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© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0

„daß es gerade die total offene Grenze wäre, die ausländerfeindlich wäre…“: Die Neugestaltung österreichischer Abschiebepolitik im Jahr 1990

Was haben Geschlechterverhältnisse mit Abschiebungen zu tun? Welcher Zusammenhang besteht zwischen historisch spezifischen Formen kapitalistischer Wertschöpfung und der gewaltsamen Außerlandesbringung von Nicht-Staatsangehörigen? In ihrem Dissertationsprojekt beschäftigt sich Judith Welz mit der Konstruktion von ‚Unerwünschten‘ im Rahmen der österreichischen Abschiebepolitik.

Die ‚Migrationspolitisierung‘ gesellschaftlicher Problemlagen

Die fünf Frauenmorde, die in Österreich im Jänner 2019 verübt wurden, lösten große Bestürzung aus. Die #metoo-Debatte hatte aufgezeigt, dass Gewalt gegen Frauen*1 in Österreich zur Tagesordnung gehört, und so schienen die jüngsten Fälle lediglich einen neuen Höhepunkt anzuzeigen. Als Mitglieder der Bundesregierungvor die Presse traten, lösten sie die Vorfällle allerdings aus der Geschichte sexistischer Gewalt in Österreich heraus und wendeten sie in einen Beweis, dass Frauenfeindlichkeit das Land erst im Zuge der jüngeren Fluchtbewegungen erreicht habe. Wolle man das ‚importierte Problem‘ lösen, so Kanzler Kurz und Vizekanzler Strache, müssten Abschiebungen forciert werden.

Dieses Beispiel zeigt, wie gesamtgesellschaftliche Konflikte – etwa ein Frauen* diskriminierendes Geschlechterverhältnis – auf das Politikfeld Migration übertragen und dort einer ‚Lösung‘ zugeführt wird. Diese Lösung kann allerdings nur Scheinlösung sein, da sie das Problem nicht als eines adressiert, das die gesamte Gesellschaft, sondern nur Migrantinnen und Migranten betrifft.

Das Projekt: Zur Konstruktion von Unerwünschten

In meinem zeitgeschichtlichen Dissertationsprojekt untersuche ich, wie sich die österreichische Abschiebepolitik seit den 1990er Jahren verändert hat. Dabei interessiert mich, welche Gruppen von Geflüchteten und Migrant*innen in diesem Zeitraum zu Abschiebbaren wurden, zu solchen also, deren Anwesenheit infrage gestellt wird und die im Ernstfall unter Gewaltanwendung außer Landes gebracht werden können. Darüber hinaus gilt mein Interesse den gesellschaftlichen und politischen Kräften, die sich an der Debatte beteiligten, sowie deren Deutungen hinsichtlich der „(Un-)Brauchbarkeit“, „(Un-)Tolerierbarkeit“ und „(Un-)Erwünschtheit“ der betroffenen Menschen.

Meine Forschung ist als Fallstudie konzipiert. Der vorliegende Beitrag präsentiert Ergebnisse aus meiner ersten Fallstudie, die sich mit der Transformation der Abschiebepolitik im Jahr 1990 beschäftigte.

Asyl- und Migrationspolitik vor 1990

Das Phänomen des „illegalen Aufenthalts“ ist in Österreich erst wieder seit 1990 politisch ein Thema. Bis in die 1990er Jahre hatte Österreich ein relativ liberales Asylsystem, wohl auch weil das Land bestrebt war, sich nach dem Zweiten Weltkrieg international als respektabler Staat neu zu erschaffen. Dazu kommt, dass potentielle Flüchtlinge weitgehend vom Eisernen Vorhang zurückgehalten wurden, und jene, die es – phasenweise auch in größeren Zahlen – nach Österreich schafften (Stichwort: Ungarnflüchtlinge 1956), für den Wiederaufbau eingesetzt wurden.

