Panel 4: Beforschte Körper

Aysu Atak, Magdalena Ausserhofer, Claudia Dalvai, Natalie Leitner, Christina Pali
Panel 4

Panel 4: Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte

Donnerstag, 16. April 2020, 11.00 bis 12.30 Uhr, Virtueller Konferenzraum 2
Chair: Elisabeth Dietrich-Daum (Innsbruck)

Martina Rabensteiner (Innsbruck): Das Schlafmittel Contergan (Thalidomid) – eine ungeschriebene Geschichte. Der Skandal und seine Folgen in Italien und Südtirol

Marina Hilber (Innsbruck): Pyramidon und Antiviral 1001 – Medikamentenversuche während den Poliomyelitis-Epidemien nach 1945

Christian Lechner (Innsbruck): Der Sezierkurs am Innsbrucker Anatomischen Institut zur Zeit des Nationalsozialismus

Abstracts

 

Kommentare

Panel 4 „Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte“, in dem alle drei Referentinnen und Referenten an der Universität Innsbruck forschen, beschäftigte sich mit der Aufarbeitung von Medizinverbrechen während des Nationalsozialismus. Den Chair übernahm Elisabeth Dietrich-Daum, Leiterin des Forschungszentrums „Medical Humanities“ und Universitätsprofessorin der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Innsbruck.

Das Panel begann mit einem Vortrag von Martina Rabensteiner, die sich in ihrer Dissertation mit dem Schlafmittel Contergan (Thalidomid) und seine Folgen in Italien und Südtirol beschäftigte. Die zweite Vortragende Marina Hilber stellte ihr Forschungsprojekt mit dem Titel „Pyramidon und Antiviral 1001 – Medikamentenversuche während den Poliomyelitis-Epidemien nach 1945“ vor. In einem etwa zwanzig minütigen Vortrag berichtete Hilber über die Krankheit „Poliomyelitis“, im Volksmund auch bekannt als „Kinderlähmung“, und referierte über die therapeutischen Reaktionen auf diese Krankheit. Christian Lechner, der neben seinem Medizinstudium auch Geschichte an der Universität Innsbruck studierte, widmete sich in seinem Vortrag dem Sezierkurs am Innsbrucker Anatomischen Institut zur Zeit des Nationalsozialismus.

Die Präsentation von Marina Hilber war insofern interessant, da sie sich vor allem auf die beiden Bereiche Aktualität und Umgang mit (sozialen) Medien bezog. Dabei verwies Hilber auf einen Zeitungsartikel der TT aus dem Jahr 1947, bei dem der Wörgler Mediziner Zingerle behauptete, ein sicheres Mittel gegen die Kinderlähmung gefunden zu haben. Wie im Beitrag von Frau Hilber haben auch wir gerade mit einer Viruserkrankung, dem COVID-19, zu tun. Im Laufe der Geschichte hat es unzählige Pandemien gegeben, angefangen von Seuchen in der Antike, der Pest im Mittelalter bis hin zur Spanischen Grippe, der Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Die Krankheit mag dabei stets einen anderen Namen getragen haben, jedoch hat sich in Bezug auf den Umgang mit Pandemien wenig verändert; vielmehr haben sich die Dimensionen ein wenig verschoben, denn die Spekulationen, die Verbreitung von Fake News oder auch der Verlauf der medizinischen Versuche blieben aus historischer Perspektive weitgehend gleich. Die Geschichte wiederholt sich somit.

Als angehende Lehrperson ist es mir aus diesem Grund sehr wichtig, dass meine zukünftigen Schülerinnen und Schüler gerade im Umgang mit Medien jeglicher Art eine kritische Position einnehmen. Denn die Gesellschaft befindet sich im stetigen Wandel, ebenso wie die technologischen Kommunikationsmittel und die Medizin. Was dabei aber gleich bleiben sollte, ist ein gewisses Maß an (Selbst-)Kritik im Umgang mit (sozialen) Medien. Dies könnte beispielsweise dadurch erreicht werden, indem im Unterricht auch auf die Probleme (sozialer) Medien hingewiesen wird, die sich durch einen unreflektierten Umgang ergeben könnten.

