Umweg des dtBGB – vgl zB dort §§ 276, 157, im Rahmen
der III. TN Eingang ins ABGB gefunden haben. – Aber bereits Hortens
Entwurf kannte diese Maßstäbe; vgl dort III 1 §§ 85 ff. | |
Sie
ersetzen den alten Maßstab des ordentlichen Hausvaters / bonus pater
familias des römisch-gemeinen Rechts, der griechische Wurzeln hat.
Es handelte sich um einen Durchschnittsmaßstab, nicht etwa den eines
optimus vir! | |
|
EvBl 2000/68 zur Auslegung
eines Unterhaltsvergleichs werden die im redlichen Verkehr
geltenden Gewohnheiten herangezogen und daraus die Geltung der Umstandsklausel
abgeleitet. | |
|
|
OGH 5. 4. 2000, 9 Ob A 40/00y, JBl 2001, 192:
Gewährt der Arbeitgeber regelmäßig und vorbehaltslos bestimmte Leistungen
an seine Arbeitnehmer, gilt dies als schlüssiges Anbot (§§ 863,
914 ABGB), dies auch künftig zu tun. Nehmen die Arbeitnehmer diese
Zahlungen entgegen, so liegt darin eine schlüssige Annahme. So werden
die Leistungen (dieser Betriebsübung) Inhalt der
einzelnen Arbeitsverträge. | |
|
2. Die
Unklarheitenregeln der §§ 915, 869 ABGB | |
Bereits das ABGB
von 1811 kannte sie; sie stammen aus den Vor-Entwürfen des ABGB,
die sie dem römisch-gemeinen Recht entnommen haben, das sie wiederum
den Digesten Justinians entnommen hat. | |
esianusCodTher
III 2 Num 179 (= Entwurf Horten III 1 § 88 = Entwurf Martini III
1 § 46): „Dann Treue und Glauben erheischet, dass ein ernstlich
und bedächtlich geschlossener Vertrag nach Thunlichkeit bei Kräften
erhalten, und bei bemüßigter Auslegung der Verträgen allemal die
Billigkeit vor Augen genommen, erst aber damals, wann sonst auf keinerlei
Art die Klarheit und Gewissheit zu erreichen ist, die Ausdeutung
der Worten wider jenen Theil gemachet werde, in dessen Macht es
gestanden, sich verständlicher und deutlicher auszudrucken.” | Codex Ther |
Diese Unklarheitenregeln sind ebenso geniale wie einfache
Auslegungsmittel, die eine häufige/re Anwendung in der Praxis verdienten,
weil sie unguten Formulierungen auf elegante Weise den „Giftzahn”
ziehen. | |
§
915 ABGB enthält zwei für die Praxis bedeutsame Vertragsauslegungsregeln,
die als „Unklarheitenregeln” bezeichnet werden. Von aller größter
Bedeutung ist die zweite für entgeltliche Verträge. Diese zweite
Unklarheitenregel schuf mit einfachsten Mitteln ein wirksames Mittel,
um gegen eine unseriöse Vertrags(abfassungs)praxis ankämpfen zu
können: | |
„Bei einseitig
verbindlichen Verträgen wird angenommen, dass sich der
Verpflichtete eher die geringere... Last auferlegen
wollte”; daher ist zB im Zweifelsfall nicht Schenkung, sondern Leihe anzunehmen. | Erste Regel |
Das entspricht der römischrechtlichen Regel:
donatio non praesumitur. | |
„Bei zweiseitig
verbindlichen [Verträgen] wird eine undeutliche
Äußerung zum Nachteile desjenigen erklärt, der
sich derselben bedient hat.” | Zweite Regel |
§ 869 ABGB steht unter der Überschrift „Wahre Einwilligung”
und ergänzt dieses Konzept auf zweifache Weise: | |
• er bestimmt ua, dass
die Einwilligung in einen Vertrag auch „verständlich
erklärt werden muss. Ist die Erklärung [dagegen] unverständlich
… so entsteht kein Vertrag.” | |
•
Satz 3 unserer Bestimmung spricht wie § 915 ABGB
„undeutliche Ausdrücke” an und ergänzt dadurch
die zweite Unklarheitenregel des § 915 ABGB. | |
3. § 863 ABGB –
Arten von Willenserklärungen | |
Nach
§ 863 Abs 1 ABGB kann man seinen Willen „nicht nur ausdrücklich durch
Worte und allgemein angenommene Zeichen” erklären, sondern auch stillschweigend und schlüssig
/ konkludent durch solche Handlungen, „welche mit Überlegung
aller Umstände keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln übrig
lassen”. – Abs 2 dieser Bestimmung fügt hinzu, dass „in Bezug auf Handlungen
und Unterlassungen „ ... auf die im redlichen Verkehr geltenden
Gewohnheiten und Gebräuche Rücksicht zu nehmen ist”; Verkehrs- und
Vertrauensschutz → KAPITEL 5: Zur
Rechtsgeschäftslehre des ABGB. | |
4. Ergänzende Vertragsauslegung | |
Die ergänzende Vertragsauslegung soll
Lücken füllen, die die Vertragsparteien – idR ungewollt – in ihren
Vereinbarungen gelassen haben; sog Vertrags- oder Regelungslücken.
Gefragt wird dabei von der Rspr danach, wie die Parteien den Vertrag
gestaltet hätten, wenn sie die (Regelungs)Lücke erkannt hätten.
– § 914 ABGB stellt auf die Absicht der Parteien und die Verkehrssitte
ab. Bei einer unterlaufenen Regelungslücke tritt an die Stelle der
ausdrücklich oder doch schlüssig geäußerten Parteienabsicht die hypothetische
Erforschung des Parteiwillens. | Vertragliche
Regelungslücken |
Stärker
als der OGH haben das dtRG und der dtBGH früh interessante En zur
ergänzenden Vertragsauslegung gefällt. Dabei spielten mehrfach in
Verträgen „vergessene” Konkurrenzklauseln / -verbote eine Rolle:
– Die Vertragsparteien hatten bspw im Rahmen einer Unternehmensveräußerung
vergessen eine Konkurrenzklausel zu vereinbaren. Als nach erfolgter
Veräußerung der Verkäufer erneut einen Konkurrenzbetrieb eröffnete,
kam es zum Streit und RG und BGH entschieden zugunsten des Erwerbers,
fügten also dem Kaufvertrag ergänzend die vergessene Konkurrenzklausel
hinzu. Verständige Parteien hätten eben eine solche nach der Verkehrssitte
vereinbart und schon ihre ursprüngliche Vereinbarung in diesem Sinne
verstanden! | Vorbilder: dtRG und dtBGH |
|
RGZ 117, 177 (1927): Kann beim
Verkauf eines kaufmännischen Geschäfts (Herstellung von
Krankenwagen) ein Wettbewerbsverbot nur ausdrücklich oder
auch stillschweigend auferlegt werden? Es war vergessen worden,
in den Vertrag ein Wettbewerbsverbot in Form einer Konkurrenzklausel
aufzunehmen. Der Veräußerer des Unternehmens nahm in der Folge wiederum
die Produktion auf und holte sich dadurch einen Großteil seines
ursprünglichen Kundenstocks zurück. Das RG ergänzte den Vertrag
durch eine solche Klausel! – Ähnliche Urteile ergingen zur Veräußerung
von Rechtsanwalts- und Arztpraxen;
zB BGH, NJW 1955, 337. | |
|
|
EvBl 1940/239 (RG 15.4.1940: Mit
interessanten Ausführungen über Funktion und Unterschied von Wettbewerbsklauseln
/ -verboten nach dem AngG und zwischen Unternehmern): § 1 UWG –
Wettbewerbsklausel bei Geschäftsverkauf uH auf SZ 14/69 ( Verkauf
einer Schmiede samt Kundenliste) und 173: Verkauf
eines OHG-Geschäftsanteils + Konkurrenzverbot (1932); | |
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|
SZ 25/47 (1952): Die Vereinbarung
der Übernahme des Unternehmens durch einen der Gesellschafter einer
OHG enthält idR ein stillschweigendes Wettbewerbsverbot. | |
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SZ 36/58 (1963): Wettbewerbsklausel
in Pachtverträgen. | |
|
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OGH 28. 1. 2002, 2 Ob 336/01b, JBl 2002, 653:
In einem Transportvertrag wird Kundenschutz vereinbart –
„bei … Kontaktaufnahme mit unseren Kunden verfallen sämtliche Forderungen
gegen uns”. Der Kläger will von dieser Klausel alle Unternehmen
erfasst wissen, die in irgendeiner Weise an Verträgen mit Kunden
beteiligt waren. Beklagter nimmt dennoch Kontakt mit Kunden auf
und verletzt die Vereinbarung. – OGH: Die früher vertretene These,
Konkurrenzverbote und -klauseln seien wegen des Prinzips der Vertragsfreiheit
im Zweifel einschränkend auszulegen, dürfte zwar in dieser Allgemeinheit
aufgegeben worden sein; die Auslegung eines Konkurrenzverbotes
durch ergänzende Vertragsauslegung kommt aber dann in Betracht,
wenn dies der Zweck der Vereinbarung oder die Verkehrssitte erfordern. | |
|
Die
ergänzende Auslegung tritt erst dann auf den Plan, wenn auch das
Dispositivrecht ( → KAPITEL 1: Nachgiebiges
und zwingendes Recht und → KAPITEL 7: Nachgiebiges
und zwingendes Recht)
die aufgetretene Regelungslücke einer Parteienvereinbarung nicht
schließen kann; Susidiarität dieses Lückenfüllungsmittels. – Bezogen
auf die Gesetzesauslegung entspricht die ergänzende Vertragsauslegung
den Lückenschließungsinstrumenten des § 7 ABGB: Analogie und natürliche
Rechtsgrundsätze. | Subsidiarität
der ergänzenden Auslegung |
Armin
Ehrenzweig, System des österreichischen allgemeinen Privatrechts
I/1, Allgemeiner Teil (19512), führt
zur Auslegung von Willenserklärungen und Rechtsgeschäften aus: | Armin Ehrenzweig |
„Die Auslegung
einer Willenerklärung ermittelt den Sinn der Erklärung, dh das,
was der Erklärende als seinen Willen hat erklären wollen. In diesem
Sinne stellt die Auslegung eines Testamentes den Willen des Erblassers
fest. Fragen, an die er nicht gedacht hat, löst die ergänzende
Auslegung in seinem Sinne, dh so, wie er sie vermutlich gelöst
hätte ... [Es wird daher auch von hypothetischer Auslegung gesprochen.] | |
In derselben
Weise entscheidet bei Verträgen der gemeinsame Wille
der Parteien: ‘Bei Auslegung von Verträgen ist nicht an dem buchstäblichen
Sinne des Ausdruckes zu haften, sondern die Absicht der Parteien
zu erforschen ...’
(§ 914 ABGB). Der Code civil (Art 1156), der hier [sc: der III.
TN] als Vorbild gedient hat, sagt ausdrücklich: ‘On doit dans les
conventions rechercher quelle a été la commune intention des parties
contractantes, plutôtque de s’arrêter au sens litteral des termes’.
Auch für Verträge gilt also die Regel ‘Falsa demonstratio
non nocet ’ (§ 571 ABGB), freilich nur unter der Voraussetzung,
dass beide Teile dasselbe gewollt und ihren Willen übereinstimmend falsch
erklärt haben ... Von der Absicht der Parteien spricht
§ 914 ABGB, nicht wie § 133 dtBGB von ihrem ‘Willen’. Die Absicht
ist bei der Vertragsauslegung ebenso zu verwerten, wie nach § 6
ABGB bei der Gesetzesauslegung. Sie ist nach dem Herrenhausberichte
(S 274) ‘nichts anderes als der Geschäftszweck,
die causa des Vertrages’. Danach gestattet § 914 ABGB auch die ergänzende
Auslegung. Der Richter kann also im Hinblicke auf den gemeinsamen
Geschäftszweck einen übereinstimmenden Willen auch dann feststellen,
wenn ein Punkt streitig ist, an den die Parteien nicht gedacht haben,
oder hinsichtlich dessen jede Partei etwas anderes gewollt hat.
Sogar dann kann die Auslegung gelingen, wenn die Parteien sich bewusst
auf eine zweideutige Fassung geeinigt haben, weil jede von ihnen
erwartet hat, der Richter werde die Bestimmung in ihrem Sinne auslegen.
In solchen Fällen holt der Richter nach, was die Parteien versäumt
haben; die Auslegung wird zur Ergänzung des Vertrages.” | |
5. Weitere Auslegungsregeln
im ABGB | |
Neben den §§ 914, 915 enthält das ABGB auch an anderen Stellen
Auslegungshilfen für Rechtsanwender; vgl etwa § 1406 Abs 2 (Schuldbeitritt),
§ 521 (Wohnrecht), § 614 (Substitution), § 655 (Vermächtnisse),
§ 42 (Eltern, Kinder) oder § 1106 (Bestandvertrag). | |
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EvBl 1971/317: Auslegung einer Konkurrenzklausel:
Verpachtung des einzigen Spenglerei-Installationsbetriebs im Brixental
/ Tirol. – Die umstrittene Vertragsklausel lautete: „Der Pächter
verpflichtet sich – bei sonstiger Leistung der vollen Genugtuung
und einer vom Gericht zu bestimmenden Konventionalstrafe – drei
Jahre nach Ablauf des Pachtverhältnisses im Brixental kein gleichartiges
Gewerbe zu betreiben. Diese Bestimmung gründet darauf, dass der
Pachtbetrieb der einzige einschlägige Betrieb im ganzen Brixental
ist und die Verpächterin ihrem Pächter ihren gesamten Kundenstock
zur Verfügung stellt.” Der Pachtvertrag war am 2.2.1971 aufgelöst
worden. Die beklagte ehemalige Pächterin betreibt seither ein eigenes
Installationsunternehmen in Hopfgarten. Der ehemalig Verpächter
stellte daher einen Antrag auf einstweilige Verfügung und Unterlassungsklage,
weil die Gefahr bestand, dass der Kundenstock des verpachteten Unternehmens
verloren geht und eine Wiederverpachtung des Unternehmens dadurch
unmöglich wird. – Umstritten war inbesondere, ob eine Unterlassungsklage
möglich war, oder ob nur Schadenersatzansprüche des früheren Verpächters
bestanden. Der OGH entschied, dass die wirtschaftliche Bedeutung
der Konkurrenzklausel einen Unterlassungsanspruch rechtfertigt.
Dabei stützte er sich auf § 914 ABGB: „Absicht der Parteien”. Der
Zweck der Klausel lag seines Erachtens darin, nach Beendigung des
Pachtvertrags einen ruinösen Wettbewerb zwischen den Vertragspartnern
zu vermeiden. Der OGH erblickte daher zu recht als primäre Verpflichtung
des Pächters die Unterlassung eines Konkurrenzbetriebs und nur sekundär
– inbesondere bei Zuwiderhandeln – parallel dazu Schadenersatz. | |
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 | |
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ZAS 2001, H. 5 (Judikaturbeilage)
– OGH 24.1.2001, 9 Ob A 217/00b: Umfang
des Konkurrenzverbots nach § 7 AngG – Leitender Angestellter
eines Software-Unternehmens erwarb (gemeinsam mit einem Vorstandsmitglied)
über einen Treuhänder eine Geschäftsbeteiligung an einem Zulieferunternehmen,
das ausschließlich für das Unternehmen seines Arbeitgebers produzierte.
