Zukunft Forschung

Ausgabe 02 | 23

Von Innsbruck profitiert

Günther Dissertori, Rektor der ETH Zürich, über sein Physikstudium in Innsbruck, universitäre Rankings, den fehlenden Zugang der Schweiz zu EU-Programmen sowie die Bürcke von Higgs-Teilchen zur Alzheimer-Früherkennung.

ZUKUNFT: Warum haben Sie sich 1988 für ein Studium an der Universität Innsbruck entschieden?

GÜNTHER DISSERTORI: Dazu gibt es mehrere Antworten: Ich wollte auf Deutsch studieren, also kamen in erster Linie Österreich oder Deutschland in Frage. Für mich als Südtiroler war Innsbruck die Heimuniversität und auch nahe – ich wollte am Anfang nicht zu weit weg. Ein Jahr vor der Matura kamen Studierende der Uni Innsbruck zur Studienberatung nach Meran an unsere Schule – da habe ich gespürt, dass Innsbruck passt.

ZUKUNFT: Und wie kam es zur Physik?

DISSERTORI: Ich war naturwissenschaftlich interessiert, vor allem an Gentechnologie. Auf meine Frage, was ich denn dafür in Innsbruck studieren müsste, hieß es Biologie. Ein Blick ins Biologie-Programm hat mir gezeigt, dass ich da auch Botanik machen müsste – auf das Auswendiglernen von Blumen und Blättern, so meine damalige Vorstellung, hatte ich aber keine Lust. Ein Blick ins Programm für Physik hat mich dann getriggert, Physik zu wählen – obwohl ich dachte, dass das nur Nerds studieren und auch schaffen würden. Bereut habe ich es nie. Ich hatte an der Universität Innsbruck eine sehr gute Ausbildung in Physik, von der ich immer profitiert habe.

ZUKUNFT: Sie studierten quasi in der Vorbereitungsphase der erfolgreichen quantenphysikalischen Versuche, die ab den späten 1990er-, frühen 2000er-Jahren in Innsbruck durchgeführt wurden. Haben Sie das als Aufbruchstimmung wahrgenommen?

DISSERTORI: Das Thema Quantenphysik, diese Entwicklung, dass sich hier etwas aufbaut, hat man auch als Student gespürt. Anton Zeilinger war noch in Innsbruck, als ich begonnen habe. Dann kamen Peter Zoller und Ignacio Cirac oder auch Helmut Ritsch. Mich selbst hat allerdings die Teilchenphysik mehr interessiert. In der Gruppe von Dietmar Kuhn war ich sehr gut aufgehoben, er hat mir sehr früh ermöglicht, ein Sommerpraktikum am CERN zu machen. Das war für meine Karriere sicherlich entscheidend. Genossen habe ich auch die Ausbildung in Theoretischer Physik bei Josef Rothleitner und Gebhard Grübl, vor allem Rothleitner hat mich sehr geprägt.

ZUKUNFT: Was verbinden Sie mit Ihrer Studienzeit in Innsbruck?

DISSERTORI: Innsbruck war voller Studierender, es gab viele Möglichkeiten etwas zu unternehmen. Ich hatte eine gute Zeit und erinnere mich gerne daran. Für Südtiroler war es speziell, mit einer typischen Entwicklung. An Anfang fuhr man fast jedes Wochenende nach Hause, im Laufe der Zeit wurden die Zeiten, die man in Innsbruck verbrachte, immer länger. Ich war nicht der Einzige, der diese Entwicklung durchgemacht hat.

ZUKUNFT: Wie sehen Sie die Universität Innsbruck heute? Besteht noch Kontakt?

DISSERTORI: Ich habe immer wieder Kontakt, zum Beispiel zu Dietmar Kuhn und seiner Gruppe. Von der Universität Innsbruck habe ich zwei Bilder. Einerseits die europaregionale Universität, die diesbezüglich eine wichtige Rolle spielt, da sie an der Schnittstelle von Kulturen liegt. Andererseits ist sie in gewissen Punkten absolut weltführend. Das finde ich beeindruckend, dass man sich das erarbeitet und – etwa auf dem Gebiet der Quantenphysik – einen Namen geschaffen hat. Das ist nicht selbstverständlich, darauf kann man stolz sein.

ZUKUNFT: Schon als Doktorand kamen Sie ans CERN nach Genf. War der Sprung von Innsbruck in die Schweiz ein großer?

