Gruppenfoto bei der Ringvorlesung.
Die Vortragende, Heidemarie Uhl (Mitte), mit Vertreterinnen der Universität Innsbruck.

Das öster­reichi­sche Ge­dächt­nis

Mit dem Vortrag von Heidemarie Uhl zum Thema des öster­reichischen Gedächt­nisses kam der zweite Teil der Ringvorlesung „100 Jahre Republik“ zum Abschluss. Heidemarie Uhl ist als Historikerin am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien tätig und lehrt darüber hinaus an den Universitäten Wien und Graz.

Einleitend erörterte Heidemarie Uhl den Begriff „Gedächtnis“. Bezug nahm sie dabei auf die Theorie von Aleida und Jan Assmann, die gemeinsam auf Grundlage des „kollektiven Gedächtnisses“ von Maurice Halbwachs die Begriffe des „kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses“ aufgegriffen und stark geprägt haben. Nach Jan Assmann hat das kulturelle Gedächtnis Fixpunkte, die sich durch schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit auszeichnen und in weiterer Folge durch deren Erinnerung in kultureller Form (z.B. Texte, Denkmäler oder Riten) und institutionalisierter Kommunikation (z.B. Rezitation) wachgehalten werden.

Was heißt österreichisches Gedächtnis?

Von Beginn an stand der Begriff des österreichischen Gedächtnisses mit der Frage des Umgangs mit der NS-Vergangenheit in Verbindung. Angestoßen wurden die kritische Auseinandersetzung in den 1980er Jahren durch zwei wichtige Ereignisse: der Waldheim-Debatte 1986 und dem Gedenkjahr 1988. Einige Jahre später kam schließlich der britisch-amerikanische Historiker Tony Judt (geb. 1948, gest. 2010; Tony Judt, Die Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, München/Wien 2006) zu dem Schluss, dass das österreichische Gedächtnis zwar als Sonderfall zu betrachten, aber Teil eines europäischen Gedächtnisses sei, da es im gesamten Europa zu einem Zerfall der politischen Nachkriegsmythen kam.

Nachkriegsmythos Österreich – Die Opferthese(n)

Für die Entstehung der Opferthese waren vor allem zwei Dokumente wichtig: die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 und die Moskauer Deklaration vom 31. Oktober 1943. In der Moskauer Deklaration wird Österreich als erstes Opfer des NS-Regimes genannt. Diese These war aber in der Nachkriegszeit nur von geringer Dauer und durch den beginnenden Kalten Krieg entstand eine weitere Opferthese. Dieser zweiten These zufolge wurden die Österreicher_innen selbst zu Opfern des Krieges. Damit wurde von einer bis dahin dominierenden Ablehnung der Integration von NS-Mitgliedern in das neue Österreich zu deren teilweisen Einbindung übergegangen. Sichtbar wird dies in der Errichtung zahlreicher Kriegerdenkmäler, die an die gefallenen und vermissten Soldaten der Wehrmacht erinnern sollten. Ein weiteres dafür bezeichnendes Beispiel und die beste Visualisierung dieser Opferthese befand sich ab den späten 1980er Jahren im Eingangsbereich der österreichischen Gedenkausstellung im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in Polen. Auf einer großen Grafik, die preußische Stiefel zeigt, die auf österreichischen Boden trampeln, wurde querliegend mit großen Lettern „11. März 1938: Österreich – Erstes Opfer des Nationalsozialismus“ geschrieben. Diese Ausstellung wurde erst 2013 abgebaut. Das Plakat selbst ist mittlerweile Ausstellungsobjekt im Haus der Geschichte Österreich in Wien. 

Der Zerfall der Opferthese – Waldheim und Vranitzky

Mit der Affäre um die NS-Vergangenheit des Präsidentschaftskandidaten Kurt Waldheim 1986 wurde erstmals die bisherige Doktrin Österreichs als Opferstaat selbst in Frage gestellt. Bei der Wahl des Bundespräsidenten ging es auch darum, sich für eines der beiden Gedächtnisbilder (Opfer oder Mittäter) zu entscheiden. Österreich war bei dieser Ablösung der Gedächtnisbilder aber kein Einzelfall. Generell kam es im gesamten europäischen Raum der 1980er Jahre zu einem „Reframing“ des Gedächtnisses. In Frankreich setzte sich beispielsweise der Historiker Henry Rousso (geb. 1954) erst 1987 mit dem Vichy-Regime und der französischen Mitschuld (Kollaboration) an Verbrechen des Nationalsozialismus auseinander (Henry Rousso, Le syndrome de Vichy. De 1944 à nos jours, Paris 1987). Damit ging zeitgleich ein Übergang dreier Aspekte einher: Der Übergang von einer Externalisierung zu einer Internalisierung (z.B. NS-Zeit nun als Teil der österreichischen Geschichte), der Wechsel von der Nation hin zur Gesellschaft (nicht nur der Staat war an den Verbrechen beteiligt, sondern auch andere Organisationen) und der Übergang von Helden zu Opfern (Erfahrungen der Opfer wurden nun in den Vordergrund gestellt). Das Ende der Beanspruchung der Opferthese kann schließlich mit der Rede Bundeskanzler Franz Vranitzkys vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991 gesehen werden, in der dieser nun von einer „Mitverantwortung für das Leid“ sprach.

Mit dem Zerfall der Opferthese zerbrach somit das alte Gedächtnis. Durch die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit konnte ein neues entstehen. Aus diesem Grund gilt es für die Zukunft weiter darüber nachzudenken, was im österreichischen Gedächtnis vorhanden bleibt, hinzukommt und geändert oder auch vergessen wird.

(Tobias Rettenbacher)

Der Vortrag zum Nachsehen:

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