Diese Beteiligungen wurden dem Arbeitgeber verheimlicht. – Arbeitgeber
sprach nach Bekanntwerden der Beteiligung die Entlassung aus, weil
sich der Arbeitnehmer weigerte seine Beteiligung aufzugeben. Unter
Berufung auf die §§ 7 und 13 AngG begehrte der Arbeitgeber ferner
die Abtretung der Geschäftsanteile, Herausgabe der bezogenen Dividenden
und (darüber hinausgehenden) Schadenersatz. – Der OGH bestätigte
die Entlassung wegen Vertrauensunwürdigkeit, wies aber alle anderen
Ansprüche des Klägers ab | |
|
|
OGH 14. 10. 2002, 1 Ob 113/02b (verst
Senat), JBl 2003, 176: Die Kläger pachteten von der Beklagten (Gemeinde)
ein Restaurant im Bade- und Festspielgelände und
akzeptierten im Vertrag (nur) das Anbieten „kleiner Speisen” durch
Dritte an Veranstaltungstagen. 3 Jahre später verpachtete die Beklagte
aber noch eine „Gourmet-Zeile”, ein weiteres Restaurant und ein
Buffet an andere Unternehmer, was zu erheblichen Umsatzeinbußen
bei der Klägerin führte. – OGH: Ein durch die entgegen vertraglichen
Verpflichtungen des Bestandgebers erfolgte Eröffnung von
Konkurrenzunternehmen im Einzugsbereich des Bestandobjekts (mit)verursachter
erheblicher Rückgang des Geschäftserfolgs rechtfertigt ein Zinsminderungs-
bzw -befreiungsbegehren gem § 1096 Abs 1 ABGB. – Leider fehlen Erhebungen
in Richtung Naturalrestitution (§ 1323 ABGB) und das vereinbarte Konkurrenzverbot,
die diesen eklatanten Vertragsbruch am konsequentesten ausgeräumt
hätte. | |
|
•
Konkurrenzverbot: Untersagung
einer konkurrierenden Tätigkeit während des Bestands einer
rechtlichen inbesondere einer vertraglichen Beziehung; zB § 112
HGB: für OHG-Gesellschafter oder nach § 7 AngG für Arbeitnehmer
während eines aufrechten Arbeitsverhältnisses. | Unterscheide:
Konkurrenzverbot <-> Konkurrenzklausel |
•
Konkurrenzklausel: Stellt
eine vertragliche Beschränkung für die Zeit nach Beendigung des
Vertrags dar; vgl etwa § 36 AngG. Vgl auch die eben behandelte E
des OGH; EvBl 1971/317: Diese E zeigt uns, dass eine Konkurrenzklausel
sowohl im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, als
auch zwischen Unternehmern – also zwei Selbständigen – vereinbart
werden kann. | |
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Weitere Beispiele
zur Vertragsauslegung: | |
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Auslegung einer
sog Schwellwertklausel: EvBl
1976/231
→ KAPITEL 15: Wertsicherung. | |
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In einem Schenkungsvertrag
auf den Todesfall ( → KAPITEL 3: Schenkung
auf den Todesfall)
wurde folgender Passus streitig: „Hubert B [= der Übernehmer] verpflichtet
sich, seinen Onkel Franz B [= Übergeber] in alten und kranken Tagen
... unentgeltlich zu pflegen ...” – Bedeutet diese Formulierung,
dass der Onkel: alt und krank sein muss, um die ausbedungenen Leistungen
in Anspruch nehmen zu können, oder genügt es, dass er diese auch
beanspruchen kann, wenn er sie bloß altersbedingt braucht? | |
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SZ 54/112 (1981): Sind nach vertraglicher
Vereinbarung als Leistung neben einem bestimmten Geldbetrag als
Hauptleistung auch Arbeitsschichten zu verrichten,
ist mangels anderer Konkretisierung unter einer Arbeitsschicht (nach
der geltenden Arbeitszeitregelung) eine Arbeitsleistung von acht
Stunden zu verstehen und damit die Leistung hinreichend bestimmt
/ bestimmbar. | |
|
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JBl 1999, 380: Auslegung einer Reallast
des Wasserbezugs – Eine langjährige Abwicklungspraxis der Vertragsparteien
und ihrer Rechtsnachfolger lässt Rückschlüsse auf den seinerzeitigen
Geschäftswillen zu; „Selbstinterpretation” einer vorprozessualen
Praxis. | |
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JBl 1999, 390: Zur Auslegung
eines Schiedsvertrags als Prozessvertrag. Dafür ist grundsätzlich
Prozessrecht heranzuziehen. Soweit jedoch die Vorschriften des Prozessrechts
nicht ausreichen, sind analog die Auslegungsregeln des ABGB heranzuziehen,
wobei die Parteienabsicht und die Grundsätze des redlichen Verkehrs
zu berücksichtigen sind. | |
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|
SZ 41/131 (1968): Auslegung
eines Haftungsausschlusses in AGB – Die AGB eines Elektrizitätsversorgungsunternehmens
(EVU) enthielten folgende Klausel: „Das EVU ist verpflichtet, Strom
... zu liefern, ... und dafür zu sorgen, dass der Abnehmer, ...
elektrische Energie zu jeder Tages- und Nachtzeit beziehen kann,
soweit das EVU nicht durch höhere Gewalt oder durch Umstände, die
abzuwenden nicht in seiner Macht steht, verhindert ist oder die
Vornahme betriebsnotwendiger Arbeiten die Unterbrechung erfordern.”
– Im Prozess stellte sich die Frage: Umfasst der Haftungsausschluss
in den AGB auch Schäden aus vergessener Verständigung von der Abschaltung
bei Straßenbauarbeiten? Der OGH meint: „Vereinbarungen über die
Beschränkung oder den Ausschluss der Haftung sind nach der Übung
des redlichen Verkehrs (§ 914 ABGB) auszulegen.” Die Haftung kann
zwar – so der OGH – für betriebsbedingte Schäden, nicht aber für
Verstöße gegen eigene Sorgfaltspflichten (hier Warnpflicht) aus
dem Vertrag ausgeschlossen werden! Das EVU hatte daher die dem Abnehmer
aus der Abschaltung entstandenen Schäden zu ersetzen. | |
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 | Abbildung 11.14: Haftungsausschluss in AGB (1) |
|
 | Abbildung 11.15: Haftungsausschluss in AGB (2) |
|
|
OGH 30. 8. 2000, 6 Ob 174/00g, SZ 73/132:
Eine GmbH hat Kreditschulden von nahezu 5 Mio S bei der A-Bank.
Zur Besicherung wird eine Global- und Mantelzessionsvereinbarung geschlossen,
die jedoch aufgrund unzureichender Kenntlichmachung in der offenen
Postenliste (OP-Liste) der Kreditschuldnerin mangels Publizität
nicht zu einer Abtretung der Forderungen führt. Als die GmbH bei
der A-Bank keine weiteren Kredite mehr erhält, wendet sie sich an
die B-Bank, der sie die bereits erfolgte Globalzession zugunsten
der A-Bank mitteilen. Zur Besicherung des neuen Kredits wird auch
mit der B-Bank ein Global- und Mantelzessionsvertrag geschlossen
und im Laufe der Zeit werden ihr auch Forderungen im Wert von über
4 Mio S abgetreten. Nach dem Konkurs der GmbH klagt die A-Bank die
B-Bank auf Zahlung dieses Betrages. – OGH: Die Globalzession künftiger
Forderungen bedarf der Anbringung eines Generalvermerks in der offenen
Postenliste. Dieser muss den Zessionar und das Datum des Zessionsvertrags anführen.
Im konkreten Fall wurde nur der Buchstabe „Z” auf jede Seite der
OP-Liste gesetzt). Wenn trotz des Fehlens eines ausreichenden Buchvermerks
ein zweiter Zessionar vom Globalzessionsvertrag des ersten Kenntnis
hat (hier: Information durch den Zedenten selber), wird er wegen
des Eingreifens in fremde Forderungsrechte schadenersatzpflichtig.
– Überlege: Kann bei Vereinbarung einer Globalzession stillschweigend
ein Abtretungsverbot angenommen werden und wie könnte es begründet
werden? (§ 914 ABGB iVm mit ergänzender/hypothetischer Vertragsauslegung)
Didaktisch vorbildliche Gliederung der E | |
|
D. Rechtsquellen
des Privatrechts |
| |
| |
Wir haben
uns mit der Rechtsanwendung und Rechtsfindung, dem Subsumtionsvorgang
und der Lehre vom Rechtssatz sowie der Auslegung von Gesetzen, Rechtsgeschäften
und inbesondere Verträgen befasst und haben nun noch ein weiteres
Kapitel nachzutragen: Die Frage der Rechtsquellen. – Rechtsanwendung
setzt nämlich, wie der Begriff sagt, die Anwendung von „Recht” voraus.
Aber was alles ist nun Recht? Die Antwort ist schwieriger, als die
Frage vermuten lässt. Und die Antwort war im Laufe der Zeiten nicht
immer dieselbe. Die Rechtsquellenlehre will also klären, „was” heute als
Recht anzusehen ist – zB Gesetzesrecht, Gewohnheitsrecht, Richterrecht
– und „wie” geltendes Recht entsteht; sei es im nationalen, supranationalen
oder internationalen Bereich. | |
Der Fragenbereich der Rechtsquellen war
immer – und ist es bis heute – umstritten. – So lässt sich etwa
fragen, ob das Naturrecht auch heute noch eine Rechtsquelle in Österreich
ist? Die §§ 7 und 16 ABGB legen das nahe, was die weitere Frage
erheben lässt, was wir heute unter Naturrecht verstehen. Auch die
Entscheidungen der Höchstgerichte werfen immer wieder einschlägige
Fragen auf. Und der rechtsquellentheoretische Stellenwert juristischer
Lehrmeinungen wechselte in der Rechtsgeschichte. In der Kodifikationsgeschichte
des österreichischen Privatrechts war bspw die Stellung der Partikularrechte,
also territorialer Sonderrechte umkämpft, sollte doch einheitliches
Recht für alle geschaffen werden → §
10 ABGB: Gewohnheiten
| |
 | |
 | Abbildung 11.16: Bundesgesetzblatt |
|
I. Einteilung der
Rechtsquellen | |
1. Rechtsentstehungs-
und Rechtserkenntnisquellen | |
Traditionellerweise
wird unterschieden zwischen: | |
•
Rechts-Entstehungs-Quellen
(fontes iuris essendi oder materielle Quellen) und | |
•
Rechts- Erkenntnis-Quellen
(fontes iuris cognoscendi, formelle Quellen). | |
Erstere
sind jene, aus denen das Recht „fließt” (zB Gesetzesrecht = gesatztes
Recht oder Gewohnheitsrecht), also Recht in seiner Entstehungsform.
– Letztere vermitteln uns die Kenntnisbereits entstandenen
Rechts; Recht in seiner Erscheinungsform: zB Gesetzbücher, Bundes-
und Landesgesetzblätter, Entscheidungssammlungen, Rechtsdatenbanken,
Urkunden, Urteile, Bescheide, Verträge etc. | |
| |
2. Generelle
und individuelle Rechtsquellen | |
Neben Rechtsentstehungs- und Rechtserkenntnisquellen wird
auch zwischen: | |
•
generellen (zB
Gesetze, Staatsverträge, Gewohnheitsrecht, sog Rechtsverordnungen,
Kollektivverträge) und | |
•
individuellen (Urteile, Bescheide,
Vertrag, Testament etc) Rechtsquellen unterschieden → KAPITEL 1: Stufenbau
der Rechtsordnung:
Stufenbau der Rechtsordnung. | |
Generelle Rechtsquellen richten sich an alle Rechtsadressaten,
mag das auch nur eine größere Gruppe (wie die Kaufleute: HGB) sein
oder wie bei Kollektivverträgen Angehörige bestimmter Berufe. Individuelle
Rechtsquellen dagegen richten sich bloß an Einzelne, etwa an die
Parteien eines Vertrags oder eines Rechtsstreits oder Verwaltungsverfahrens. | |
Das Gesetz als generelle Norm verbietet
schon begrifflich Sondergesetze für oder gegen bestimmte Personen.
Das wurde schon vom XII-Tafelgesetz untersagt, kam aber dennoch
schon in Rom vor; zB lex Clodia. Wie schwer aber auch solch’ wichtige
Prinzipien einzumahnen sind, lehrt uns die von der ÖVP-FPÖ-Regierung
durchgeboxte lex Salmutter. | |
BGBl-G,
BGBl 660/1996 | |
Das BGBl erscheint nunmehr in 3 Teilen und verlautbart: | |
In Teil I: Gesetzesbeschlüsse des NR, Kundmachungen
(Kdm) über Wiederverlautbarungen, Kdm der Bundesregierung, Kdm des
Bundeskanzlers über die Aufhebung verfassungswidriger Gesetze, Art
15a Abs 1 B-VG Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern. | |
In Teil II: Entschließungen des Bundespräsidenten,
Verordnungen der Bundesregierung und der Bundesminister, Kdm über
das Außerkrafttreten von Verordnungen, Kdm des Bundeskanzlers oder
eines BM über die Aufhebung gesetzwidriger Verordnungen, nicht unter
Art 15a Abs 1 B-VG fallende Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern. | |
In Teil III: Staatsverträge, Rechtsvorschriften
internationaler Organe mit unmittelbarer Wirkung für Österreich, Kdm
über die Feststellung der Gesetz- oder Verfassungswidrigkeit eines
Staatsvertrags. | |
Nach § 5 Abs 3 BGBl-G können Bundesgesetzblätter auch auf
andere technische Weise zur Verfügung gestellt werden; zB elektronische
Medien wie Internet, Rechtsdatenbanken etc. Das Rechtsinformationssystem
des Bundes – das sog RIS – ( http://www.ris.bka.gv.at/) enthält
das gesamte Bundes- und Landesrecht sowie oberstgerichtliche Judikatur
und Behörden-Links. | |
| |
Das Gesetzesrecht ist
heute die klar dominierende Rechtsquelle. Früher war das anders;
vgl daher die dem § 10 ABGB entnehmbare Ablehnung des Gewohnheitsrechts.
Der ABGB-Gesetzgeber wollte die neue Kodifikation nicht durch das
Entstehen von (neuem) Gewohnheitsrecht entwertet wissen. | |
Das Gesetz als Instrument
der Rechtssetzung und Gesellschaftssteuerung stammt, wie vieles
andere rechtliche, aus dem alten Griechenland; vgl Barta,
„Graeca non leguntur”? – Zum Ursprung des europäischen Rechtsdenkens
im antiken Griechenland (in Vorbereitung: 2005) | |
Die §§ 1-9 ABGB, auf die in der Folge kurz eingegangen wird,
stammen aus Martinis „Einleitung” seines Entwurfs für ein österreichisches
bürgerliches Gesetzbuch (1796), die zunächst ins WGGB (1797) und
dann ins ABGB (1811) einflossen. – Wie ernsthaft über das Verfassen
von Gesetzen nachgedacht werden kann, lehrt uns Platons Dialog „Nómoi”
(= Die Gesetze). | |
 | Abbildung 11.17: Gesetz: Mittel der Gesellschaftssteuerung |
|
1. § 1 ABGB: Was
regelt das bürgerliche Recht? | |
Das bürgerliche
Recht regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen den einzelnen
Bürgern / Individuen „ unter sich”, also als gleichberechtigte
Privatleute. Die Formulierung des § 1 ABGB stammt aus Martinis Entwurf.
– Die Diktion des Gesetzes: „Unter sich” betont die Gleichstellung der
Parteien des Privatrechts (im Gegensatz zum öffentlichen Recht,
das grundsätzlich von einer Über- und Unterordnung ausgeht) → KAPITEL 1: Zur
Abgrenzung: Privatrecht ¿ öffentliches Recht. | |
2. §
2 ABGB: Gesetzeskenntnis | |
Rechtskenntnis
war früher (inbesondere vor den Kodifikationen) ein großes Problem
und wird heute wieder zunehmend zu einem solchen. – Rechtskenntnis
darf aber nicht wieder zu einem Glücksspiel werden! Es ist zu wenig,
wenn sich nur Angehörige des sog Rechtsstabs „auskennen“. | Wer ist
Normadressat? – Bürger oder Rechtsstab? |
Vgl Bertold Brecht, Der kaukasische Kreidekreis:
„Und das Recht ist eine Katze im Sack.” | |
| |
 | |
|
Vgl nur den Sachverhalt von EvBl 2002/145 ( Eisenbahnoberleitung über
Kleingarten) → KAPITEL 10: Entscheidungsbeispiele
zu den Kapiteln 9 und 10. | |
|
3. § 3 ABGB: Inkrafttreten
von Gesetzen | |
§
3 ABGB wird modifiziert durch § 4 BGBl-G. – Bundesgesetze treten
demnach grundsätzlich mit Ablauf des Kundmachungstages in Kraft.
Der Gesetzgeber kann aber ein späteres Inkrafttreten festsetzen;
sog Legisvakanz / vacatio legis. | Legisvakanz |
Die
Kundmachung von Rechtsquellen wird als Publikation oder Promulgation bezeichnet. Gehörige
Kundmachung setzt sowohl die formelle, wie eine wirkungsvolle /
effektive Kundmachung (= materielle Publikation) voraus. | Publikation |
Das erweist sich immer wieder als Problem.