Neben der Asylpolitik sorgte das Gastarbeiter*innenregime ab den 1960er Jahren für einen Nachschub an Arbeitskräften, wobei die Bindung von Aufenthaltsrechten an Arbeitsverträge sowie das Rotationsprinzip gewährleisten sollten, dass sich die ausländischen Arbeitnehmer*innen nur so lange in Österreich aufhielten, wie sie benötigt wurden. Da ab 1954 nicht-österreichische Staatsbürger*innen grundsätzlich „zum zeitlich unbeschränkten Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt“ waren (§ 2 (1) Fremdenpolizeigesetz 1954), entwickelten sich unabhängig der offiziellen Arbeitskräfteanwerbung schnell andere Wege der Einreise und Arbeitsaufnahme.

Die Wende

Mit dem Fall des Eisernen Vorhanges bekamen viele Staatsangehörige vormals kommunistischer Staaten Reise- und Bewegungsfreiheit. Gleichzeitig machten die Schweiz und Deutschland ihre Grenzen dicht und schoben über Österreich Einreisende dorthin zurück. Damit war Österreichs Funktion als Transitland beendet.

Die Migrationsbewegungen, die mit Beginn des Jahres 1990 einsetzten, trafen in Österreich also auf ein relativ liberal gestaltetes Asyl- und Migrationsregime. Diese Situation drohte zwei bereits existierende Spannungsverhältnisse zu verschärfen: Zum einen stieg das Arbeitskräfteangebot, was von Seiten der österreichischen Arbeitgeber*innen und ihrer politischen Vertretung schon seit längerem gewünscht, von Arbeitnehmer*innenseite jedoch stets abgelehnt worden war. Zum anderen hatten sowohl die Regierungsparteien ÖVP und SPÖ als auch die FPÖ bis dahin ein Selbstverständnis Österreichs als Asylland kultiviert. Eine weitgehende Schließung der Grenze stand im Konflikt mit dieser viel beschworenen „österreichischen Identität“ (Sten Prot 15707).

Neugestaltung der Abschiebepolitik

In der Bearbeitung der Krise setzten sich zunächst jene Kräfte durch, die eine mehr oder weniger konsequente Schließung der Grenze befürworteten. Per Gesetzesbeschluss wurde die Aufenthaltsbewilligung wieder eingeführt und die Visapflicht für Angehörige einer Reihe von Staaten verhängt. Für den Fall einer Verletzung von Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen wurden die Möglichkeiten der Abschiebung erweitert. Gleichzeitig einigte man sich darauf, in naher Zukunft ein Einwanderungsrecht auszuarbeiten, das den Bedürfnissen österreichischer Unternehmer*innen entsprechen sollte. Die damals beschlossenen Maßnahmen waren also Wegbereiter des in den kommenden Jahren entstehenden äußerst komplexen Migrationssystems mit seiner Vielzahl an Aufenthaltsstatus, jeder einzelne geknüpft an ein unterschiedliches Bündel an Rechten.

Welche politischen Diskussionen diese Neugestaltung der Abschiebepolitik begleiteten, möchte ich im Folgenden anhand der parlamentarischen Debatte vom 14.03.1990, die den Beschlussfassungen vorausging, ausleuchten. Die Debatte dauerte sechs Stunden mit einer Unterbrechung von einer Stunde, ausgelöst durch Proteste auf der Zuschauer*innentribüne. Ich beziehe mich vor allem auf die Argumentationsstrategien der Regierungsparteien SPÖ und ÖVP, sowie der FPÖ, die gemeinsam die Novellierungen beschlossen.

