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Imaginarien des Alpinen

[21.11.2023] Wie lassen sich die Begriffe Natur und Kultur zueinander in Relation setzen? Wie sprechen wir über unsere Umwelt und konstruieren sie dadurch? Welche Bilder, Vorstellungen und Begriffe des Alpinen prägen die Wahrnehmung unserer unmittelbaren Umwelt? Diese Fragen standen im Zentrum des diesjährigen FSP-Tages mit dem Titel "Imaginarien des Alpinen".

 

Der diesjährige FSP-Tag stand ganz im Zeichen der Environmental Humanities, einem – nicht zuletzt aufgrund der Klima- und Biodiversitätskrise – in den letzten Jahren stetig an Bedeutung gewinnenden, interdisziplinären Forschungsfeld. Vor allem im Bereich der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften angesiedelt, befasst es sich mit Fragen, die angesichts der Komplexität dieser Krisen und den damit verbundenen Herausforderungen nicht allein naturwissenschaftlich beantwortet werden können. Vielmehr ist ein innovativer Dialog dieser verschiedenen Disziplinen über umweltbezogene Fragestellungen vonnöten – nicht zuletzt, um etablierte Vorstellungen, wie etwa jene des Dualismus von Natur und Kultur zu kontextualisieren und zu hinterfragen. Schließlich entspringen die Formen, wie und ob sich Menschen in oder als Teil der Natur verorten, sie definieren und die Beziehungen zu nicht- oder mehr-als-menschlichen Lebewesen gestalten, diversen kulturell und historisch variablen Prozessen, Dynamiken und Praktiken. Dies sichtbar zu machen, ist Teil des Felds der Environmental Humanities.

Wie sich diese Prozesse in Bezug auf die eigene Umwelt, also in unserem Fall auf den Alpenraum, zeigen, war Thema des FSP-Tags „Imaginarien des Alpinen“. Das Künstlerhaus Büchsenhausen am Fuße der Nordkette mit Blick auf den Innsbrucker Hausberg Patscherkofel bot dafür die passende Kulisse. Teresa Millesi verwies in ihrer Einführung auf die Bedeutung der Environmental Humanities für umweltbezogene Fragestellungen, wie etwa jene nach der Produktion und Kommunikation ökologischen Wissens, nach den Wechselwirkungen zwischen kulturellen Praktiken und unseren Vorstellungen von Natur und nicht zuletzt danach, welche Rolle die titelgebenden Imaginarien dabei spielen.

In ihrem Eröffnungsvortrag "Der Geist der Umwelt. Umweltgeisteswissenschaften und die Geschichte der Landschaft" ging Sonja Dümpelmann (Rachel Carson Center, Ludwig-Maximilians-Universität München) auf die vielfältigen Diskurse um Landschaft ein, die, von Menschen gestaltet, Ausdruck der jeweiligen Mensch-Umwelt-Beziehung ist und gleichzeitig menschliches Handeln prägt. So diente etwa gestaltete Landschaft zugleich als Bild und Symbol der Verbreitung imperialistischer Logiken.  Vor dem Hintergrund der Debatten um die hegemoniale weiße Weltordnung des Anthropozäns rückt dabei auch die Kolonialisierung als Praktik der Landschaftsaneignung in den Blick. Landschaftsgestaltung versinnbildlichte in Form der Alpina in Botanischen Gärten außerdem die Eroberung der letzten Wildnis: des alpinen Raums. Natur wurde dadurch zähmbar und technologisch konstruierbar, ihre wissenschaftliche Erkundung in domestizierter Form auch für Städter*innen möglich. Landschaftsgeschichte ermöglicht es also nicht zuletzt, die vielfältigen Bezüge zwischen Umwelt- und Sozialgeschichte sichtbar zu machen und damit eine Brücke zwischen Umwelt-, Geistes- und Sozialwissenschaften zu schlagen.

Gestärkt von einer Kaffeepause, die viel Raum für anschließende und weiterführenden Diskussionen ließ, ermöglichte der Vortrag von Catrin Gersdorf zur Frage "Wo sind die Utopien? (Amerikanische) Literatur im Anthropozän" dem inzwischen scheinbar weit verbreiteten Gefühl eines „doomism“ oder Fatalismus angesichts der planetaren Krise, die (literarische) Praxis der Imagination einer besseren Welt entgegenzusetzen. Dabei stand die Frage danach, wie sich die Klimakrise erzählbar machen lässt, im Mittelpunkt. Während im 20. Jahrhundert Dystopien vorherrschten, die dazu geeignet sind, die vielfältigen Krisen sicht- und wahrnehmbar zu machen, fragt Gersdorf nach dem Verbleib und dem Potenzial von Utopien, die im Kontext der planetaren Krise Hoffnung vermitteln, etwa die des „#NotTooLate“, wie es das gleichnamige Projekt und Buch herausgegeben von Rebecca Solnit und Thelma Young-Lutunatabua versuchen. Utopien dienen, so schlussfolgert Catrin Gerdsorf, als Instrument bzw. Methode, um einen kritischen Blick auf bestehende gesellschaftliche Umstände zu ermöglichen. Die anschließende Mittagspause vermittelte im Kleinen die konkrete Hoffnung auf die so dringende Ernährungswende mit veganen und vegetarischen Speisen, die diese Diskussion in manch ein Gespräch hineinholten.