Viele Menschen kennen auch „ihre” Rechte, also auch das für sie günstige
Recht, nicht. | |
4. § 5 ABGB: „Gesetze
wirken nicht zurück” | |
Gemeint ist
damit ein (nachträglich festgesetzter) Geltungsbeginn von Gesetzen
vor ihrer Kundmachung. – Es handelt sich dabei um einen wichtigen legistischen
Programmsatz, der aber immer wieder durchbrochen wird,
weil es sich um eine einfachgesetzliche Bestimmung und nicht um
Verfassungsrecht handelt. Rechtsstaatlich sind derartige Maßnahmen
problematisch, was seit der Antike so gesehen wird. | |
Verhindert werden soll damit idR eine sonst
mögliche Spekulation Betroffener mit den neuen Regelungen. | |
5. § 9 ABGB: Zur
Geltungsdauer von Gesetzen | |
„Gesetze behalten so lange ihre Kraft, bis sie
von dem Gesetzgeber abgeändert oder ausdrücklich aufgehoben werden.” | |
Es gibt allerdings
immer wieder Gesetze auf Zeit; zB auf 5 Jahre.
Das kann sinnvoll sein, um beobachten zu können, ob sich eine Regelung
bewährt. – Bejaht man das Gewohnheitsrecht als
Rechtsquelle, muss man auch die Derogation von Gewohnheitsrecht
für möglich halten, was die Lehre des öffentlichen Rechts bestreitet. | |
6. Formelle
und materielle Derogation | |
Im
Zusammenhang mit der Frage der Geltung von Gesetzen steht die ihrer
Derogation. Unterschieden werden muss zwischen materieller (= bloß
„inhaltlich und nicht ausdrücklich abgeändert”) und formeller (=
„ausdrücklich aufgehoben”) Derogation. – Derogation meint demnach Aufhebung
eines Rechtssatzes durch einen anderen, späteren uzw im
Stufenbau der Rechtsordnung mindestens ranggleichen (oder ranghöheren). | |
| |
•
lex
postérior dérogat legi prióri = das spätere Gesetz,
hebt das frühere auf | |
•
lex
spécialis derogat legi generali = das speziellere
Gesetz, hebt das allgemeinere auf | |
•
lex
superior derogat legi ínferiori = das höherrangige
Gesetz, hebt das niederrangigere Gesetz auf. | |
Beispiel für ein eigenes DerogationsG ist das Erste
BundesrechtsbereinigungsG (1. BRBG) 1999, BGBl I Nr 191.
Es geht dabei um die Bereinigung der vor 1946 kundgemachten einfachen Bundesgesetze
und Verordnungen, die, ausgenommen jene, die im Anhang des Gesetzes
in eine Liste aufgenommen wurden, nicht weitergelten, sondern ab
1.1.2000 aufgehoben wurden. | BundesrechtsbereinigungsG |
In die Liste aufgenommen wurde bspw das ABGB
von 1811. Beim Erstellen dieser Liste sind aber Fehler unterlaufen;
vgl etwa die wohl ungewollte Aufhebung des HfKD 1846, JGS 970 betreffend
§ 399 ABGB: Schatzfund → KAPITEL 2: Arten
des originären Eigentumserwerbs. | |
|
„§ 1 (1. BRBG) 1999, BGBl I Nr 191 | |
Alle auf der Stufe von einfachen Gesetzen oder
Verordnungen stehenden Rechtsvorschriften des Bundes, die vor dem
1. Jänner 1946 kundgemacht wurden und noch als Bundesrecht in Geltung
stehen, treten, sofern sie nicht im Anhang zu diesem Bundesgesetz
angeführt sind, mit Ablauf des 31. Dezember 1999 außer Kraft. | |
|
|
§ 3 | |
(1) Eine Rechtsvorschrift im Sinne dieses Bundesgesetzes
umfasst die Erstfassung einer Norm samt allen zugehörigen Novellen.
Tritt eine Rechtsvorschrift auf Grund des § 1 außer Kraft, so bewirkt
dies daher auch das Außerkrafttreten aller Novellen, einschließlich
solcher, die nach dem 31. Dezember 1945 kundgemacht wurden. | |
|
|
§ 4 | |
(1) Die im Anhang angeführten Rechtsvorschriften
bleiben in ihrer am 31. Dezember 1999 geltenden Fassung weiter aufrecht. | |
(3) Unter § 1 fallende Rechtsvorschriften, die
in der Folge wiederverlautbart wurden, gelten ab dem Tag der Kundmachung
ihrer Wiederverlautbarung als Bundesgesetz in der durch die Wiederverlautbarung bewirkten
Fassung. Bei mehrfach wiederverlautbarten Rechtsvorschriften ist
die zeitlich letzte Wiederverlautbarung maßgebend.” | |
|
|
§ 5 | |
(1) Die Aufhebung von Rechtsvorschriften durch
§ 1 bewirkt, dass diese Vorschriften nur mehr auf Sachverhalte anzuwenden
sind, die sich vor dem 1. Jänner 2000 ereignet haben. | |
|
|
§ 6 | |
Dieses Bundesgesetz tritt mit 1. Jänner 2000
in Kraft.” | |
|
 | |
7. Der
Kollektivvertrag als Rechtsquelle | |
Der
Kollektivvertrag dient rechtlich als Ausgleich für das Versagen
der Vertragsfreiheit des bürgerlichen Rechts im Bereich
des Einzelarbeitsvertrags. Kollektivverträge sind bestrebt, aus
der bloß formalen Gleichbehandlung der Arbeitsvertragspartner (also
von Arbeitgebern und Arbeitnehmern) eine echte Gleichstellung zu
machen. Dadurch wird eine inhaltliche Typisierung der vom jeweiligen
Kollektivvertrag umfassten Arbeitsverträge erreicht. | |
| |
Obwohl es Kollektivverträge in nahezu allen entwickelten
Ländern der Erde gibt, ist die Terminologie unterschiedlich:
Deutschland spricht vom Tarifvertrag, Italien vom contratto colletivo,
Frankreich von Convention Collective de travail, die Schweiz vom
Gesamtarbeitsvertrag, die USA von collectiv agreement und Großbritannien von
collectiv bargain oder joint agreement. | |
Der Kollektivvertrag wird zwar vom B-VG (noch) nicht als
eigene Rechtsquelle genannt, wird aber mittlerweile als Rechtsquelle
sui generis anerkannt. Seine Besonderheit liegt darin,
dass er eine Kombination von schuldrechtlichem Vertrag, geschlossen
zwischen den Kollektivvertragsparteien, und eigener – vom ArbVG
1974 verliehener – normativ rechtlicher (Gesetzes)Kraft darstellt. Dieser normative
Teil des Kollektivvertrags besitzt Gesetzesrang, ist also
Gesetz im materiellen Sinn und daher Rechtsquelle. Der normative
Teil des Kollektivvertrags wirkt wie ein Gesetz auf die umfassten
Einzelarbeitsverhältnisse ein; aber auch auf die Beziehung zwischen
Betriebsinhaber und Belegschaft und die Beziehung zwischen einzelnem
Arbeitnehmer und seinem Arbeitnehmerverband. Als Rechtsquelle steht
der normative Teil von Kollektivverträgen über dem einfachen dispositiven
Gesetzesrecht. | |
In manchem Gesetz findet sich daher die
ausdrückliche Anordnung, dass ein Abgehen von der getroffenen Regelung durch
Kollektivvertrag möglich ist. | |
Für die Auslegung von Kollektivverträgen ist
zu berücksichtigen: Obwohl der Kollektivvertrag wie ein Vertrag
zustande kommt, wirkt er in seinem normativen Teil wie ein Gesetz
im materiellen Sinn und wird daher nach hA auch wie ein Gesetz ausgelegt;
dh Anwendung der §§ 6, 7 ABGB – vgl etwa E des OGH 1976, ZAS 1978,
105 – und nicht der §§ 914, 915 ABGB. | Auslegung
von
Kollektivverträgen |
| |
Unterschiedliche
Meinungen existieren über die Frage, ob der Kollektivvertrag (als
Gesetz im materiellen Sinn) bloß einer mittelbaren Grundrechtsbindung unterliegt
(so zB Strasser, Arbeitsrecht II 141 f und der OGH in: DRdA 1999,
32: Anm Runggaldier) oder eine unmittelbare Grundrechtsbindung anzunehmen
ist; so Runggaldier und Marhold. | Grundrechtsbindung |
| |
 | |
III. Das
Gewohnheitsrecht | |
1. §
10 ABGB: Gewohnheiten | |
„Auf
Gewohnheiten [gemeint ist das Gewohnheitsrecht] kann nur in den
Fällen, in welchen sich ein Gesetz darauf beruft, Rücksicht genommen
werden.” | |
Das ABGB steht dem Gewohnheitsrecht (consuetudo)
ablehnend gegenüber; vgl schon → Das
Gesetzesrecht (am
Beginn). In der Kodifikationsgeschichte des ABGB war diese Frage
heftig umstritten. Das Gesetz als neue und dem Kodifikationsgedanken
entsprechende Rechtsquelle, wird über das alte Gewohnheitsrecht
gestellt. Im Gesetz findet nunmehr der Wille des absoluten Monarchen
als Gesetzgebers seinen normativen Ausdruck. Gewachsene Rechtsvorstellungen
des Volkes werden unter die Oberherrschaft des Gesetzes und damit
des Monarchen gestellt und bedeuten dadurch keine normative Konkurrenz
mehr. – Während es in der griechischen Frühzeit des 7. Jhd v. C. „modern”
war, die alte Rechtsquelle des normativen Wissens (~ Gewohnheitsrecht,
Sitte, Moral, Religion etc) durch die neue des gesatzten Rechts
zu ersetzen (den Thesmos, später Nomos), galt dies politisch für
die Zeit um 1800 nicht mehr. Dafür sprachen aber politische und
ökonomische Gründe. | Ablehnende Haftung
des ABGB |
Das
(Privat)Recht in den österreichischen Ländern vor der Kodifikation
war in verschiedene Landes- und Partikularrechte zersplittert,
wozu ein bedeutender Anteil von (ungeschriebenem) Gewohnheitsrecht
kam. Erst das ABGB beendet diese Rechtszersplitterung.
Von der Kodifikationsidee her ist es also verständlich, dass der
Gesetzgeber des ABGB bestrebt war, die Kraft des Gewohnheitsrechts
zu brechen. – Das ist ihm aber ebenso wenig (vollständig) gelungen
ist, wie später dem öffentlichen Recht. | Rechtszersplitterung |
Ein
Beispiel für die Lebenskraft des Gewohnheitsrechts lieferte schon
das römische Recht, das bis zum „Zwölf-Tafelgesetz” (451/450 v.
C.) auf mündlich tradiertem Gewohnheitsrecht beruhte. Erst die –
freilich gar nicht vollständige – Kodifikation beendete vorerst
die mit dem Gewohnheitsrecht und dessen Auslegung verbundene Rechtsunsicherheit;
vgl P.G. Stein, Römisches Recht und Europa 14 (1996). Allein sehr
bald entstand das Problem von neuem; vgl F. Pringsheim, Ausbreitung
und Einfluss des griechischen Rechts (1952): | Beispiel römisches Recht |
„Das wirkliche Rom war einer umfassenden Kodifizierung so
abgeneigt, wie es heute England ist. Die tausendjährige Geschichte
von den XII Tafeln bis Justinian kennt keine vollständige Rechtssammlung.
Griechenland aber legte sein Recht immer gern in die Hand eines
persönlichen Gesetzgebers. Von der archaischen Zeit an ist hier
das Gesetz die eigentliche Rechtsquelle.” | |
 | |
Beachten will das ABGB Gewohnheiten/consuetudo
nur dann, wenn ein Gesetz sich auf Gewohnheitsrecht beruft. Das
geschieht in der Tat da und dort im ABGB selbst
(zB §§ 389, 501, 549 ABGB) und in anderen Gesetzen. Vgl insbesondere
Art 4 EVHGB: | Skeptisches
ABGB |
„In Handelssachen sind die Vorschriften
des allgemeinen bürgerlichen Rechts nur insoweit anzuwenden, als
nicht die besonders für Handelssachen geltenden Gesetze etwas anderes
bestimmen. Unter diesen Gesetzen ist auch das Gewohnheitsrecht zu
verstehen.” | |
Von der hA wird diese enge Fassung des § 10 ABGB aber extensiv
oder vielleicht sogar berichtigend interpretiert. | |
| Rückgriff auf Generalklauseln etc |
2. Praktische Bedeutung
des Gewohnheitsrechts | |
| |
Eine
Reihe neuer, im Gesetz nicht oder anders geregelter Rechtsinstitute,
beruht heute auf Richterrecht. Sie sind bereits
gewohnheitsrechtlich verfestigt. Eigenartigerweise werden die damit
verbundenen Fragen nicht mit letzter Konsequenz reflektiert. Es
hat den Anschein, als wollten Rspr und Schrifttum den eigenen Bewegungsspielraum
nicht einschränken. Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit
spielen dabei offenbar nur eine untergeordnete Rolle. – Vgl jedoch die
beiden Publikationen F. Gschnitzers. | |
 | |
3. Zum Streit über
das Gewohnheitsrecht | |
Das österreichische Verfassungsrecht kennt keinen abgeschlossenen
Rechtsquellenkatalog; vgl Art 1 B-VG. Auch der des ABGB ist unvollständig.
– Bedeutung als (materielle) Rechtsquellen des Privatrechts besitzen
heute aber – hier wie dort – vornehmlich: | |
• das Gesetz(esrecht)
und | |
• das Gewohnheitsrecht. | |
Vertreter
der „Reinen Rechtslehre” (etwa R. Walter, ÖJZ 1963, 225) leugnen
die Existenz(berechtigung) des Gewohnheitsrechts und behaupten,
das B-VG 1920 habe die Rechtserzeugung abschließend geregelt und
dadurch dem § 10 ABGB (soweit er Gewonheitsrecht zulässt) derogiert. –
Dem ist nicht beizupflichten und das Rechtsleben spricht eine deutlich
andere Sprache. Vielmehr sind Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht
als getrennte und (partiell) miteinander konkurrierende Rechtsquellen
weiterhin anzuerkennen. Mehr bei Gschnitzer, FGL 657 ff. | |
Manch künftige Frage, die sich daraus für
das Gewohnheitsrecht ergibt, harrt aber noch auf ihre Lösung! | |
IV. Zum
Rechtsquellencharakter von Urteilen – Richterrecht? | |
„Die in einzelnen Fällen ergangenen Verfügungen
und die von Richterstühlen in besonderen Rechtsstreitigkeiten gefällten
Urteile haben nie die Kraft eines Gesetzes, sie können auf andere
Fälle oder auf andere Personen nicht ausgedehnt werden”; § 12 ABGB. | |
1. Gewohnheitsrecht
heute | |
Um aus höchstrichterlichen Entscheidungen
Gewohnheitsrecht entstehen zu lassen, bedarf es gar nicht der Annahme
einer Derogation des § 12 ABGB. Es bleibt vielmehr dabei, dass der
einzelnen gerichtlichen Entscheidung keine Gesetzeskraft zukommt.
Die einzelne Entscheidung ist aber Beginn und Voraussetzung des
idF entstehenden Gewohnheitsrechts. Es ist dabei durchaus sinnvoll für
das Entstehen von Gewohnheitsrecht auch weiterhin: | Kriterien
des
Gewohnheitsrechts |
•
Langdauernde
Übung (longa consuetudo) und | |
•
Rechtsüberzeugung / communis
opinio necessitatis zu fordern. | |
Verschoben hat sich bei der Bildung von Gewohnheitsrecht
seit geraumer Zeit nur der Kreis der Akteure, der die in Entstehung
begriffene Norm mit Rechtsüberzeugung anwendet. Es ist heute idR nicht
mehr das Volk, das diese Übung ausführt, sondern stellvertretend
für das Volk der Rechtsstab in einem weiten Sinn. Es handelt sich
um eine andere Art demokratischer Repräsentation, die hier stattfindet.
