Thema

Machtverhältnisse sind ein Thema, über das Menschen nicht gerne und offen sprechen. Aus machttheoretischer Perspektive lässt sich zeigen, dass Machtbalancen und -unterschiede in menschlichen Beziehungsgeflechten mit einem tief verwurzelten Tabu belegt sind und deshalb verschleiert werden. In modernen westlichen Gesellschaften trifft dieses Machttabu Elternschaft in besonderem Maße.

Gesellschaftliche Machtbalancen können nur angemessen verstanden werden, wenn man die Entwicklung der zugehörigen Beziehungs- bzw. Abhängigkeitsgeflechte auf allen Ebenen betrachtet. Das ist auch bei Elternschaft so. Die Transformationsprozesse der Moderne haben Gesellschaften grundlegend verändert und damit zugleich einen erheblichen Wandel von Kindheit sowie Elternschaft bewirkt. Wie eng der Zusammenhang von Staats- und Familienentwicklung ist, zeigt sich beispielsweise sozio-ökonomisch: In vormodernen Hauswirtschaften hatten Kinder eine praktische Funktion für Eltern – etwa als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, als Tauschobjekte bei Eheschließungen, zur Altersversorgung von Eltern und Verwandten, für den Erhalt der Familienwirtschaft. In der Moderne änderte sich das grundlegend, der sozioökonomische Nutzen von Kindern wurde vergesellschaftet – beispielsweise für die Humankapitalbildung der Ökonomie und den Generationenvertrag des Sozialstaates. Kinder wurden von privaten zu öffentlichen Gütern, wobei ein Großteil der Kosten und nichtmonetären Investitionen jedoch weiterhin bei den Eltern liegt. In modernen Staatsgesellschaften sind Eltern damit unverzichtbare Leistungsträger, die durch eine Art Oberelternschaft zunehmend misstrauisch beäugt und oft beschuldigend abgewertet werden. Das kulturell-christliche Gebot der Elternehrung hat sich ins Gegenteil verkehrt.

Während die vormals machtvolle Elternposition absteigt, nehmen die Machtchancen von Staat, Politik, Gesellschaft sowie der Wissenschaften vom Kind und ihrer Professionen zu. In demokratisch verfassten Gesellschaften entsteht so auch politisch ein fundamentales Problem: Der Elternposition steht eine gut organisierte, wirksam institutionalisierte Interessenkoalition der Kindzentrierung gegenüber, deren Vertreter in Bezug auf Kindheit und Elternschaft eigene Anliegen verfolgen – und deshalb an der Offenlegung der Machtverhältnisse nicht interessiert sind. In den Konkurrenzmechanismen moderner Demokratien resultiert daraus eine fundamentale Schwäche von Eltern als Anspruchsgruppe: Sie sind aufgrund ihrer Mehrfachbelastung kaum vertretungsstark organisiert und ihre Ansprüche gelten als wenig legitim.

Eine Zentralposition ist in dieser Machtarchitektur dagegen den klassischen Wissenschaften vom Kind und deren Professionen zugewachsen. Durch ihre zunehmende Kindzentrierung haben sie nicht nur zum grundlegenden Wandel der Machtbalancen beigetragen, sondern darin einen nahezu monopolartigen Vertretungsanspruch für „das Kind“ erhalten. Sie gelten als kompetent und Eltern dagegen als hochgradig beratungsbedürftige, wenig verantwortliche Laien. Die Verantwortung für Kinder, Elternschaft und etwaige destruktive Machtdynamiken wird jedoch weiterhin den Eltern zugewiesen, und zwar immer noch vor allem den Müttern. Gesellschaft, Politik und Eltern selbst orientieren sich bei Fragen rund ums Kind heute in der Regel an den öffentlichen Meinungsführern der Kindzentrierung. Der Blick auf Elternschaft bleibt dabei instrumentell, weitgehend desinteressiert an Eltern selbst, deren Rahmenbedingungen, Zwängen und Abhängigkeiten.

Das Wohl und der Schutz von Kindern wurden zu wichtigen gesellschaftlichen Werten – gerade auch deshalb begreift sich das 20. Jahrhundert als ein Zeitabschnitt der Humanisierung. Erwartet werden heute eine gute Eltern-Kind-Bindung, ein kindgerechtes regionales und soziales Umfeld, gesunde Ernährung, Bewegungs-, Kunst- und Kulturangebote, optimale Förderkonzepte ohne Überforderung von der Frühförderung bis zum Uni-Abschluss. Trotz Erwerbstätigkeit der Eltern gilt weiterhin das Leitbild der selbstlosen, omnipräsenten und perfekten Mutter sowie das neue Ideal des involvierten Vaters. Der Bedeutungszuwachs „guter“ Elternschaft führte jedoch gerade nicht zu einem Machtzuwachs von Eltern, sondern im Gegenteil zu wachsendem Zeit-, Organisations-, Leistungs- und Verantwortungsdruck, dem diese kaum gerecht werden können. Dies schlägt sich auch in den privaten Beziehungen nieder – in verringerten Machtunterschieden zwischen Eltern und Kindern oder Vätern und Müttern. Zugleich verschärft die schwierige Gesamtlage den Konkurrenzdruck zwischen allen Beteiligten, insbesondere aber zwischen den bis heute alltagsverantwortlichen Müttern, und rüttelt am Konkurrenztabu für Frauen bzw. Mütter in Privat- und Berufsleben.

Diese und zahllose weitere Paradoxien von Elternschaft werden durch die Tabuisierung der Machtverhältnisse verschleiert. Im Sinne von Professionalität, Kindeswohl und Elternwohl ist es unerlässlich, die Machtarchitektur moderner Elternschaft offenzulegen und den Umgang damit zu professionalisieren. Die Tagung geht einerseits den Fragen nach, warum, wie und in welchem Ausmaß Elternschaft vom Wandel gesellschaftlicher Machtbalancen betroffen ist und in welchen Beziehungen dadurch neue Spannungen und Konflikte entstehen. Andererseits wird gefragt, was notwendig wäre, um Machtbalancen zu entwickeln und zu stabilisieren, die den gesellschaftlichen Verhältnissen angemessener sind.

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