(Aysu Atak)

 

Im Rahmen des 13. bzw. 1. Virtuellen Österreichischen Zeitgeschichtetags 2020 wurde das Panel 4 mit dem Titel „Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte“ unter der Moderation von Elisabeth Dietrich-Daum abgehalten. Im Zuge dessen trugen Christian Lechner, Martina Rabensteiner und Marina Hilber Präsentationen zu ihren Forschungsthemen vor. Christian Lechners Vortrag trug den Titel „Der Sezierkurs am Innsbrucker Anatomischen Institut zur Zeit des Nationalsozialismus“, und Martina Rabensteiner referierte hingegen über das Thema „Das Schlafmittel Contergan (Thalidomid) - eine ungeschriebene Geschichte. Der Skandal und seine Folgen in Italien und Südtirol“. Marina Hilber gab uns einen Einblick in ihre Forschung zu dem Thema „Pyramidon und Antiviral 1001 - Medikamentenversuche während den Poliomyelitis-Epidemien nach 1945“.

Warum ich mich als aus Südtirol stammende Studierende besonders für dieses Panel interessierte, liegt auf der Hand: Martina Rabensteiner sprach nämlich über ihr laufendes Forschungsprojekt zum Conterganskandal und seine Folgen in Südtirol. Auch sie als Südtirolerin hat einen lebensweltlichen Bezug zu diesem Thema. Besonders interessant fand ich den Aspekt, dass es so gut wie keine Quellen zu diesem Thema gibt und sie sich ihre Kontaktpersonen erst zusammensuchen musste. Nach und nach fand sie schließlich Betroffene in Südtirol. All diese Arbeit nahm sie auf sich, um den Skandal in Bezug auf ihre Heimat zu beleuchten.

Überträgt man diesen Aspekt in den schulischen Kontext, ermöglicht ein Lebensweltbezug ein historisches Thema für die Schülerinnen und Schüler als relevant und wichtig erscheinen zu lassen. Da das Thema von den Lernenden als bedeutsam wahrgenommen wird, bleibt es ihnen auch besser in Erinnerung. Für meine berufliche Zukunft als Lehrperson erscheint es mir deshalb als sehr wichtig, im Unterricht so gut es geht auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler einzugehen.

(Magdalena Ausserhofer)

 

Im Rahmen des 1. Virtuellen (13. Österreichischen) Zeitgeschichtetages 2020 war Elisabeth Dietrich-Daum Chair von Panel 4 mit dem Thema „Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte“. Martina Rabensteiner präsentierte Ergebnisse ihrer Forschungen zum Schlafmittel Contergan (Thalidomid) und dessen ungeschriebene Geschichte in Italien und insbesondere Südtirol. Christian Lechner ging im Zuge seiner Dissertation der Frage nach, woher die einzelnen Leichen und Präparate für die Sezierkurse am Innsbrucker Anatomischen Institut während der Zeit des Nationalsozialismus stammten und wie diese auch nach Kriegsende weiterhin für die studentische Lehre genutzt wurden. Marina Hilber beschäftigte sich mit einem durchaus aktuellen Thema: der Poliomyelitis-Epidemie 1947 in Österreich mit besonderer Berücksichtigung Tirols. Dabei untersuchte Hilber nicht nur die Handhabung der Epidemie und das Krisenmanagement, sondern auch die Suche nach passenden Medikamenten.

Pyramidon und Antiviral 1001

Polio, wie die Krankheit Kinderlähmung auch genannt wird, verläuft zumeist symptomlos bzw. ähnelt in ihrer Ausprägung einer gewöhnlichen Grippe. In etwa 10% der Fälle treten schwere Krankheitsverläufe auf, in etwa 2-3% der Fälle führt die Virusinfektion zum Tod. Im Jahr 1947 wütete eine besonders schwere Epidemie in Österreich, weshalb auch mit der Suche nach einem effektiven Medikament – bis dato existierte noch keine zugelassene Therapie – begonnen wurde. Der Wörgler Arzt Thomas Zingerle vermarktete sein auf Quecksilberiodid basierendes und in eigener Rezeptur hergestelltes Präparat Antiviral 1001 medienwirksam. Zeitgleich forschte auch Hans Deuretsbacher in einer großangelegten Studie an der Kinderklinik in Innsbruck zum Präparat Pyramidon. Dieses fiebersenkende Mittel wurde bis zur Entwicklung eines Impfstoffes in den 1950er Jahren zur Behandlung Erkrankter eingesetzt.