Der Rechtsstab umfasst – bspw im Privatrecht – nicht nur die ordentliche
Gerichtsbarkeit, sondern auch die Praxis (Richter, Rechtsanwälte,
Notare etc) und das Schrifttum. Entstandenes Gewohnheitsrecht unterliegt
daher ebenso dem Einfluss des Verfassungsrechts wie gesatztes Recht
und ihm kann ebenso durch gesatztes wie späteres Gewohnheitsrecht
derogiert werden. Der Gerichtsbarkeit käme nicht nur bei der Anwendung,
sondern auch bei der inhaltlichen Gestaltung – dem sprachlichen
Ausdruck – von Gewohnheitsrecht besondere Bedeutung zu. Sie hätte
auch über dessen Einhaltung zu wachen! | |
2. Die Meinung
Armin Ehrenzweigs | |
Armin Ehrenzweig vertritt in seinem System des
österreichischen allgemeinen Privatrechts I/1 Allgemeiner Teil (19512)
eine andere Meinung: | |
„Präjudizien haben
nicht die Kraft des Gesetzes. Das würde niemand bezweifeln, auch
wenn es nicht im [A]BGB stünde. Die Kraft des Gerichtsgebrauches ist
eine andere als die des Gesetzes; sie ist geringer und sie ist größer. Geringer,
weil der Gerichtsgebrauch den Richter nicht bindet, und größer,
weil die Kraft des Gesetzes selbst, seine Wirksamkeit und seine
Bedeutung davon abhängt, ob und wie es angewendet wird: denn nach
der behördlichen Praxis, nicht unmittelbar nach dem Gesetze und
nicht nach den Meinungen der Schriftsteller richtet die Bevölkerung ihr
Verhalten ein. | |
Dem angehenden Richter ist es vielleicht eine freundliche
Vorstellung, dass er an den Gerichtsgebrauch nicht gebunden ist
und sich darum die Mühe ersparen kann, frühere Entscheidungen zu
studieren. Diese Vorstellung ist irrig. Wenn der einzelne Richter
von der bisherigen Übung abgeht, so ist dies ein Unternehmen, das
besonderer Rechtfertigung bedarf. Nicht die Unkenntnis der Übung,
sondern nur die nach reiflicher Prüfung gewonnene Überzeugung von
ihrer Unhaltbarkeit ist eine solche Rechtfertigung. Vergessen wir
nie, dass die Änderung der Rechtsprechung (anders als die des Gesetzes)
zurückwirkt auf Geschäfte, die im Vertrauen auf die bisherige Übung abgeschlossen
worden sind. Vergessen wir aber auch nie, dass der Gerichtsgebrauch
nicht erstarren darf, dass er der allmählichen Fortbildung bedarf.
Tiefgreifende Änderungen gleichsam mit einem Schlage zu vollziehen,
ist die Aufgabe der Gesetzgebung. Die Rechtsprechung verändert das
Recht allmählich, in unermüdlicher Kleinarbeit. Sie vermeidet Überraschungen.
Was stürzen soll, wird zuerst als zweifelhaft hingestellt. An die
Stelle gleichförmiger Entscheidungen treten unsicher schwankende,
ausweichende, widersprechende, die den Rechtsverkehr warnen und vorbereiten,
bis schließlich nach einer unerfreulichen und doch wohltätigen Übergangsperiode
des Tastens und Prüfens immer entschiedener die neue Praxis sich
durchringt. | |
... Diese Aufgabe der Befestigung und der Fortbildung der
Praxis ist in erster Linie dem obersten Gerichtshof zugewiesen.
Zwar sind die unteren Gerichte an die von ihm angenommenen Rechtssätze
nicht gebunden, aber sie können sich, dank dem Rechtsmittelzuge,
ihrer Anwendung auf die Dauer nicht entziehen.” | |
 | Abbildung 11.18: Rechtsquellen des Privatrechts |
|
3. Das Gewohnheitsrecht
in der Rechtsgeschichte | |
F. Gschnitzer hat in einer Juristentagsrede (ÖJT 1967, II
6. Teil, 24 ff) darauf hingewiesen, dass dem Gewohnheitsrecht in
der Rechtsgeschichte gegenüber dem gesatzten Recht der „Vorrang” gebührt. | |
•
Mag auch gerade in Europa durch
das frühe und hochentwickelte Rechtsdenken der alten Griechen das
Gesetzesrecht (zunächst ab der Mitte des 7. Jahrhunderts v. C. der
Thesmos, dann ab dem Ende des 6. Jahrhunderts v. C., der neue Nomos)
bereits im 7. Jhd v. C. eine Rolle gespielt haben; das Gewohnheitsrecht
wurde dadurch – entgegen anderen Meinungen (insbesondere H. J. Wolff)
– keineswegs vollständig verdrängt und spielte in Griechenland bis zuletzt
eine nicht unwichtige Rolle. – Bei den Römern war
dies noch ausgeprägter, da diese mit der griechischen Idee des Gesetzes
nie allzu viel anzufangen vermochten. Sowohl ihre erste und eigentlich
ihre einzige Kodifikation – das Zwölf-Tafelgesetz – war griechisch
inspiriert, und erst recht das Gesetzgebungswerk Justinians. Das Gewohnheitsrecht
dominierte jedenfalls in Rom klar. | Gewohnheitsrecht
in der Rechtsgeschichte |
• „Daß im deutschen Recht das
Gewohnheitsrecht in allen in allen Zeitsbschnitten und Rechtsbereichen
praeter wie contra legem eine massgebliche Rolle spielt, muß kaum
betont werden. Auch die Rezeption vollzog sich so und er von der
Wissenschaft stark beeinflusste usus modernus Pandectarum passte
das übernommene Recht den Bedürfnissen an.” | |
• „Dasselbe gilt für die kirchliche Rechtsgeschichte.
So schon Puchta, der Vater des Gewohnheitsrechtes (2. Teil, 1837,
S. 264 ff). Nach Scherer (…) kann die Existenz kirchlichen Gewohnheitsrechtes
nicht geleugnet werden und gibt es auch eine consuetudo contra legem
zwar nicht gegen das göttliche, wohl aber gegen das positive menschliche
Recht. Nach Jacobsen (…) hat das Gewohnheitsrecht nach der Lehre
der Reformatoren große Bedeutung und geht auch vor Gesetzesrecht.” | |
• „Ein sehr erheblicher Teil des Völkerrechts besteht
aus Gewohnheitsrecht. Längere Zeit dauernde Übung mit Rechtsüberzeugung
wird als Voraussetzung anerkannt und ihm auch derogatorische Kraft
zugesprochen.” (Verdross …) | |
• „Das Verfassungsrecht beruht
in Ländern, die wie England keine geschriebene Verfassung besitzen,
auf Gewohnheitsrecht. Dass auch kodifizierte Verfassungen Platz
für Gewohnheitsrecht lassen, beweisen Dänemark und Norwegen. … Im
schweizerischen Recht besteht nach Lehre und Rechtsprechung ‚die
Eigentumsgewährleistung (als die Garantie eines Grundrechtes!) nicht
nur dort wo sie verfassungsrechtlich ausdrücklich anerkannt ist,
sondern auch kraft ungeschriebenen Rechtes.’ (Meier-Hayoz …) Für
die Lehre vom österr. Verfassungsrecht ist kennzeichnend, dass im
HB von Adamovich-Spanner … Ausführungen über das Gewohnheitsrecht
fehlen. …”. | |
• „Das Verwaltungsrecht spiegelt
die verschiedenen Anschauungen in ganzer Breite wider. Die ältere
österr. Lehre (Herrnritt, …) – in Übereinstimmung mit der älteren
deutschen Lehre – zweifelte nicht am Bestand des Gewohnheitsrechts
neben dem gesatzten Recht. …Die neue österr. Lehre lehnt dagegen
im Hinblick auf Art. 18/I B-VG. Gewohnheitsrecht als ursprüngliche
Rechtsquelle ab (Merkel,…; Antoniolli, …; Adamovich, …). Dagegen
vertritt die deutsche Verwaltungsrechtslehre überwiegend die gleiche
Kraft des Gewohnheitsrechts mit dem gesetzten Recht. Besonders eindrücklich
Forsthoff (…) …” | |
• „Für das Strafrecht spricht
eine Minderheit dem Gewohnheitsrecht jede Bedeutung ab; die konträre
Ansicht gibt ihm gleichen Rang mit dem Gesetz. So auch Rittler (…).
Nach der herrschenden Mittelmeinung kann es zwar strafgesetzliche
Tatbestände aufheben, nicht aber angesichts des Satzes nullum crimen
sine lege neue strafbare Tatbestände begründen …” | |
• „Für das österreichische Zivilprozessrecht vertreten
sowohl Pollak (…) wie Menger (…) – freilich mit abweichenden Begründungen
– ddie Ansicht, dass Gewohnheitsrecht als ebenbürtige Rechtsquelle
bestehe.” Sperl und Petschek-Stagel lehnen dies dagegen ab. (alle
Fundstellen: Gschnitzer, FGL 650 ff) | |
• Schließlich bringt Gschnitzer (FGL 660 ff)
Nachweise von Gewohnheitsrecht im österreichischen Privatrecht.
Er führt an: die Wald- und Wegefreiheit (inclusive Schwämmesuchen
und Beerensammeln); das Anerbenrecht sowie neue Rechtsbildungen;
vgl dazu aber insbesondere schon seine Ausführungen in FGL 465 ff:
„Schafft Gerichtsgebrauch Recht?” | |
Das oftmals totgesagte Gewohnheitsrecht beweist, wenngleich
in sich wandelnder Art und in unterschiedlichen Gebieten der Rechtsordnung,
seine Lebenskraft. Es steht zudem mit dem Gesetzesrecht in einem
funktionalen Wechselspiel; es bereitet Regeln vor, die von der Rechtsüberzeugung der
das Recht handhabenden Kreise geschaffen werden und es mindert seine
Bedeutung nicht, dass der Gesetzgeber dieses gewohnheitsrechtlich
vorgeformte Richter(gewohnheits)recht idF
immer wieder in das gesetzliche Recht aufnimmt. Das Gesetzesrecht
kann sich dann bereits auf eine anerkannte Praxis oder ein funktionierendes
Rechtsinstitut stützen, dessen legistische Inkorporation kein Risiko
mehr darstellt. So unlängst geschehen im Rahmen der deutschen Schuldrechtsreform 2002,
die bspw – die gewohnheitsrechtlich aufbereiteten und seit mehr
als 100 Jahren angewandten Rechtsinstitute – der Störung / des Wegfalls
der Geschäftsgrundlage und der cic ins dtBGB aufgenommen hat. –
Dieses Wechselspiel zwischen dem nicht hoch genug einzuschätzenden
Gesetzesrecht und dem nahe an den Erfordernissen und Entwicklungen
einer sich stets wandelnden Rechtspraxis angesiedelten Richter(gewohnheits)rechts,
sollte gefördert und keinesfalls zerstört werden. Auch für die am
Entstehen von Gewohnheitsrecht beteiligten Personenkreise macht
eine solche Aufgabenteilung die Arbeit interessanter, was ebenfalls
Bedeutung besitzt. – Mit Gschnitzers Schlusssatz in
seiner Juristentagsrede 1967 (FGL 669) will auch ich schließen,
zumal diese Aussage wohl auch noch für unsere Zukunft wichtig ist: | Was können wir
daraus lernen? |
„Es gibt noch Gewohnheitsrecht auf allen
Rechtsgebieten und es wird, ja es muß [wohl], immer Gewohnheitsrecht geben.” | |
Das Leugnen der Existenz von Gewohnheitsrecht ist – neben
der Auseinandersetzung um das Naturrecht – nach wie vor eine der
theoretischen Kampflinien des Rechtspositivismus. | |
E. Gesetz-
und Sittenwidrigkeit |
I. Der „Geist”
der Rechtsordnung | |
Der Gesetzgeber stellt
in § 879 Abs 1 ABGB zweierlei klar: | |
•
Zunächst, dass
Verträge, die gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen,
nichtig sind; und | |
•
zweitens,
dass darüber hinaus auch Verträge, die gegen die guten Sitten verstoßen,
nichtig sind. | |
Diesen Fragen wird in der Folge nachgegangen. | |
1. Verstöße gegen
den „Geist” der Rechtsordnung | |
Gesetze
sind einzuhalten. Ja sie sollten geachtet werden! Ist das Gesetz
doch der normativ geronnene demokratische Wille des Volkes, der
zum Ausdruck gelangt. – Jeder, der Recht und Gesetz bricht, sollte
sich des Zusammenhangs bewusst sein, dass er dadurch eigentlich
sich selbst schädigt. – Jeder Gesetzgeber steht daher vor der Frage,
wie er seine Anordnungen befolgt wissen will. Worin sollen die Konsequenzen
(Rechtsfolgen) bestehen, wenn jemand Gesetze nicht achtet oder sonst
gravierend gegen grundlegende allgemeine rechtliche Wertvorstellungen
(die guten Sitten) – kurz: gegen den „Geist” der Rechtsordnung –
verstößt? Der Rückgriff auf die guten Sitten ist nötig, weil kein
Gesetzgeber alles regeln kann und dies wohl auch nicht will. | |
Hier
zu erwähnen ist auch die stets aktuelle Gesetzesumgehung
→ Die
(Gesetzes)Umgehung Das
römische Recht sprach von in fraudem legis agere, und verstand darunter
– griechisch inspiriert – zwar keinen Verstoß gegen den Wortlaut
– die „verba”, wohl aber gegen die „voluntas / sententia legis”,
also den Geist und wahren Sinn eines Gesetzes (ratio legis) oder überhaupt
des Rechts. | verba <-> voluntas |
2. Die Gute Sitten-Klausel | |
Der Gesetzgeber kann und will
nicht alles durch Gesetze regeln, ge- oder verbieten. Die Gute Sitten-Klausel
ist sein flexibles legistisches Instrument, das
er in die Hand des Richters legt. Sie stammt – wie vieles – aus
dem ALR (I 4 §§ 6 und 7 sowie I 16 §§ 205 f), das dafür allerdings
noch den Begriff der „Ehrbarkeit” verwendet. Den modernen Begriff
prägt dann der frCC: Art 6 und 1133. | Flexibles
legistisches Instrument |
Vgl auch schon § 26 Satz 4 ABGB
von 1811, wo – gemeinsam mit den §§ 878, 879 ABGB aF – das spätere Programm
des § 879 Abs 1 ABGB vorweggenommen wurde. Vgl in der Folge auch §
138 Abs 1 dtBGB: „Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten
Sitten verstößt, ist nichtig”; Abs 2 regelt den Wucher. – Die Schweiz kennt
die Sittenwidrigkeit in den Art 19 Abs 2, 20 Abs 1 und 41 Abs 2
OR. Das OR hat neben den Guten Sitten auch den Begriff der öffentlichen
Ordnung (ordre public) aufrecht erhalten (Art 19 Abs 2 OR); vgl
aber schon § 26 Satz 4 ABGB und idF § 1295 Abs 2 ABGB, § 27 Abs
1 Z 5 MRG, § 6 Abs 1 KSchG und nunmehr § 6 IPRG. | |
Der
Gesetzgeber bedient sich dieses Instruments, um Verstöße
gegen grundlegende rechtliche Wertvorstellungen, die aber
gesetzlich nicht explizit verboten sind, ahnden zu können. Der Richter
hat im Einzelfall zu entscheiden, ob etwas – zB ein bestimmtes Verhalten
oder Unterlassen oder eine Vertragsklausel – sittenwidrig und damit
nichtig ist oder nicht. | Verstöße gegen grundlegende rechtliche Wertvorstellungen |
Die als Generalklausel konzipierte
Gute-Sitten-Klausel (Näheres → Zur
Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen)
hilft dem Rechtsanwender somit, den „Geist” des Gesetzes, ja der
Rechtsordnung auch zu wahren, wenn keine gesetzliche Anspruchsgrundlage
zur Verfügung steht. Sie gewährt demnach eine allgemeine gesetzliche –
nicht näher spezifizierte – Anspruchsgrundlage zur Verteidigung
der Grundwerte der (Privat)Rechtsordnung. – Der Richter
trägt dabei hohe Verantwortung. | Generalklausel |
Es war K. A. v. Martini, der
erstmals in der Neuzeit der Richterschaft jenes Vertrauen seitens
des Gesetzgebers im Rahmen der Rechtsanwendung entgegenbrachte,
das bis dorthin auch die Aufklärung des 18. Jhd nicht zustandegebracht
hatte. Es hat sich gelohnt, dass er die damit verbundenen Anfeindungen
ertragen und seine wohlüberlegten Vorschläge nicht zurückgenommen
hat. In der richterlichen Kompetenz der Lückenfüllung (im Einzelfall)
durch den späteren § 7 ABGB sowie Generalklauseln und unbestimmte
Rechtsbegriffe war eine Konkurrenz der alleinigen Gesetzgebungsbefugnis
des Landesfürsten erblickt worden. – Enttäuscht wurde dieses Vertrauen
des Gesetzgebers in die Richterschaft im Laufe der Geschichte nur
selten, gravierend aber in der Zeit des Nationalsozialismus. | |
3. Rechtsquelle
– „Gute Sitten” | |
Die
Hereinnahme des § 879 ABGB in dieses Kapitel erfolgte nicht zufällig:
Denn das Feststellen einer Gesetz- und erst recht das von Sittenwidrigkeit
verlangt interpretatives Geschick; darüber hinaus wird durch die
Bezugnahme unserer Bestimmung auf die Generalklausel der „Guten
Sitten” eine Rechts- und Beurteilungsquelle von beachtlicher gesellschaftlicher
Relevanz geschaffen, die das Privatrecht in die Lage versetzt, rasch
und flexibel auf gesellschaftliche Ereignisse und Änderungen – auch
ohne Hilfestellung durch den Gesetzgeber – zu reagieren und – wenigstens
– im Einzelfall eine vorläufige richterliche Entscheidung eines
gesetzlich nicht geregelten Sachverhalts vorzunehmen. Mit dieser
Bestimmung setzte der Gesetzgeber in die Richterschaft enormes Vertrauen,
das aber zum Wohle des Ganzen nötig erscheint. Manchmal würde man
sich mehr und ein rascheres Einfühlungsvermögen in den gesellschaftlichen
Wandel und die Beurteilung neuer Sachverhalte wünschen. So hat es
in Österreich – im Vergleich zu Deutschland – bspw sehr lange gedauert,
bis bestimmte Bürgschaftsübernahmen als sittenwidrig erkannt wurden → Weitere
Beispiele zur allgemeinen Sittenwidrigkeit Und manche
Entscheidung grenzt an die vom ABGB wie dem Code Civil zutiefst
abgelehnte Rechtsverweigerung; vgl die E des OGH (5.2.1996, 6 Ob
2325/96x, ÖWR 1998, E 19 = wobl 1997/39: Stabentheiner), mit der
er es ablehnte, das auch für Lebensgefährten/innen statuierte Eintrittsrecht (§
14 MRG → KAPITEL 6: Anwendungsbereich
des MRG) auf gleichgeschlechtliche Lebensgefährten/innen
zu erstrecken. Mut und gesamtgesellschaftliche Optik tut dem Richterstand
aber immer gut. – Zuletzt soll noch auf die innere Verwandtschaft
des § 879 mit § 7 ABGB hingewiesen werden, diese großartige Schöpfung
Martinis, deren Funktion § 879 ABGB fortsetzt. | Rechts-
und
Beurteilungsquelle von gesellschaftlicher Relevanz |
II. Unerlaubtheit
allgemein | |
1. „Nichtig”
iSd § 879 Abs 1 ABGB | |
§
879 ABGB regelt also zweierlei: | |
•
Verstöße gegen
ein (ausdrückliches) gesetzliches Verbot und | |
•
Verstöße
gegen die guten Sitten, die demnach – obwohl nicht
normiert – ebenfalls Teil der Rechtsordnung sind. Verstöße gegen
die guten Sitten sind daher rechtswidrig. – Freilich handelt es
sich dabei nicht um explizit ausformuliertes Recht; es muss vielmehr
erst durch den Richter – im Einzelfall – gewonnen und festgestellt,
also konkretisiert werden. | |
§ 879
Abs 1 ABGB enthält die wichtigste Generalklausel des österreichischen
Privatrechts. Die Abs 2 und 3 geben Beispiele dafür, was dem Gesetzgeber
in Abs 1 als gesetz- und sittenwidrig vorgeschwebt ist. Dadurch
wird die „abstrakt” gehaltene Generalklausel konkreter, anschaulicher, mithin
für den Rechtsanwender und Rechtsadressaten fasslicher. | Wichtigste
Generalklausel des österreichischen Privatrechts |
Es
war Martinis Verdienst, als erster die legistische Bedeutung einer
Abkehr von sog Kasuistik erkannt und an deren Stelle
bewusst (!) allgemeine und unbestimmte Rechtsbegriffe, Generalklauseln,
überhaupt Generalisierung sowie den Mut zur Lücke gesetzt zu haben.