Wilhelm Guggenberger nahm in seinem anschließenden Vortrag „Natur als Schöpfung. Ein christlicher Blick auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis" eine kritische Einordnung der Imaginarien der Offenbarungsreligionen vor, die das Verhältnis zur und Deutungen von Natur entscheidend prägten. Die durch ein biblisches Weltbild vorangetriebene Entzauberung der Welt und insbesondere die Ableitung eines Anthropozentrismus sowie einer speziezistischen Überheblichkeit sei die Grundlage für viele der Prozesse, die die planetare Krise hervorgebracht haben. Gleichzeitig böten aber aktuelle theologische Diskurse die Möglichkeit, dem Anthropozentrismus einen Anthroporelationismus entgegenzusetzen und damit die Gottesbeziehung der gesamten Schöpfung zu zentrieren.

Patrick Kupper und Reinhard Nießner gewährten in ihrem Werkstattbericht zur „Umweltgeschichte der Alpen“ Einblicke in die Potenziale der Umweltgeschichte, die es ermöglicht, die angesprochenen Imaginarien mit einer materiellen Perspektive sowie ihrer gesellschaftlichen Dimension zu verknüpfen. Dabei lässt sich verdeutlichen, dass Naturveränderungen nicht notwendigerweise zu gesellschaftlichen Veränderungen führen. Gesellschaft antwortet primär auf Gesellschaft, wie Reinhard Nießner anhand seiner Forschung zur gescheiterten Begradigung des Inns im 18. Jahrhundert zeigte. Dabei wog das in den Alpen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts vorherrschende Abholzungs-Paradigma schwerer als viele der dadurch verursachten Katastrophen.

Insbesondere die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war in den Alpen geprägt von technologischem Fortschritt und damit ermöglichter Erschließung der Alpen und ganzjähriger touristischer Nutzung. Christine Le Jeune zeigte in ihrem Vortrag "'Welcome to Our World': Tyrolean Tourism Imaginaries and the (Re)/(Un)shaping of Alpine Cultural Ecological Realities", welche Funktion touristische Imaginarien Tirols dabei hatten, bestimmte Entwicklungen des Tourismus zu stärken bzw. zu untermauern. Insbesondere das Spannungsfeld zwischen Tourismus und lokaler Bevölkerung stand im Zentrum, ebenso wie die Frage, wo Raum für kritische Kommentare und alternative Bilderwelten zu diesen etablierten touristischen Imaginarien der Alpen ist.

Im abschließenden Vortrag "The Alps and the Horrors of the Anthropocene" zeigte Michael Fuchs anhand der beiden österreichischen Filme Blood Glacier (2013) und Attack of the Lederhosen Zombies (2015), wie das Genre des Horrorfilms dazu dienen kann, westliche Konzeptionen von Zeit und Raum zu unterlaufen und dabei als kritische Kommentare bzw. subversive Bilderwelten zu touristischen Imaginarien verstanden werden können. So stand etwa im Kampf um die Skisaison in Zeiten des Klimawandels einmal der unstillbare Hunger des Kapitalismus, verkörpert durch nimmersatte Zombies, ein anderes Mal ein, aus dem aufgetauten Permafrost entwichenes Virus im Zentrum der filmischen Erzählung.

Deutlich wurde bei den vielfältigen Diskussionen, dass die Beschäftigung mit den Forschungsperspektiven der Environmental Humanities gerade im Kontext der planetaren Krise in der Lage ist, diverse Leerstellen zu füllen und dadurch innovative Antworten auf die zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts (mit) zu entwickeln. Für eine Stärkung dieser Perspektiven im Alpenraum hat dieser gelungene FSP-Tag sicherlich einen Grundstein gelegt, auf den hoffentlich bald eine stärkere Verankerung dieser Perspektiven an der Universität Innsbruck aufgebaut werden kann.

 

(Juliana Krohn & Teresa Millesi)


Biografische Notiz

Juliana Krohn ist Koordinatorin des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“ und Doktorandin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. Gemeinsam mit María Cárdenas ist sie Sprecherin des Arbeitskreis Herrschaftskritische Friedensforschung der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK). In ihrer interdisziplinären Forschung widmet sie sich unter anderem dekolonialen, antirassistischen und intersektionalen Perspektiven auf das Mensch-Natur-Verhältnis sowie auf die Friedens- und Konfliktforschung und -praxis.

Teresa Millesi ist Koordinatorin des Forschungsschwerpunkts "Kulturelle Begegnungen - Kulturelle Konflikte. Sie beschäftigt sich vor allem mit Dekolonialisierung, Film und Entwicklungsforschung. Sie schrieb ihre Dissertation zum filmischen Widerstand Indigener im Kontext territorialer Konflikte in Lateinamerika.


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