Epidemien und Unterricht?

Gerade im Zuge der aktuellen Corona-Krise erscheint ein Vergleich der Epidemie von 1947 mit der derzeitigen Situation naheliegend. Dabei sollen jedoch weniger epidemiologische oder medizinische Aspekte wie etwa Krankheitsverlauf oder Letalität fokussiert werden, sondern vielmehr der gesellschaftliche Umgang mit Epidemien selbst. Wie 1947 zunächst gezögert wurde, weitreichende Maßnahmen wie beispielsweise Veranstaltungsverbote zu erlassen, zeigten sich ähnliche Entwicklungen auch in der aktuellen Corona-Krise. Für den Unterricht bietet sich demnach – zur besseren Einordnung und am lebenspraktischen Beispiel der Lernenden – an, vergleichende Analysen der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Handhabung von medizinischen Notständen durchzuführen. Dies ermöglicht nicht nur ein Anknüpfen an das Basiskonzept der Zeit, das Wandel und Kontinuität des menschlichen Denkens hervorhebt; zudem kann hinsichtlich politischer, sozialer und medialer Kommunikation untersucht werden, wie politische Maßnahmen in Zeiten von Epidemien vermittelt werden, wie die Aufklärung über Risikofaktoren und Folgewirkungen einer Krankheit erfolgt und inwiefern die Kommunikation über Therapiemaßnahmen divergieren kann. Eine derartige Form der Beschäftigung birgt auch die Möglichkeit einer medienkritischen Auseinandersetzung.

(Claudia Dalvai)

 

Im Rahmen des 13. bzw. 1. Virtuellen Österreichischen Zeitgeschichtetags 2020 fand Panel 4 „Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte“ mit Elisabeth Dietrich-Daum als Chair statt. Zunächst gab Martina Rabensteiner einen Überblick über die aktuellen Ergebnisse ihrer Dissertation mit dem Thema „Das Schlafmittel Contergan (Thalidomid) – eine ungeschriebene Geschichte. Der Skandal und seine Folgen in Italien und Südtirol“. Es stellte sich heraus, dass dieses Thema in Südtirol noch relativ wenig erforscht sei und man von etwa neun Betroffenen des Contergan-Skandals in Südtirol ausgehen könne. Interessant wäre nun auch zu wissen, wie mit den Folgen von Contergan in Österreich, eventuell mit regionalem Blick auf Tirol, umgegangen wurde. Es folgte ein Vortrag von Marina Hilber zu „Pyramidon und Antiviral 1001 – Medikamentenversuche während den Poliomyelitis-Epidemien nach 1945“, welcher durch die momentane Coronakrise und der Suche nach einem Medikament bzw. einer Impfung aktueller denn je erscheint. Österreich war vor allem von der Infektionswelle der Kinderlähmung 1947 betroffen. Im selben Jahr entwickelte der Zahnarzt Thomas Zingerle aus Tirol eine Behandlung auf der Basis von Quecksilberiodid, die in Österreich aber keine Zulassung erlangte. Zuletzt schloss Christian Lechner das Panel mit seinen Erkenntnissen zum Thema „Das Leichenwesen und der Sezierkurs am Innsbrucker Anatomischen Institut zur Zeit des Nationalsozialismus“. Es gab einige interessante Einblicke in die Katalogisierung und Identifikation von Präparaten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Bis jetzt wurden durch das Projekt 21 Präparate gefunden, die aus der NS-Zeit stammen. Nach dem Vienna Protocol von 2017 sollen diese Präparate aus Respekt gegenüber den Opfern, deren Angehörigen und Glaubensgemeinschaften begraben werden.