– Dies in Abkehr vom preußischen Landrecht (ALR) und noch vor dem
frCC. Bedauerlicher Weise wurde diese großartige Leistung der abendländischen
Rechtsgeschichte der Neuzeit von der Rechtsgeschichte kaum zur Kenntnis
genommen. – Zu Martinis legistischen Maximen und seiner Konzeption
eines Volksgesetzbuchs: Barta,
in: Barta / Palme / Ingenhaeff (Hg),
Naturrecht und Privatrechtskodifikation 26 ff und 38 ff (1999) und
nunmehr auch in: Barta / Pallaver / Rossi / Zucchini (Hg),
Storia, Istitutioni e diritto in Carlo Antonio de Martini (1726-1800)
87 ff (2002). | Abkehr von sog Kasuistik |
|
Wie ernst die Judikatur Verstöße gegen die guten
Sitten nimmt, zeigt die E des OGH, JBl 1987,
334. Danach braucht eine am Vertragsabschluss
selbst beteiligte Partei den Vertrag nicht zuzuhalten, wenn der Vertragsinhaltsittenwidrig war;
mag die Partei dies auch gewusst haben. – Im konkreten Fall ging
es darum, dass die Darstellerin eines Pornofilms nach
ihrer Eheschließung die Fertigstellung des Films (Nachdreharbeiten)
ablehnte, weil ihr Mann dies nicht wollte. – Aus der E-Begründung
des OGH: „Ein Arbeitsvertrag, in dem sich der Arbeitnehmer zur Darbietung
geschlechtlicher Betätigung in einem ,scharfen’ Sexfilm verpflichtet,
ist nichtig ... Auch ein Vertragspartner, der selbst gegen die guten
Sitten verstoßen hat, kann sich auf die Nichtigkeit des Vertrages
berufen. Der Einwand, er handle damit gegen Treu und Glauben, kommt
dagegen nicht in Betracht.” – Der OGH bewertet die Vertragstreue
in diesem Fall zu Recht geringer, als den Wunsch der Frau und ihres
Mannes aus diesem Vertrag auszusteigen. | |
|
 | |
2. Die
Beispiele des § 879 Abs 2 ABGB | |
Der Gesetzgeber gibt in § 879 Abs 2 ABGBBeispiele dafür,
welche Verträge er – auf jeden Fall – als „nichtig”, dh als absolut
ungültig, ansieht. | |
Es sind dies: | |
•
EhevertragZ
1: „wenn etwas für die Unterhandlung eines Ehevertrages bedungen
wird”; | |
•
Z
1a: „wenn etwas für die Vermittlung einer medizinisch unterstützten
Fortpflanzung bedungen wird” (seit BGBl 1992/275: FMedG); | Fortpflanzungsmedizin |
 | |
 | |
•
Z
2: „wenn ein Rechtsfreund eine ihm anvertraute Streitsache ganz
oder teilweise an sich löst oder sich einen bestimmten Teil des
Betrages versprechen lässt, der der Partei zuerkannt wird” (sog quota
litis); | quota litis |
|
OGH 19. 9. 2000, 10 Ob 91/00f, SZ 73/144 = JBl 2001, 229
= EvBl 2001/27: Die Abtretung der
Honorarforderung eines Rechtsanwalts an einen anderen ist
zwar nicht vom Verbot des Ansichlösens der Streitsache (§ 879 Abs
2 Z 2 ABGB) erfasst; weil aber mit der Abtretung auch die Übergabe
der Unterlagen, welche die abgetretene Forderung begründen, verbunden
ist, liegt jedoch nach § 879 Abs 1 ABGB iVm § 9 Abs 2 RAO (Verschwiegenheitspflicht)
absolute Nichtigkeit vor. | |
|
•
Z 3: „wenn eine Erbschaft oder
ein Vermächtnis, die man von einer dritten Person
erhofft, noch bei Lebzeiten derselben veräußert wird;” | Lebzeitige
Veräußerung einer Erbschaft |
•
Z
4: Wucher”wenn jemand den Leichtsinn, die Zwangslage,
Verstandesschwäche, Unerfahrenheit oder Gemütsaufregung eines anderen
dadurch ausbeutet, dass er sich oder einem Dritten für eine Leistung
eine Gegenleistung versprechen oder gewähren lässt, deren Vermögenswert
zu dem Werte der [eigenen] Leistung in auffallendem Missverhältnis
steht.” – Zu den Voraussetzungen des Wuchers vgl die folgenden Beispiele. | Wucher |
|
SZ 24/306 (1951): Die Bestimmungen
über den Wucher gelten auch für Handelsgeschäfte, Gesellschafts-
und Glücksverträge. | |
|
Wucher setzt
nach der Rspr SZ 27/19 (1954) voraus: | Kriterien des Wuchers |
a) ein auffallendes objektives Missverhältnis zwischen
Leistung und Gegenleistung zur Zeit des Vertragsschlusses; | |
b) bestimmte Eigenschaften
des Bewucherten, die die Wahrnehmung seiner Interessen
hindern (SZ 43/194 (1970): „Verstandesschwäche”
minderen Grades genügt; JBl 1931, 242: Wer sich auf „Gemütsaufregungen”
beruft, muss beweisen, dass diese dem Gegenteil wenigstens bekannt
sein musste); | |
c)
(subjektive) Eigenschaften des Wucherers, nämlich Ausbeutungsabsicht. | |
MietSlg 38.073 (1986)Wer den Tatbestand
des § 879 Abs 2 Z 4 ABGB behauptet, hat konkret dazutun (Beweislast),
worin die einzelnen gesetzlichen Tatbestandmerkmale zu erblicken
sind und durch welche Beweismittel dies bewiesen werden kann. | |
III. „Gesetzliches
Verbot” | |
1. Zu weite Formulierung
des § 879 Abs 1 ABGB | |
•
Der Wortlaut des
§ 879 Abs 1 ABGB sanktioniert – in der Fassung der III. TN – scheinbar jedes Rechtsgeschäft,
das gegen ein „gesetzliches Verbot” verstößt, mit Nichtigkeit. Das
wäre aber zuviel des Guten. Die hM interpretiert (genauer: reduziert
teleologisch! → Die
teleologische Reduktion) daher die Generalklausel einschränkend
– in Anlehnung an § 134 dtBGB –und nimmt Nichtigkeit nur: | |
• bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung,
aber auch dann an, | |
• wenn der Gesetzeszweck (die
sog ratio legis) dies erfordert. | |
Nicht jeder Gesetzesverstoß führt demnach automatisch zur
Nichtigkeit eines Rechtsgeschäfts; daher zB keine Nichtigkeit eines
Kaufvertrags außerhalb der Ladenschlusszeit, aber Nichtigkeit eines
Umgehungsgeschäfts im Ausländergrundverkehr. | |
 | |
2. Die Rechtsfolgen
unerlaubter Geschäfte | |
Die gesetzlichen Rechtsfolgen für unerlaubte Geschäfte sind
unterschiedlich festgesetzt, die Sanktionen variieren: | |
•
Nichtigkeit des
ganzen Geschäfts oder nur | |
•
Teilnichtigkeit (zB
einer Klausel); oder | |
•
Gültigkeit + Verwaltungsstrafe (zB
bei Missachtung der Errichtung eines Ratenbriefs → KAPITEL 2: Das Abzahlungsgeschäft)
nach § 24 Abs 3 iVm § 32 KSchG. | |
 | Abbildung 11.19: Verstoß gegen § 879 ABGB: Rechtsfolgen |
|
IV. Die
(Gesetzes)Umgehung | |
 | |
1. Was ist eine
Umgehung? | |
Die Umgehung,
das in fraudem legis agere des römischen Rechts, versucht ein rechtlich
unerlaubtes / unmögliches Ziel auf einem scheinbar gangbaren Weg
zu erreichen. Dabei wird der „Wortlaut” des Gesetzes zwar vielleicht
formal erfüllt, ohne aber seinem Sinn und Zweck gerecht zu werden.
Bei der Umgehung ist also nicht nur ein bestimmter Weg zum Ziel
(wie beim Umweggeschäft → KAPITEL 5: Umweggeschäfte),
sondern das Ziel selbst verboten / unerlaubt. | |
Beachte: Jede „Umgehung” ist nichtig! | |
| |
|
JBl 1989, 780: Wird beim Ankauf
einer Liegenschaft der Vertrag vom Käufer nur als Treuhänder abgeschlossen,
um die grundverkehrsbehördliche Genehmigung des
Eigentumserwerbs durch den Treugeber zu umgehen, so liegt ein [unerlaubtes]
Umgehungsgeschäft und kein bloßes Scheingeschäft iSd
§ 916 ABGB vor. | |
|
|
NKZ 20.11.1993, S. 13: „Grundverkehrsgesetz
bewährt sich – 99 Jahre Miete war Wohnungserwerb! Mit
einem für 99 Jahre geltenden, unkündbaren Mietvertrag tarnte ein
Deutscher in Kitzbühel ein Umgehungsgeschäft. Das Land Tirol hatte
jedoch Feststellungsklage eingereicht. Erstmals entschied kürzlich das
Landesgericht Innsbruck, dass in so einem Fall kein Mietverhältnis
eingegangen, sondern Wohnungseigentum erworben wurde. Damit hat
das neue Tiroler Grundverkehrsgesetz seine Feuertaufe bestanden.” Eine
typische aus zahlreichen Umgehungsvarianten, um den Ausländergrundverkehr”auszuhebeln”
war – inländischer Treuhänder (zB eine „Wohnungseigentumsgesellschaft”als
Strohmann) wird / bleibt formeller Eigentümer, die materiellen Käufer
werden bloß Mieter, Pächter oder Kommanditisten der Wohnbaugesellschaft.
Tiroler Wohnbauvereinigungen schlossen bekanntermaßen, gebilligt
von „allerhöchster Politik” (TT) zur Umgehung des Tiroler Grundverkehrsgesetzes
tausende 100jährige Mietverträge ab. Tiroler Rechtsanwälte verhöhnen
die Rechtsordnung durch den Abschluss von (Umgehungs)Bestandverträgen
auf 500 (!) Jahre! | |
|
 | |
 | |
|
”Mietzinsvorauszahlung
als verbotene Ablöse [§ 27 Abs 1 Z 1 MRG] .... Der Mieter
einer Wohnung in Wien hatte dem Vermieter beim Vertragsschluss eine
Mietzinsvorauszahlung von 25.800 S übergeben, was genau 6 Monatsmieten
zu 4.300 S entsprach. Tatsächlich sollte das Geld an die Stelle
von 6 monatlichen Zinszahlungen treten, aber nicht etwa zu Beginn
des unbefristeten Vertrages, sondern vor dessen Ende: Während der
vereinbarten 6-monatigen Kündigungsfrist würde der Mieter keinen
Zins mehr zahlen müssen, so die damalige Abmachung. Die ließ der
OGH jedoch nicht gelten. „Eine Einmalzahlung ist ... dann ausnahmsweise
keine verbotene Ablöse, wenn es sich um eine echte Mietzinsvorauszahlung
handelt„ .... Eine solche Vorauszahlung „muss von den Vertragsparteien
von vornherein bestimmten Zeiten zugeordnet werden .... Hiebei muss
der Zeitraum, für den die Mietzinsvorauszahlung geleistet wird,
von vornherein datumsmäßig bestimmt oder zumindest bestimmbar sein.”