Diskursive Strategien: Abschiebungen sind ‚gut für alle‘
  • Die Regierungsparteien erhoben zur zentralen Unterscheidung jene zwischen „echte[n] Flüchtlinge[n]“ und solchen, die ‚lediglich‘ auf der Suche nach einem besseren Leben waren. Da „ein kleines Land wie Österreich“ (Sten Prot 1990: 15609) nur entweder Asylland oder Einwanderungsland sein könne, müssten „Wirtschaftsflüchtlinge“ abgeschoben werden. Dies sei notwendig, um den ‚wahren Flüchtlingen‘ auch künftig Schutz zu gewähren. Laut SPÖ, ÖVP und FPÖ handelte es sich bei den in diesen Tagen um Asyl ansuchenden Personen um „Wirtschaftsflüchtlinge“.
  • Zentralen Stellenwert hatte auch der Diskurs um Schlepperei. „Schlepper“2 wurden vereinheitlichend als raffgierig, brutal und die Not der Geflüchteten ausnützend dargestellt und der Gruppe der „Geschleppten“ gegenübergestellt, die ihrerseits durchgängig als Opfer, ihrer Handlungsmacht entzogen und den Schleppern ohnmächtig ausgeliefert präsentiert wurden. Abschiebungen wurden vor diesem Hintergrund als Maßnahme eingeführt, die das Geschäft der Schlepper durchkreuzte und die Geflüchteten so vor Ausbeutung schützte.
  • Vertreter*innen von ÖVP und FPÖ rahmten Abschiebungen als demokratisches Gebot, denn die Menschen – gemeint waren wahlberechtigte Österreicher*innen – hätten Angst vor den Geflüchteten. Die Gründe für die Angst zu erörtern und gegebenenfalls zu entkräften, war keiner der beiden Parteien ein Anliegen. FPÖ-Abgeordneter Friedhelm Frischenschlager: „Ob zu Recht oder nicht, das ist eine zweite Frage.“ (Sten Prot 1990: 15718). Die Ängste diktierten bereits das harsche Vorgehen.
  • Sozialdemokratische Abgeordnete gaben zu bedenken, dass das Überangebot am Arbeitsmarkt zu einer Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Senkung der Löhne führen könnte. Davon betroffen wären besonders ausländische Arbeitskräfte, da zwischen bereits länger in Österreich Anwesenden und Neuankömmlingen ein Verdrängungskampf ausgelöst würde. Alfred Fister, Nationalratsabgeordneter der SPÖ, zog die Schlussfolgerung, „daß es gerade die total offene Grenze wäre, die ausländerfeindlich wäre.“ (Sten Prot 1990: 15705).
  • Gemäß einer von Abgeordneten der ÖVP forcierten Argumentationslinie mussten die Menschen zurückgebracht werden, da sie selbst die politische und wirtschaftliche Transformation gewünscht hätten und der eingeleitete Prozess ihres Mitwirkens bedürfte. Felix Ermacora (ÖVP) brachte dies in folgender Formulierung auf den Punkt: „Zurück in die neue Demokratie, die das Volk gewollt hat!“ (Sten Prot 1990: 15700). Wären die Menschen aus Osteuropa bereit, sich ihrer Verantwortung zu stellen, so würde Österreich mit Investitionen weiterhelfen, wie Paul Burgstaller (ÖVP) betont: „Wir sind bereit, Ihnen zu helfen. Aber helfen auch Sie mit, daß Ihr Land mehr Wohlstand, mehr Demokratie und damit eine Beachtung der Menschenrechte erreicht!“ (Sten Prot 1990: 15682).
‚Wirtschaftsflüchtling‘ als neuer Sündenbock