Für mich bot das Panel einen sehr interessanten Einblick in das Forschungsfeld der Medical Humanities, mit dem ich in meinem bisherigen Lehramtsstudium recht wenig in Berührung kam. Außerdem lieferten mir die Vortragenden Ideen zu fächerübergreifendem Unterricht. Da mein Zweitfach Chemie ist, ergeben sich gewisse Schnittstellen, die man in beiden Disziplinen behandeln könnte. So ließe sich etwa am Beispiel von Contergan eine interessante, fächerübergreifende Unterrichtseinheit zum Thema der Stereochemie, im Speziellen zu Enantiomeren mit historischer Einführung gestalten. Die mechanistische Wirkweise von Medikamenten oder Impfungen könnte genauer besprochen werden, ebenso wie die bei der Präparation verwendeten Chemikalien. Außerdem könnte man bei allen drei Themengebieten gut Podiumsdiskussionen im Rahmen der Politischen Bildung mit den Schüler*innen durchführen.

(Natalie Leitner)

 

Das vierte Panel des ersten Virtuellen Österreichischen Zeitgeschichtetages 2020 mit dem Thema „Beforschte Körper. Die Medical Humanities in der Zeitgeschichte“ widmete sich der Medizingeschichte und wurde von Elisabeth Dietrich-Daum (Universität Innsbruck) als Chair geleitet.

Eröffnet wurde die Vortragsreihe von Martina Rabensteiner von der Universität Innsbruck, welche einen kurzen Input rund um den Skandal um das Schlafmittel Contergan, bzw. dessen Wirkstoff Thalidomid, gab und insbesondere auf die Situation in Italien und Südtirol einging. Anschließend folgte Marina Hilber, ebenfalls aus Innsbruck, welche sich mit den Medikamentenversuchen zur Zeit der Kinderlähmungsepidemie in Tirol nach 1945 beschäftigte. Beendet wurde das Panel durch die Ausführungen von Christian Lechner aus Innsbruck zu den Sezierkursen am Innsbrucker Anatomischen Institut, das unter anderem auch NS-Opfer als Untersuchungsgegenstände verwendete.

In Zeiten einer globalen COVID-19-Pandemie ist es besonders interessant zu sehen, wie in den Jahren 1947 und 1948 mit der damaligen Poliomyelitis-Epidemie in Tirol umgegangen wurde. Neben einigen Maßnahmen, die aus dem Jahre 2020 gut bekannt sein dürften, kam es auch in Österreich zu intensiven medizinischen Bemühungen, ein Heilmittel zu finden bzw. herzustellen. Dabei standen besonders ein Wörgler Landarzt und ein Innsbrucker Klinikarzt im Zentrum des Geschehens. Beide brachten Medikamente gegen die Kinderlähmung hervor, die, wie sich allerdings herausstellte, nur symptomlindernd wirkten. Bis heute wurde kein Heilmittel für Poliomyelitis entdeckt – mittlerweile existiert allerdings ein effektiver Impfstoff.

Abgesehen von einem großen persönlichen Interesse an der Thematik des Panels ist dieses auch für die zukünftige Unterrichtspraxis angehender Lehrpersonen von Bedeutung. Die Menschheit musste schon viele Epidemien und Pandemien durchstehen, welche mittlerweile Eingang in die Geschichtsbücher gefunden haben. Ausgehend von der Corona-Pandemie im Jahre 2020 kann also ein Bogen über die Poliomyelitis-Epidemie zur Spanischen Grippe bis zur Pest gespannt werden. Dabei dürfte die Kinderlähmung eine besondere Rolle im Unterricht spielen, da das didaktische Prinzip des Lebensweltbezuges aufgrund der aktuellen Lage (COVID-19), der örtlichen Verbundenheit und der Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler vermutlich eine Polio-Impfung verabreicht bekommen haben, vorherrschend ist. Auch das exemplarische Lernen lässt sich anhand der Kinderlähmungsepidemie in Tirol nach 1945 gut durchführen, da hierbei insbesondere die Medikamentenversuche und die Suche nach Impfstoffen in den Fokus rücken könnten.

(Christina Pali)

 

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