Die Klausel, nach der die Vorauszahlung in den letzten 6 Monate
des Mietverhältnisses zu verrechnen sei, „würde es ermöglichen,
den Verrechungszeitraum uU in eine unabsehbare zeitliche Ferne zu
verlegen und solcherart das Ablöseverbot zu umgehen„ .... Der Mieter
darf nun seine Vorauszahlung zurückverlangen ....” (Die Presse,
17.6.1995, S. 26) | |
|
|
Oder: Ketten(arbeits)verträge,
um Arbeitnehmer um ihre Rechte zu bringen: etwa Kündigungsfristen, Urlaub
oder Abfertigung. – Kettenverträge werden von der Rspr als Arbeitsverträge
auf unbestimmte Zeit behandelt, wenn nicht besondere wirtschaftliche
oder soziale Gründe den Abschluss wiederholter (meist zeitlich unmittelbar
hintereinander liegender), auf bestimmte Zeit abgeschlossener Verträge
als sozial gerechtfertigt erscheinen lassen; vgl zB SZ 26/233 = ArbSlg 5823 (1953) oder ArbSlg 10.149 (1982): Rechtfertigende
besondere Umstände sind in jedem Einzelfall zu prüfen. | |
|
V. Gegen
die guten Sitten | |
 | |
1. Sittenwidrigkeit:
Unterfall der Rechtswidrigkeit | |
Die Sittenwidrigkeit ist
ein „Unterfall” der Rechtswidrigkeit und dient der
Rechtsordnung als Korrektiv, wenn gegen ihre Grundsätze, ihren „Geist”
verstoßen wird. Die gute Sittenklausel des § 879 Abs 1 ABGB ist
ein Instrument gerade für jene Fälle, die gesetzlich nicht (ausdrücklich)
geregelt sind. Sie dient somit als (richterliches) Instrument der
Lückenschließung ( → §
7 ABGB: Die Lückenschließung) und gibt dem Richter die Möglichkeit,
im Einzelfall ein Verhalten oder Unterlassen als mit der Rechtsordnung unvereinbar
zu erklären, obwohl dieses Verhalten gesetzlich oder vertraglich
nicht ausdrücklich verboten ist. | |
Was
bedeutet der Begriff „Generalklausel”?
| |
Generalklausel ist eine Bezeichnung für
eine gesetzliche Formulierung, welche den Tatbestand / die Tatbestandsvoraussetzungen
einer Norm – verglichen mit andern, „normalen” Normen – bewusst
weiter und allgemeiner fasst, um eine möglichst effektive und flexible
Anwendung in der Rechtspraxis zu gewährleisten. Hier wird dies durch
die Formulierung erreicht: | |
„Ein Vertrag, der … gegen die guten Sitten
verstößt …”. | |
Der
Gesetzgeber will damit Rechtsanwender in die Lage versetzen, unerwünschte
rechtliche Ergebnisse / Entwicklungen schon im Einzelfall korrigieren
zu können, ohne selbst eingreifen zu müssen. Der Gesetzgeber delegiert
mit einer Generalklausel einen Teil seiner Rechtssetzungsmacht an
den Rechtsanwender, der im Einzelfall unter Zugrundelegung der in
der Generalklausel allgemein umschriebenen Wertungen festzustellen
hat, ob ein von einer Partei gewünschtes oder erzieltes rechtliches
Ergebnis, den von der Rechtsordnung statuierten Grundwertungen entspricht oder
nicht. Vgl auch → Zur
Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen
| Korrektur unerwünschter Ergebnisse |
2. Andere berühmte
Generalklauseln | |
 | |
•
§ 1 UWG | |
„Wer im geschäftlichen
Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Handlungen vornimmt, die gegen
die guten Sitten verstoßen, kann auf Unterlassung
und Schadenersatz in Anspruch genommen werden.” | |
• § 30 Abs 1 MRG | |
„Der Vermieter kann nur aus wichtigen
Gründen den Mietvertrag kündigen.” | |
•
§ 16 ABGB: Generalklausel
für Persönlichkeitsrechte. | |
3. Weitere Rspr-Beispiele
zur Frage der Sittenwidrigkeit: | |
|
EvBl 1976/9: Ein Arbeitnehmer beabsichtigte
seinen Arbeitsplatz zu wechseln, wurde aber durch Zusagen seines
Chefs (zB auf höheres Gehalt etc) zum Bleiben bewogen und sagte
dem „neuen Arbeitgeber” ab. In der Folge machte sein Arbeitgeber
die gemachten Zusagen davon abhängig, dass sein Arbeitnehmer eine Konkurrenzklausel (§
36 AngG) unterschreibt, über die ursprünglich nicht gesprochen worden
war. – OGH: Da sich die Sittenwidrigkeit eines Rechtsgeschäfts aber
nicht nur aus seinem Inhalt, sondern auch aus dem Gesamtcharakter
der Vereinbarung – iS einer zusammenfassenden Würdigung von Inhalt, Beweggrund
und Zweck – ergeben kann, kommt es bei der Beurteilung nach § 879
Abs 1 ABGB inbesondere auch auf alle jene Umstände an, unter denen
das Rechtsgeschäft abgeschlossen wurde. – Die (nachträglich geforderte)
Konkurrenzklausel wurde in concreto – weil sittenwidrig – als nichtig
angesehen. | |
|
|
ÖBl
1988, 38: § 1 UWG wird angewandt, um das ” Schmieren” von
Reiseleitern und Busfahrern, damit sie die Gäste zu einem bestimmten
Restaurant bringen, als sittenwidrig und damit unerlaubt zu qualifizieren.
§ 1013 ABGB (Geschenkannahmeverbot) enthält ein Schmiergeldverbot. | |
|
|
EvBl 1998/187: § 1 UWG – Zur Sittenwidrigkeit
gefühlsbetonter Werbung ( Opferlicht): Sittenwidrigkeit wurde
hier verneint; vgl auch → KAPITEL 4: Grundrechte
und Privatrecht. | |
|
|
JBl
1987, 36 = SZ 59/130 – Lokalverbot eines
niederösterreichischen Multifunktionärs: Ein Lokalverbot ist sittenwidrig
und der Gastwirt daher zu Aufnahme und Bewirtung verpflichtet, wenn
der abgewiesene Gast aus beruflichen und gesellschaftlichen Gründen
(zB als Bauernbundfunktionär, Feuerwehrobmann, Pfarrkirchenratsmitglied
usw) zum Besuch dieses Gasthauses als dem praktisch einzigen der
näheren Umgebung ohne Ausweichmöglichkeit genötigt ist und die Zurückweisung
als soziale Diskriminierung empfunden wird. Eine persönliche Konfrontation
zwischen Wirt und Gast rechtfertigt die Zurückweisung nicht, wenn
der Gast sich dabei anständig benommen hat. – Zu beachten war hier
neben der Sittenwidrigkeit und § 16 ABGB (Persönlichkeitsrechtsverletzung)
auch der Missbrauch der wirtschaftlichen Monopolstellung; einziges
Gasthaus im Ort! | |
|
| |
|
SZ
69/176 (1996): Sponsorvertrag für
das Auftreten der drei Tenöre (Carreras, Domingo
und Pavarotti) im Wiener Praterstadion – Macht ein Zeitungsunternehmen
die Veröffentlichung eines Inserats für die von einem Konkurrenzunternehmen
gesponserte Veranstaltung davon abhängig, dass das Logo dieses Mitbewerbers
aus dem Inserat entfernt wird, so widerspricht diese Verhaltensweise
nicht den guten Sitten iSd
§ 1 UWG. Vgl auch → KAPITEL 5: Allgemeines
zur Vertragsfreiheit:
Vertragsfreiheit. | |
|
|
OGH 24.2.1999, 9 Ob A 34/99m: Bestellung
eines gewerberechtlichen Scheingeschäftsführers ist
sittenwidrig (Konzessionsüberlassung); absolute Nichtigkeit. | |
|
|
OGH 24. 11. 1999, 3 Ob 229/98t, JBl 2000, 513:
Der Unterhaltsanspruch zwischen geschiedenen Ehegatten ist
nicht zur Gänze Dispositivrecht; daher Sittenwidrigkeit des Beharrens
auf einem Unterhaltsverzicht auch für den Fall der Not, wenn bei
streitiger Scheidung ein Unterhaltsanspruch bestünde. | |
|
|
OGH 13. 2. 2001, 4 Ob 324/00a, EvBl 2001/137:
Didaktisch interessante und übersichtlich gegliederte Ausführungen
zur Frage der Sittenwidrigkeit eines Bestandvertrags.
– OGH lehnt Sittenwidrigkeit wohl zurecht ab, mag der Vermieter
auch 40 Jahre Kündigungsverzicht, einen Verzicht auf Irrtumsanfechtung und
eine Ersatzpflicht für Zubauten ausverhandelt haben. | |
|
| |
Die guten Sitten sind nicht
mit der allgemeinen Moral gleichzusetzen. Die Moral besteht aus Zweckmäßigkeitsregeln
einer Gesellschaft, um ihren Bestand zu sichern. Die guten Sitten
als (gesetzliche) Vorschrift des geltenden (Privat)Rechts verlangen
grundsätzlich mehr und gehen über die Moral hinaus. Sie sanktionieren
Verstöße gegen wichtige (wenn auch nicht ausformulierte) Grundsätze
des Gesetzgebers. | |
Zutreffend erscheint
es, weder das Recht (samt seinen guten Sitten) mit der Moral gleichzusetzen, noch
die beiden Begriffe völlig zu trennen. Ein Recht ohne Moral erscheint
ebenso undenkbar, wie ein völliges Identifizieren von Moral
und Recht / guten Sitten. – Die Praxis des OGH scheint der
hier angebrachten Synthese nahe; EvBl 1980/117. | Recht ohne Moral? |
Das Recht ist also
nicht gleichzusetzen mit der (Gesellschafts)Moral, aber wesentliche
Teile des Rechts entsprechen der allgemeinen Moral einer Gesellschaft.
Und die Gesellschaftsmoral ist wiederum ein ganz wesentlicher Teil
jenes gesellschaftlichen Wertkonglomerats, aus dem die rechtlich so
bedeutsamen guten Sitten geschöpft werden, zumal diese gerade dort
rechtlich „greifen” sollen, wo der Gesetzgeber keine oder doch keine
ausdrückliche Anordnung getroffen hat. Das zeigt: Recht, gute
Sitten und (Gesellschafts) Moral stehen in Wechselwirkung,
ohne miteinander identisch zu sein. Es gibt zwischen ihnen Überschneidungs-,
aber auch Differenzbereiche. Das zeigt sich auch darin, dass Rechts-,
Sittenwidrigkeits- und Moralurteile häufig übereinstimmen. | Wechselwirkung |
|
EvBl 1980/117 (Personalbereitstellungsunternehmen behält
sich Recht vor, einseitig das Arbeitsentgelt von Arbeitnehmern zu
bestimmen): „Ein Vertrag widerstreitet dann den guten Sitten iSd
§ 879 ABGB, wenn er dem Rechtsgefühl der Rechtsgemeinschaft –
das ist die Gemeinschaft aller billig und gerecht Denkenden –
widerspricht und somit grob rechtswidrig ist. Sittenwidrigkeit ist
inbesondere dann anzunehmen, wenn die vom Richter vorzunehmende
Interessenabwägung eine grobe Verletzung rechtlich geschützter Interessen
oder bei Interessenkollisionen ein grobes Missverhältnis zwischen
den durch die Handlung verletzten und den durch sie geförderten
Interessen ergibt .... Unter den guten Sitten ist der Inbegriff
jener Rechtsnormen zu verstehen, die im Gesetz nicht ausdrücklich
ausgesprochen sind, die sich aber aus der richtigen Betrachtung
der rechtlichen Interessen ergeben. Die guten Sitten werden mit
dem ungeschriebenen Recht gleichgesetzt, zu welchem neben den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen auch die allgemein anerkannten Normen der Moral
gehören.” | |
Dieses billigenswerte
Verständnis der „guten Sitten” entspricht in etwa dem ungeschriebenen
Recht der griechischen Frühzeit, das ebenso aus verschiedenen Wertfacetten
der Gesellschaft / Polis bestand wie (Gewohnheits)Recht, Kultur,
Religion, Moral, Brauch, Sitte und altes Herkommen. Max Weber bezeichnete
diese normative gesellschaftliche Wertsynthese als nomologisches
Wissen. Im alten Griechenland spielte es bis zum letzten
Viertel des 7. Jhd v. C. eine dominierende Rolle und verlor auch
nach der drakontischen (624/3 v. C.) und solonischen Gesetzgebung
(594/3 v. C.) keineswegs seine Bedeutung. Noch im 5. Jhd. v. C.
wurde – ausgelöst von den Sophisten – um die Beziehung und Gestaltung
von Nomos und Physis gerungen. | Moral als Wertsynthese? |
|
| |
Ähnlich den guten
Sitten wirkt der – aus dem dtBGB stammende, von Gschnitzer als „Zwillingsschwester”
der „Gute Sitten-Klausel” bezeichnete – Rspr-Grundsatz von „Treu
und Glauben”. | |
Vgl § 242 dtBGB: „Der Schuldner ist verpflichtet,
die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf
die Verkehrssitte es erfordern”; Leistung nach Treu und Glauben.
– Oder § 157 dtBGB: „Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben
mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern”; Auslegung von
Verträgen nach Treu und Glauben und nach der Verkehrssitte. | §
242 dtBGB |
Während das ABGB von 1811 keine Regelung
des Treu und Glauben-Grundsatzes kennt, war dies in den Vorstufen
unserer (Privatrechts)Kodifikation noch anders. Der Codex Theresianus
III 2 Num 171 etwa formulierte: | ABGB
von 1811 – CodTher |
„Bei allen Verträgen muss vornehmlich auf
Treu und guten Glauben gesehen, ... werden.” | |
Der Treu
und Glauben-Grundsatz gilt vor allem für das Schuldrecht und betrifft
Fragen der korrekten Erfüllung der geschuldeten Leistung, untersagt
aber über das Schuldrecht hinaus generell missbräuchliche Rechtsausübung → Rechtsmissbrauch
und Schikane Dieser
Grundsatz gilt in „konkreten Rechtsbeziehungen”; Gschnitzer, SchRAT 2 50. | Bedeutung im Schuldrecht |
Rechtshistorisch
ist er ein Nachfahre der römischrechtlichen exceptio doli (Einrede
der Arglist), die im modernen Recht nicht mehr einredeweise geltend
gemacht werden muss, sondern eine inhaltliche Anspruchsschranke
darstellt, die von Amts wegen wahrzunehmen ist. Die Römer haben
den Begriff von den Griechen übernommen, wo er
bspw in der „Nikomachischen Ethik“ des Aristoteles vorkommt. – Der
Grundsatz von Treu und Glauben reicht demnach über die Sittenwidrigkeit
und das Schikaneverbot ( → Rechtsmissbrauch
und Schikane)
hinaus, ergänzt aber diese Rechtsbehelfe. | |
Eine Umschreibung des Grundsatzes findet sich in SZ 51/103
(1978): | |
„Der rechtsgeschäftliche Verkehr darf nicht
dazu missbraucht werden, einen anderen hineinzulegen, sondern soll sich
ehrlich abspielen. Auch die Erfüllung von Verträgen [und nicht nur
ihr Abschluss!] hat nach den Grundsätzen von Treu und Glauben zu
geschehen. Der Zweck des Vertrages hat über seinen Wortlaut zu triumphieren.” | |
Unser Grundsatz schützt
beide Vertragsteile, also Schuldner und Gläubiger, statuiert aber
für beide Seiten unterschiedliche Pflichten; so führt unsere Regel,
die partiell auch gesetzlich gewisse inhaltliche Ausformungen erfahren
hat, bspw dazu, dass sich der Gläubiger nicht auf
eine „unerhebliche Minderung des Wertes” iSd § 932 Abs 2 ABGB (Gewährleistung)
oder offenkundige Mängel (§ 928 ABGB) berufen kann; für den Schuldner kann
sich aus ihrer Anwendung eine Einschränkung (zB Unzumutbarkeit oder
Unerschwinglichkeit der Leistung mit Übergängen zur Unmöglichkeit) oder
allenfalls auch eine Erweiterung seiner Leistungspflicht/en (selbständige
und unselbständige Nebenleistungspflichten wie Verwahrung, Unterlassung
oder Aufklärung) ergeben. | Grundsatz
schützt beide Vertragsteile |
Diese Einsichten stammen wiederum aus dem
alten Griechenland und wurden bereits von Demosthenes und Aristoteles
etc formuliert. | |
So trifft nach Treu
und Glauben den Händler gegenüber seinen Kunden die Pflicht zur
Kontrolle der gehandelten Ware und zur notwendigen Aufklärung nach
dem Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB; der Händler kann sich dabei
aber – nach der Rspr – idR auf die Richtigkeit und Vollständigkeit
der vom Produzenten gegebenen Hinweise und Gebrauchsanweisungen
verlassen; vgl SZ 54/116 (1981). | |
 | |
|
Ein wichtiger
Anwendungsbereich des Treu und Glaubens Grundsatzes liegt im Gesellschaftsrecht;
vgl etwa EvBl 1999/129:
§ 61 GmbHG – Zur Treuepflicht von GmbH-Gesellschaftern. | |
|
|
JBl 1999, 380: Der Versuch eines
Vertragspartners, von der mehrere Jahrzehnte geübten einvernehmlichen
Vertragshandhabung abzuweichen, kann gegen Treu und Glauben
verstoßen; Auslegung einer Reallast des Wasserbezugs. | |
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 | Abbildung 11.20: Rechtswidrigkeitszwiebel |
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6. Rechtsmissbrauch
und Schikane | |
Eine andere Ergänzung
der Sittenwidrigkeit sind Rechtsmissbrauch (§ 1305 ABGB) und Schikane (§§
1295 Abs 2, 2. HalbS), die als Erscheinungsform des Rechtsmissbrauchs
angesehen wird. Beide Rechtsfiguren kommen in ganz verschiedenen
Bereichen der Rechtsordnung vor; etwa Missbrauch der Verjährungseinrede
(SZ 47/17), im Pflichtteilsrecht (JBl 1995, 584: Pflichtteilsverzicht),
Markenschutzrecht (RdW 1997, 456) oder bei einer Bankgarantie: SZ
66/140. | |
Rechtsmissbrauch und Schikane entstammen
genetisch-historisch, wie die Sittenwidrigkeit und der Treu und Glauben-Grundsatz
dem griechischen Billigkeitsdenken (Epieikeia),
das zur römischen aequitas und schließlich den
erwähnten modernen Facetten dieses Denkens wurde. | |
§ 1305 ABGB stellt klar, | §
1305 ABGB |
• dass derjenige, der
„von seinem Rechte innerhalb der rechtlichen Schranken (§ 1295 Abs
2 ABGB) Gebrauch macht, [für] den für einen anderen daraus entspringenden
Nachteil nicht” verantwortlich gemacht werden kann; | |
• denn wer sein Recht ausübt, handelt nicht rechtswidrig. | |
Wird dieses Maß überschritten, stehen den davon Betroffenen Unterlassungs- und
bei Verschulden Schadenersatzansprüche zu; vgl
RZ 1998/1: Rspr-Beispiele. | |
Der erst durch die III. TN eingefügte §
1295 Abs 2 ABGB, der besser in den Zusammenhang des § 1305
ABGB aufgenommen worden wäre, fordert für die Annahme von Rechtsmissbrauch
/ Schikane, dass | §
1295 Abs 2 ABGB |
• „die Ausübung des
Rechts offenbar den Zweck hatte, den anderen zu
schädigen”, also | |
• die Rechtsausübung
in
Schadenzufügungsabsicht erfolgte. | |
Die Rspr legte dann noch (zu lange) ein „Schäuferl” drauf
und verlangte, dass die Rechtsausübung offenbar „nur”
(!) eine bestimmte Schädigung beabsichtigte, wodurch die Norm ihren
„Biss” verlor. | |
Diese Position ist mittlerweile
überwunden; vgl nunmehr EvBl 1987/49, wonach der OGH – in Abkehr
von jahrelanger Rspr und in Anlehnung an eine Formulierung Gschnitzers
– Schikane nicht nur dann annimmt, wenn die Schädigungsabsicht den
einzigen Grund der Rechtsausübung bildet, sondern bereits dann,
wenn zwischen den Interessen des Handelnden und jenen des Beeinträchtigten
ein „(ganz) krasses Missverhältnis” besteht, also
der Schädigungszweck offenbar im Vordergrund steht und andere Ziele
der Rechtsausübung im Vergleich dazu völlig in den Hintergrund treten;
vgl aber wieder WBl 1994, 167: Rspr-Beispiele.