Die die Novelle beschließenden Parteien waren sich weniger darin einig, was die wirtschaftlichen Implikationen der damaligen Flucht- und Migrationsbewegungen betraf. Während die Sozialdemokratie die Zahl der auf den österreichischen Arbeitsmarkt strebenden Menschen gering halten wollte, sahen ÖVP und die wirtschaftsliberal ausgerichtete Fraktion der FPÖ Chancen in der Erhöhung des ausländischen Arbeitskräfteangebots für Teile ihrer Klientel. Bezeichnend ist, dass dieser Konflikt nicht offen – d.h. nicht als Teil der vorbereiteten Reden – ausgetragen wurde, sondern an zwei Stellen als Metadiskussion hervorbrach, während gerade andere am Wort waren. So hatte Karl Smolle (Grüne) dem damaligen Präsidenten des Gewerkschaftsbundes gerade vorgeworfen, sich nicht um die langfristige Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu kümmern. Daraufhin erfolgte ein Zwischenruf des sozialdemokratischen Innenministers Franz Löschnak: „Wir müssen sie zurückschicken.“ (Sten Prot 1990: 15684) Während Smolle weitersprach, forderte ÖVP-Abgeordneter Michael Graff den Innenminister heraus: „Wo bleibt da das Recht auf Arbeit?“. Da die Positionen der Parteien unvereinbar waren, endete die Metadiskussion auch hier. Der Kompromiss, der aus dem Gesetzgebungsprozess schließlich hervorging, bestand darin, momentan ein restriktives Vorgehen gegen Migrant*innen und Geflüchtete zu beschließen, jedoch eine Neufassung des Einwanderungsrechts in Aussicht zu stellen, das den Interessen österreichischer Unternehmer*innen entgegenkommen sollte.

Fazit

Auf Basis der Beschlussfassungen kam es im Jahr 1991 zu 20.000 zwangsweisen Außerlandesbringungen. Dass dies so ohne weiteres geschehen konnte, ist der diskursiven Strategie der beschlussfassenden Parteien geschuldet, die Abschiebungen von sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen als unproblematisch bis positiv darzustellen.

Die Konstruktion des ‚Wirtschaftsflüchtlings‘ erfüllte jedoch noch einen weiteren Zweck. Mit dem Fall des Eisernen Vorhanges bot sich für österreichische Unternehmer*innen die historische Chance, Produktionsstätten nach Osteuropa zu verlagern sowie vom Überangebot an Arbeitskräften am österreichischen Arbeitsmarkt zu profitieren. Mit diesen Druckmitteln in der Hand drohten sich die innerstaatlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber*innenseite zu verschieben. Um diesen Konflikt unter Kontrolle zu bringen, wurde der ‚Wirtschaftsflüchtling‘ als Projektionsfläche für Spannungen und Widersprüche genutzt, die postfordistischen Wirtschaftssystemen inhärent sind. Dadurch wurde ein unlösbarer Konflikt diskursiv in einen lösbaren gewendet. Denn die so bezeichnete Personengruppe konnte ja immerhin abgeschoben werden.

Insgesamt leiteten diese gesetzlichen Änderungen und neuen diskursiven Strategien einen asyl- und migrationspolitischen Kurswechsel ein, der in der Wissenschaft heute als Migration Management bezeichnet wird.

Quelle

Stenographisches Protokoll der 133. Sitzung des Nationalrates der Republik Österreich, XVII. Gesetzgebungsperiode, 14./15. März 1990, 15651–15796, Download 10. September 2018.

Die Schreibweise mit Stern verweist auf die Vielfalt der Geschlechtsidentitäten, die sich hinter dem Begriff „Frau“ verbergen.
Die männliche Variante des Begriffes wurde absichtlich gewählt, da Schlepper gewöhnlich als männlich imaginiert werden.

(Judith Welz)


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Judith Welz ist seit November 2017 Universitätsassistentin prae-doc am Institut für Zeitgeschichte und arbeitet an ihrem Dissertationsprojekt „The production of deportabilities: Austrian deportation politics from 1990 to the present“. Sie ist Koordinatorin und Kollegiatin des Doktoratskollegs „Dynamiken von Ungleichheit und Differenz im Zeitalter der Globalisierung“. Judith hat an den Universitäten Innsbruck, Wien, Lyon und Marseille/Aix-en-Provence studiert und Abschlüsse in den Fächern Politikwissenschaft und Kultur- und Sozialanthropologie. Bevor sie nach Innsbruck kam, hat sie an den Universitäten Wien und Birzeit (besetzte palästinensische Gebiete) gearbeitet.

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