Vgl auch SZ 62/169 (1989)oder SZ 63/49 (1990). | Neue Rspr |
|
Unverständlich
erscheinen heute Rspr-Positionen wie die in SZ
24/278 (1951) oder MietSlg
16.023 (1964) vertretenen, wonach dem österreichischen
Recht ein allgemeines Schikaneverbot fremd sei.
– ABGB-konform war diese Ansicht nicht! | |
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|
WBl 1994, 167 = ecolex 1994, 162:
Die Annahme sittenwidriger deliktischer Schädigung setzt eine vorsätzliche
Schädigungshandlung voraus, wobei bedingter Vorsatz hinreicht. | |
|
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SZ 44/86 (1971): Beweispflichtig dafür,
dass der sein Recht Ausübende kein anderes Interesse hatte, als zu
schädigen, ist der die Schikane behauptende Kläger; dies ist nunmehr
iSv EvBl 1987/49 zu modifizieren. | |
|
|
JBl 1994, 191: Das Schikaneverbot
gilt auch im öffentlichen Recht. | |
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|
RZ 1998/1 und 1 Ob 338/97 f vom 24.2.1998:
Darin setzt der OGH seine mit EvBl 1987/49 begonnene kritische Haltung
fort. – Zu beachten ist dabei, dass der durch Schikane Beeinträchtigte
nicht nur einen Unterlassungsanspruch besitzt,
sondern nach allgemeinen Voraussetzungen auch Schadenersatzansprüche erheben
kann; zB wenn ein Nachbar schikanös Einwendungen gegen ein Bauvorhaben
erhebt! | |
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Das Dringen auf
genaues Erfüllen eines gerichtlichen Vergleichs ( JBl 1961, 231); | Schikane wurde von der Rspr bspw in folgenden Fällen
abgelehnt: |
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die Verfolgung von Rechten
aus einem Bestandvertrag (MietSlg 26.153); | |
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der Abwehr
von Eingriffen in das Eigentumsrecht an Grund und
Boden, weil bei Gewährenlassen eine Dienstbarkeit ersessen werden
könnte (RZ 1993/72)
oder RdW 1994, 102: Eigentumsfreiheitsklage erfolgt nicht missbräuchlich,
selbst wenn eine Untersagung für den davon Betroffenen wirtschaftlich
existenzgefährdend ist; ambivalent JBl 1994,
471 (Ausbau von Hafenbauten am Bodensee
ohne Wissen einer Miteigentümerin); | |
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Konkurseröffnungsantrag
bei nur teilweiser pfandrechtlicher Sicherstellung der Forderung
des Antragstellers. | |
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Mikrophonfall: RdW 1995, 424 = wobl 1996, 144 (Anm
Mader) – Wohnungsmieter über einem Gastlokal mit Gastgarten hängte
ua aus seinen Fenstern Mikrophone, um Gästegespräche abzuhören und
diese dadurch zu vertreiben; | Rechtsmissbrauch wurde angenommen: |
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|
Weigerung
einer Kreditkartengesellschaft dem Vertragsunternehmen
bei Störungen in der Abwicklung die Adresse des Kreditkarteninhabers
bekanntzugeben (SZ 61/55 [1988]):
Zur Kreditkarte → KAPITEL 15: Die
Kreditkarte; | |
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|
wenn jemand Rückstellung dessen begehrt, was
er vertragsmäßig zu leisten verpflichtet ist (römisches Recht: dolo
petit / agit, qui petit quod redditurus est): SZ 9/283 (1927) oder HS 4279/39
(Herausgabeanspruch), JBl 1988, 649 (Verdienstentgang); | |
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bei Klagsführung
zur Beseitigung eines ganz unwesentlichen Nachteils; MietSlg 26.153. De minimis
non curat praetor.
| |
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OGH 27.11. 2002, 1 Ob 265/01d, EvBl 2002/72:
Grundstückseigentümer lässt an der Grundstücksgrenze mit Zustimmung
des Nachbarn eine Garage bauen. Diese ragt 9 cm über die Grenze,
was der betroffene Nachbar weiß. Erst nach Fertigstellung klagt
er auf Beseitigung. Der Bauführer wendet idF den Erwerb von Eigentum
an dem (Überbau)Teil des Nachbargrundstücks ein; § 418 letzter
Satz ABGB. – OGH verneint Eigentumserwerb wegen Unredlichkeit und
nimmt im Übrigen Rechtsmissbrauch nach § 1295 Abs 2
ABGB an. | |
|
7. Zur
Funktion von Generalklauseln und unbestimmten Gesetzesbegriffen | |
Die
Gefahr von (inhaltlich) kaum determinierten Rechtsbegriffen wie
den Guten Sitten oder dem Treu und Glauben-Grundsatz liegt in ihrem
Missbrauch durch Rechtsanwender. | Missbrauchsgefahr |
Der
Nationalsozialismus hat Generalklauseln dazu missbraucht, um seine
politischen Wertungen durchzusetzen und Juristen haben dabei mitgemacht;
bspw im Mietrecht (§ 19 MG; heute § 30 MRG), wo ein für die Kündigung
nötiger „wichtiger Grund” allein darin erblickt wurde, dass ein Mieter
Jude war. Allein in Wien wurden ab 1938 etwa 60.000 Mietwohnungen
auf diese Weise „arisiert”. Eine Entschädigung wurde mit dem Entschädigungsfondsgesetz
beschlossen; BGBl I 12/2001. – Hedemann hat die mit Generalklauseln
verbundenen Gefahren eindringlich in schwerer Zeit geschildert. | Nationalsozialismus |
| |
 | |
Trotz
dieser Gefahr kann der Gesetzgeber aber auf diese Instrumente nicht
verzichten, zumal auf der einen Seite keine Rechtsordnung alles
zu regeln vermag, und das auch gar nicht erstrebenswert ist, und
andrerseits Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe ihrer
Funktion nach dazu in der Lage sind, eine Rechtsordnung an die Erfordernisse
der Zeit auch ohne Tätigwerden des Gesetzgebers anzupassen. | |
VI. Anwendung der
Gute Sitten-Klausel | |
1. Gute Sitten
und „Rechtsgefühl” | |
Die
Gute Sitten-Klausel ist in vielen Rechtsordnungen auch ein Instrument,
um dem Rechtsgefühl bei Verstößen gegen das allgemeine Rechtsempfinden
Achtung zu verschaffen. – Die guten Sitten finden daher sowohl im
Wirtschaftsleben Anwendung, wie im persönlichen / privaten Bereich.
Einseitige Ausnützung von Wirtschaftsmacht wird ebenso geahndet,
wie Verstöße gegen die zwischenmenschliche Moral. | |
Dass die „guten Sitten” national und international
ein dehnbarer Begriff sind, zeigt die Tatsache, dass zB Deutschland,
Belgien, Luxemburg und Griechenland lange die legale (!) steuerliche
Abschreibung von Bestechungsgeldern für ausländische Beamte kannten;
OECD-Erklärung 1997: Die Zeit Nr 23, 30.5.1997, S. 24. | |
Hier
zu nennen sind auch Geschäfte im Zusammenhang mit der Prostitution,
die von der Rspr früher generell als sittenwidrig angesehen wurden,
mag sich mittlerweile auch schon manches in Richtung Realismus geändert
haben. – Eine bürgerliche Scheinmoral bediente sich in Bereichen wie
diesem ihres Einflusses, um eigene Wertungen durchzusetzen. | Prostitution |
Rechtswissenschaft
hat mit Realitätsbewältigung zu tun und doch schleppen manche ihrer
Begriffe und Rechtsinstitute überholten Ballast mit sich. Und Probleme,
die das dogmatische Konzept stören, wurden von der Rechtswissenschaft
immer wieder ganz oder teilweise „verdrängt” oder „abgespalten”.
Hier angesiedelt ist auch das Problem der Prostitution (Körper,
Sexualität als Ware), die rechtlich zum Teil immer noch nach Christian
Morgensterns Palmström-Prinzip gelöst wird: Es kann nicht sein,
was nicht sein darf! Dennoch war die Rspr unseres OGH streckenweise
zu diesem Problemkreis realistischer als die des dtBGH. Aber auch
der OGH behandelte im Kielwasser des dtRG lange sowohl den Verkauf,
wie die Verpachtung und die Geschäftsführung auch
polizeilich geduldeter „Freudenhäuser” als sittenwidrig;
vgl GlUNF 4867 (1908) und JBl 1933, 210. Wahrlich ein Zeit- und
Sittenbild. Dazu kritisch schon Gschnitzer in Klang2 IV/1,
191 f mwH (1952). | |
|
SZ 54/70 (1981): Verdienstentgang
einer registrierten Prostituierten
→ KAPITEL 9: ¿Verdienstentgang¿.
Hier ging es um Schadenersatzansprüche nach einer Verletzung. Die
Zahlung des Prostituiertenentgelts ist jedoch nach der Rspr nach
wie vor unklagbar, weil sittenwidrig. Hier ist die Rspr immer noch
auf dem Stand des römischen Rechts: Quod meretrici datur. Man kann
da nur sagen: „Es erben sich Gesetz und Recht ….” | |
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|
JBl 1989, 784: Verträge
mit Prostituierten sind nach der Rspr sittenwidrig, mag
auch ein geleistetes Entgelt nicht nach § 1174 Abs 1 ABGB zurückgefordert
werden können. | |
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JBl
1933, 210: Erachtet noch den Bordellkauf und
die Bordellhypothek als ungültig, weil sittenwidrig. | |
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2. Weitere
Beispiele zur allgemeinen Sittenwidrigkeit | |
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SZ
26/52 (1953): Das Verlöbnis eines
Verheirateten ist sittenwidrig. | |
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Ebenso der (Voraus)Verzicht
eines Ehepartners auf künftige Scheidungsgründe; JBl 1962, 605. | |
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SZ 36/58 (1963): OGH reduzierte
eine zeitlich zu lange Konkurrenzklausel im Rahmen
eines Metzgereipachtvertrags samt Kundenstock. | |
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SZ 41/131 (1968): Gewerbebetrieb
wird von E-Werk nicht von Stromabschaltung verständigt. AGB des E-Werks
enthalten für solche Fälle einen Haftungsausschluss; sog Freizeichnungsklausel
→ KAPITEL 9: Verschulden
(culpa).
OGH betrachtet den Haftungsausschluss als sittenwidrig, argumentiert
aber vornehmlich mit § 914 ABGB (Verkehrssitte). | |
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EvBl
1995/27 und 28: Fax-Werbung.
Werbung mittels Telefax ist unzulässig. (Kläger=
Rechtsanwälte und Fax-Inhaber; Beklagter = schickte ungefragt Werbematerial
mittels Telefax). | |
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EvBl
1995/27 (§ 1 UWG): Das Berufungsgericht
erblickt in der unerbetenen Telefaxwerbung eine
gegen die guten Sitten im Geschäftsverkehr verstoßende belästigende
Werbemaßnahme .... Das Telefaxgerät dient – wie das Telefon – dem
Geschäftsbetrieb. Die unerwünschte Inanspruchnahme des Telefaxgerätes durch
den Beklagten ist schon deswegen belästigend, weil die Telefaxsendung
angenommen werden muss, um festzustellen, ob sie für die Kläger
von Wichtigkeit ist oder nicht. Dadurch wird gerichtsbekanntermaßen
das Gerät der Kläger blockiert und die Arbeitskraft diverser bei
ihnen tätiger Angestellter und der Klägerin selbst unzulässig in
Anspruch genommen .... Für die Übersendung des vorliegenden Werbematerials
an die Kläger mittels Telefax bestand überhaupt keine Veranlassung.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass allenfalls zwischen den
Streitteilen eine Geschäftsbeziehung geringen Ausmaßes bestanden
hat bzw dass die Kläger in der Kundenkartei des Beklagten gespeichert
sind .... – Vgl auch EvBl 1995/28. – Dasselbe gilt für e-mail-Werbung. | |
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SZ 73/47 = EvBl 2000/147: Postkartenwerbung –
Eine durch die Tarnung einer Werbesendung als Privatpost (Ansichtskarte
mit Urlaubsgruß) bewirkte Täuschung ist rechtswidrig und stellt
wegen der Notwendigkeit, die Werbung zumindest teilweise zur Kenntnis
zu nehmen, zu einem mit dem Schutz des Privatbereichs (§ 16 ABGB)
unvereinbaren Belästigung. (In der E fehlt ein Bezug auf § 879 ABGB,
er ist aber gleichsam mitzudenken. Die E zeigt, dass es in diesen
Werbefällen zu Übergängen zwischen § 879 und § 16 ABGB kommt. | |
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EvBl
1999/186: Anruf zu Werbezwecken – Schon
das telefonische Einholen der Zustimmung zu einem späteren Werbetelefonat ist
ein Anruf zu Werbezwecken iSd § 101 TKG. | |
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„Lösegeldforderungen”
für Internet-Adressen sind sittenwidrig: Domain-Grabbing,
also das Registrieren von Internet-Adressen bloß zum Zweck, um sie
anderen Benutzern später teuer zu verkaufen, ist sittenwidrig; vgl OGH 24.2.1998 – jusline I – Obl 1998, 241 und 27.4.1999
– jusline II – Öbl 1999, 225. Der OGH behandelt
Domain-Grabbing als selbständige, sittenwidrige Handlung iSd § 1
UWG. | |
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SZ 68/64 (1995): Ist eine Garantie
des Sohnes für seine Mutter sittenwidrig? – Bürgschaft,
Schuldbeitritt und Garantie sind nicht schon sittenwidrig, weil
einer ungleich verhandlungsstärkeren Gläubigerbank ein gutstehender
Angehöriger gegenübersteht, dessen Verpflichtung seine Vermögensverhältnisse
weit übersteigt, sondern erst unter zusätzlich vorliegenden Umständen,
die seine Entscheidungsfreiheit beeinträchtigen und der Bank zuzurechnen
sind. Als solche kommen zB in Betracht: das Abdingen von Schutzvorschriften,
Fehlen einer Haftungsbegrenzung, Überschuldung des Hauptschuldners,
Verharmlosung des Risikos, Überrumpelung, Unerfahrenheit und mangelndes
Eigeninteresse des Angehörigen am Kreditvertrag. – Zur Frage unter
welchen Voraussetzungen sog Angehörigenbürgschaften und überhaupt
riskante Bürgschaften sittenwidrig sind → KAPITEL 15: Riskante
Bürgschaften ¿ Angehörigenbürgschaften. | |
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EvBl 1999/2 (§
879 ABGB) = SZ 71/117 (1998):
Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit einer Bürgschaftserklärung
zugunsten von Geschwistern. – Die Grundsätze der Prüfung
der Sittenwidrigkeit rechtsgeschäftlicher Haftungserklärungen, die
im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern sowie im Verhältnis zwischen
Lebenspartnern (Ehegatten oder Lebensgefährten) gelten (SZ 68/64),
lassen sich nicht ohne weiteres auf die Beziehungen erwachsener
Geschwister übertragen. Zur Bürgschaft → KAPITEL 15: Die
Bürgschaft: §§ 1346 ff ABGB. | |
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EvBl
1999/178: Sittenwidriges Handeln eines Internet-Providers im
geschäftlichen Verkehr. | |
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3. Langfristige
Lieferverträge – Bierbezugsverträge | |
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Praktisch von Bedeutung
waren bisher sittenwidrige Vereinbarungen in Lieferverträgen , inbesondere Getränke-
und Bierbezugsverträgen: | |
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Die E des OGH EvBl 1983/12 wurde bei den Dauerschuldverhältnissen
erwähnt → KAPITEL 6: Rechtsprechungsbeispiele . | |
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Vgl auch JBl 1992, 517: Bei der Beurteilung
der Sittenwidrigkeit wegen übermäßiger zeitlicher Bindung kommt
es auch auf andere Faktoren, als das bloße Zeitübermaß an; es ist
vielmehr im Einzelfall die sich aus dem gesamten Vertragsinhalt
ergebende Stellung und Rechtslage der Vertragspartner inbesondere
in Rücksicht auf die Beschränkung der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit
zu beurteilen und auch der etwaige Missbrauch der wirtschaftlichen
Verhandlungsübermacht eines Beteiligten zu berücksichtigen. | |
|
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Eine
Besonderheit bei Bierlieferungs- – aber auch anderen
– Langzeitverträgen stellt die Verpflichtung des
Abnehmers (oder Mieters, Pächters, Wohnungseigentümers etc) dar,
übernommene vertragliche (Bezugs)Verpflichtungen auf allfällige
Rechts- oder Geschäftsnachfolger zu überbinden; sog Vertragsüberbindungspflichten:
Vgl JBl 1985, 742 oder
JBl 1988, 720. Auch hierbei dient § 879 ABGB als Korrektiv. | |
|
Vertriebsverträge
im EU-Binnenmarkt
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Im Zusammenhang mit Lieferverträgen, inbesondere Bierbezugsverträgen,
soll auf eine für Österreich beachtliche EU-Regelung hingewiesen
werden: | |
Art
85 EGV verbietet wettbewerbshindernde Vereinbarungen,
Beschlüsse und abgestimmte Verhaltensweisen; Art 86 EGV den Missbrauch
einer marktbeherrschenden Stellung. | |
Davon ausgenommen
sind inbesondere Einzel- und Gruppenfreistellungen: Die wichtigsten
Gruppenfreistellungen sind die (speziell für Bierbezugsverträge
erlassene Ausnahme der) Alleinvertriebs vereinbarungen,
wobei der Lieferant in einem Gebiet nur an einen Händler liefert
und die Alleinbezugs vereinbarung, wo der Händler
nur von einem Lieferanten bestimmte Waren bezieht. Alleinbezugsverpflichtungen
sind nach EG-Recht auf 5 Jahre beschränkt, wenn
eine Gaststätte Bier und andere Getränke bezieht; mit 10
Jahren dann, wenn nur bestimmte Biere abgenommen werden. | |
Die Beschränkungen der Art 85 und 86 EGV kommen aber nurzur
Geltung, wenn: | |
•
eine Wettbewerbsbeschränkung
bezweckt oder tatsächlich bewirkt wird; | |
• die Spürbarkeit der Wettbewerbsbeschränkung
(Anteil am geographischen relevanten Markt mehr als 5 % oder mehr
als ca 4 Milliarden Schilling Umsatz der beteiligten Unternehmen)
gegeben ist; | |
• sowie dann, wenn der Handel zwischen den Mitgliedsstaaten
beeinträchtigt wird. | |
 | |
VII. Verletzung
fremder Forderungsrechte | |
| |
Forderungsrechte werden als relative
Rechte von der Rechtsordnung nicht in gleichem Maße geschützt
wie dingliche und absolute Rechte. Es fehlt ihnen grundsätzlich
die Dritt- oder Außenwirkung. Dennoch wurde schon früh ihre – mitunter
erhöhte – Schutzwürdigkeit erkannt. Auch der Gesetzgeber des ABGB
hat bereits schwere Verstöße gegen Forderungsrechte sanktioniert. | Schutzwürdigkeit
relativer Rechte |
Der Schutz relativer,
also schuldrechtlicher Rechtspositionen wurde im 20. Jhd aber deutlich
ausgeweitet und verstärkt. Man denke nur an H. Klangs langen und
letztlich erfolgreichen Kampf zur Aufwertung der Rechtsstellung
des Mieters gegen störende oder schädigende Einflüsse Dritter, zB bei
Immissionen → KAPITEL 8: Die
Immissionen ¿ Überblick. Darüber hinaus wird heute eine schützende
„Drittwirkung” obligatorischer Rechte auch dann anerkannt, wenn
die Rechtszuständigkeit eines schuldrechtlich Berechtigten angezweifelt
oder negiert wird. | H. Klangs Kampf |
1. Der
Schutz von Forderungsrechten im ABGB und ihre Behandlung | |
§ 367 ABGB bestimmt in seinem letzten Satz, „dass
von den redlichen Besitzern das Eigentum erworben [wird], … dem
vorigen Eigentümer … [aber] gegen jene, die ihm dafür verantwortlich
sind, das Recht der Schadloshaltung zu[steht].” | |
Nach
den Doppelverkaufsbestimmungen der §§ 430, 440
ABGB erlangt der in seinem Forderungsrecht verletzte Erstkäufer
zwar nicht Eigentum, doch hat nach Anordnung des § 430 ABGB „der
[bisherige] Eigentümer [= der verletzende Vertragspartner!] dem
verletzten Teile zu haften” → KAPITEL 8: Der
sog Doppelverkauf. | |
Die
Weiterentwicklung eines qualifizierten Schutzes von Forderungsrechten
ging idF dahin, beim Doppelverkauf den Erstkäufer
nicht nur in Form von Ersatzansprüchen gegen seinen Vertragspartner
zu schützen, sondern auch durch eigene (Schutz)Ansprüche gegen den
das Forderungsrecht schädigenden Dritten. – Dafür wurde von der
Rspr zunächst aber eine arglistige Schädigung des Dritten verlangt;
SZ 16/66 (1934) – Realitätenvermittlung: | Arglistige Schädigung durch Dritte |
„Kann auch, falls ein Forderungsrecht von
einem Dritten beeinträchtigt wird, der Gläubiger grundsätzlich von diesem
keinen Ersatz verlangen, so gilt dies nicht, wenn den Dritten der
Vorwurf der arglistigen Schädigung trifft, der
gegenüber als gegen die guten Sitten [!] verstoßend
die Relativität des verletzten Rechtes nicht in Betracht kommt...” | |
Schon in
SZ 19/205 (1937) begnügt sich der OGH mit einer bloß wissentlichen
Beteiligung an einer Vertragsverletzung: §§ 1295, 1301
ABGB – (Gang)Klosettbenützung. | Wissentliche Beteiligung |
„Wissentliche Beteiligung an einer Vertragsverletzung
kann im Sinne des § 1301 ABGB einen Dritten schadenersatzpflichtig
machen, auch wenn keine Arglist erweislich ist.” – Der Kläger war
Geschäftsmieter im Haus der drei Erstbeklagten, womit eine Gangklosettbenützung
verbunden war. Im Rahmen von Umbauarbeiten wurde der Teil des Gangs,
in dem sich das Klosett befand, mit einer anderen Wohnung verbunden,
deren Mieterin dem Kläger idF die Mitbenützung des Klosetts ebenso
verweigerte wie ihr späterer Nachmieter. (Gegen seine Vermieter
war der Kläger bereits mit einer Besitzstörungsklage erfolgreich
gewesen.) Der Kläger klagte idF die drei Miteigentümer des Hauses
und den Mieter (als Viertbeklagten) auf Mitbenützung der Toilette
und der OGH gab der Klage statt und meinte: Denn „dadurch wird alles
„in den vorigen Stand zurückersetzt” [§ 1323 ABGB].” | |
In JBl 1961, 416 (Mehrfachverkauf einer
Liegenschaft) verlangt der OGH schließlich nur noch eine fahrlässige
Beeinträchtigung der Käuferrechte, wobei die Argumentation
– billigenswert – eher in Richtung grober Fahrlässigkeit tendiert,
zumal dadurch der Unterschied zwischen relativen und absoluten Rechten
nicht über Gebühr eingeebnet wird. | Fahrlässige
Beeinträchtigung |
| |
Neben
der gesetzlich sanktionierten Verletzung fremder
Forderungsrechte im Rahmen des gutgläubigen Erwerbs nach § 367 ABGB
oder durch die Doppelveräußerung beweglicher oder unbeweglicher
Sachen, werden heute Forderungsrechte auch in folgenden Fällen typischerweise
verletzt und daher von der Rspr – auch ohne ausdrückliche
gesetzliche Grundlage – geschützt: | |
|
Mehrfachvermietung von
Räumlichkeiten; SZ 19/205 (1937):
Klosettbenützung → Der
Schutz von Forderungsrechten im ABGB und ihre Behandlung
| |
|
|
Vertragswidriges
Nichtüberbürden eines nicht verbücherten Wohnrechts beim
(Weiter)Verkauf der Liegenschaft; SZ 7/301
(1925)
→ KAPITEL 8: Dingliche
Wirkung nur bei Verbücherung. | |
|
|
Verletzung nichtverbücherter Vorkaufsrechte; SZ 31/14 (1959): OGH begnügt sich,
Bettelheim und Ehrenzweig folgend, nicht mit einem bloßen Schadenersatzanspruch,
sondern gewährt einen Erfüllungsanspruch nach § 1323 ABGB (Naturalersatz).
Vgl aber nunmehr JBl 1995, 526: Beeinträchtigung eines nichtverbücherten
Vorkaufsrechts – Ausnutzen eines fremden Vertragsbruchs.
OGH betont, dass demjenigen, der sich lediglich auf sein nicht verbüchertes
Vorkaufsrecht berufen kann, nur unter der Voraussetzung der Beeinträchtigung
fremder Forderungsrechte ein auf Naturalrestitution gerichteter Schadenersatzanspruch
gegen den Dritten zugebilligt wird. OGH lässt es aber offen „ob
und in welchem Umfang die bloße Kenntnis vom Vertragsbruch schadenersatzrechtliche
Folgen haben könnte”. | |
|
|
Verletzung der
(bloß schuldrechtlichen) Position des Beschenkten bei einer Schenkung
auf den Todesfall
→ KAPITEL 3: Schenkung
auf den Todesfall:
E des OGH 2.7.1984, NZ 1985, 69 = HS 14.742. | |
|
|
Hierher gehört
auch die Verletzung eines bestehenden Zessionsverbots,
das die hA mit absoluter Wirkung ausstattet → KAPITEL 14: Globalzession
und Abtretungsverbot.
– Vgl nunmehr auch SZ 73/132 (2000):
Zweimaliger Globalzessionsvertrag an verschiedene
Banken: „Wenn trotz des Fehlens eines ausreichenden Buchvermerks
ein zweiter Zessionar vom Globalzessionsvertrag des ersten Kenntnis
hat (hier Information durch den Zedenten), wird er wegen des Eingreifens
in fremde Forderungsrechte schadenersatzpflichtig.” (Sinnvoll erschiene
es bei Vereinbarung einer Globalzession stillschweigend oder konkludent
ein Abtretungsverbot anzunehmen.) | |
|
|
OGH 26. 2. 2001, 3 Ob 70/00s, JBl 2001, 583:
Ehegatte gründet nach Scheidung GmbH, der im Wege der Zwangsversteigerung
die Liegenschaft auf der sich das Haus befand, in dem die ehemalige
Ehegattin wohnte (§ 97 ABGB), übertragen wird. – OGH: Die Rspr,
wonach ein Schadenersatzanspruch gegen einen Dritten schon bei fahrlässiger
Verletzung eines besitzverstärkten Forderungsrechts besteht, betrifft
nur den rechtsgeschäftlichen Erwerb. Bei Erwerb im Wege der Zwangsversteigerung
schadet die Kenntnis eines obligatorischen Rechts, das in den Versteigerungsbedingungen
nicht aufscheint aber nicht. Ein Schadenersatzanspruch gegen den
Ersteher kann aber bei arglistigem Zusammenwirken (Kollusion) mit
dem Schuldner geltend gemacht werden. (Die E ist insofern von Bedeutung,
als mit ihr der Schutz fremder Forderungsrechte über den
rechtsgeschäftlichen Bereich hinaus auch für die Zwangsversteigerung grundsätzlich
anerkannt wird.) | |
|
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OGH 30. 8. 2000, 6 Ob 174/00g, SZ 73/132:
Eine GmbH hat Kreditschulden von nahezu 5 Mio S bei der A-Bank.
Zur Besicherung wird eine Global- und Mantelzessionsvereinbarung geschlossen,
die jedoch aufgrund unzureichender Kenntlichmachung in der offenen
Postenliste (OP-Liste) der Kreditschuldnerin mangels Publizität
nicht zu einer Abtretung der Forderungen führt. Als die GmbH bei
der A-Bank keine weiteren Kredite mehr erhält, wendet sie sich an
die B-Bank, der sie die bereits erfolgte Globalzession zugunsten
der A-Bank mitteilen. Zur Besicherung des neuen Kredits wird auch
mit der B-Bank ein Global- und Mantelzessionsvertrag geschlossen
und im Laufe der Zeit werden ihr auch Forderungen im Wert von über
4 Mio S abgetreten. Nach dem Konkurs der GmbH klagt die A-Bank die
B-Bank auf Zahlung dieses Betrages. – OGH: Die Globalzession künftiger
Forderungen bedarf der Anbringung eines Generalvermerks in der offenen
Postenliste. Dieser muss den Zessionar und das Datum des Zessionsvertrags
anführen. Im konkreten Fall wurde nur der Buchstabe „Z” auf jede
Seite der OP-Liste gesetzt). Wenn trotz des Fehlens eines ausreichenden
Buchvermerks ein zweiter Zessionar vom Globalzessionsvertrag des
ersten Kenntnis hat (hier: Information durch den Zedenten selber),
wird er wegen des Eingreifens in fremde Forderungsrechte schadenersatzpflichtig.
– Überlege: Kann bei Vereinbarung einer Globalzession stillschweigend
ein Abtretungsverbot angenommen werden und wie könnte es begründet
werden? (§ 914 ABGB iVm mit ergänzender/hypothetischer Vertragsauslegung)
Didaktisch vorbildliche Gliederung der E. | |
|
3. Zur Sittenwidrigkeit
der Verletzung fremder Forderungsrechte | |
Der über die §§ 367, 430 und 440 ABGB hinausreichende modernere
Schutz fremder Forderungsrechte geht von der Sittenwidrigkeit solcher
Schädigungen aus; vgl Gschnitzer, AllgT 717 ff (19922).
– Es dürfte nicht schwer fallen, auf Grund der bislang aufbereiteten
Schutzpositionen, weitere Fälle und Fallgruppen einzubeziehen. | |
Mit
diesem Ergebnis wird aber der ursprüngliche Weg, den inbesondere
die §§ 430 und 440 ABGB gewiesen haben, verlassen. – Über den Umweg
eines schadenersatzrechtlichen Naturalersatzanspruchs (§
1323 ABGB) wird ein Erfüllungsanspruch in Bezug
auf den verletzten Vertrag insbesondere dann gewährt, wenn der Verletzer
das verletzte Forderungsrecht aufgrund eines bereits eingeräumten
Besitzverhältnisses hätte kennen können. Daraus entwickelte sich
die heutige Rspr-Linie; vgl schließlich Schilcher / Holzer, JBl
1974, 445 und 512. | |
Überwiegend abgelehnt wird die Meinung Koziols,
der für eine weitgehende Angleichung des Rechtsschutzes absoluter
und relativer Rechtspositionen eingetreten war. Diese Meinung ist
auch noch nicht ausgereift und nicht frei von inneren Wertungswidersprüchen;
vgl nur Koziols und anderer Meinung zum Abtretungsverbot. | |
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 | Abbildung .21: Relative und absolute Rechte |
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