DISSERTORI: Ja und nein. Als ich die Möglichkeit bekommen habe, über ein Kooperationsprogramm von Österreich mit dem CERN dort das Doktorat zu machen, habe ich keine Sekunde überlegt. Insofern war es kein großer Schritt. Auf der anderen Seite ging ich zum ersten Mal in eine Stadt mit einer anderen Sprache. Ich musste viele neu aufbauen, auch mein privates Umfeld. Insofern war es ein großer Schritt. Am CERN war dann alles speziell und einzigartig, daher gab es auch nie den Gedanken, dass ich es nicht machen hätte sollen.

ZUKUNFT: Am CERN wurde 2012 erstmals die Existenz von Higgs-Teilchen nachgewiesen. In Ihrer Forschung schlagen Sie – unter anderem – eine Brücke von der Detektion von Higgs-Teilchen zur Alzheimer-Früherkennung. Können Sie diese Brücke kurz beschreiben?

DISSERTORI: Zur Detektion von Higgs-Teilchen wurden spezielle Detektoren gebaut, die sehr genau hochenergetische Lichtteilchen, die vom Zerfall des Higgs-Teilchens stammen, vermessen können. Unsere Gruppe an der ETH Zürich war massiv in den Bau des Detektors involviert. Von der Technologie her praktisch idente Detektoren gibt es in der medizinischen Bildgebung. In den 1970er wurde aus einer Zusammenarbeit von Medizinern mit Teilchenphysikern die Positronen-Emissions-Tomografie, kurz PET, entwickelt. Dabei kommen kleine Detektoren rund um den Körper oder Kopf zum Einsatz, auch hier geht es um den Nachweis hochenergetischer Lichtteilchen. Den nächsten Aspekt lieferten Forscherinnen und Forscher an der Medizinischen Fakultät der Universität Zürich: Für Alzheimer-Früherkennung, zur Darstellung von Plaque-Ablagerungen im Gehirn, ist PET der Goldstandard. Die Vision der Medizinkolleginnen und -kollegen war der Bau kleiner und billiger Scanner, um die Bevölkerung z.B. ab 50 systematisch zu scannen und Risikopatientinnen und -patienten weiter zu untersuchen bzw. schon früh zu behandeln, wenn möglicherweise Medikamente auf den Markt kommen. Das ist die Brücke vom Higgs-Teilchen zur Alzheimer-Früherkennung. Wir haben das Projekt durchgezogen, irgendwann kam die Idee auf, dies zu kommerzialisieren. Es wurde ein Startup gegründet, die Firma steht knapp davor, den ersten Scanner zu verkaufen.

ZUKUNFT: Egal wie man zu Uni-Rankings steht, Schweizer Universitäten schneiden in sämtlichen besser ab als österreichische Hochschulen. Was machen die Schweizer besser?

DISSERTORI: Eine gute Frage. Was macht schlussendlich die Qualität universitärer Bildung und Forschung aus? Am Ende sind es die Menschen. Das heißt, in jeder Organisation, ob es eine Universität oder ein Unternehmen ist, muss es das Ziel sein, die allerbesten Leute zu holen. Das muss das oberste Gebot sein. An der ETH verfolgen wir das seit über 150 Jahren sehr systematisch, das wirkt sich mittel- und langfristig aus. Hat man diese guten Leute, wird es leichter, andere gute Leute anzuziehen. Wichtig ist dabei, dass man bei der Berufung dieser Leute größtmögliche Autonomie besitzt, dass nicht zu viele mitreden, da sonst eventuell zu viele Interessen zusammenkommen und die Exzellenz leidet. An der ETH besitzen wir diese Autonomie in einem sehr großen Ausmaß. Wir haben intern sehr viele Freiheiten, zu bestimmen, welche Professuren eröffnet werden und wie wir sie besetzen. Größtmögliche Autonomie und Unabhängigkeit der Institution sind daher zentrale Aspekte – und die ETH hat in dieser Beziehung einen gewissen Vorteil gegenüber einer typischen österreichischen Universität.

ZUKUNFT: Und die finanziellen Mittel?

DISSERTORI: Am Ende kommt man natürlich nicht ums Geld herum. Wie ziehe ich die besten Leute an? Indem ich gute Bedingungen offeriere. Gute Bedingungen heißt auch gute Gehälter, den wirklichen Top-Leuten geht es aber um die gute Infrastruktur. Das heißt, Geld muss in gute Infrastruktur fließen. Da sind wir in der glücklichen Lage, dass die Grundfinanzierung der Schweizer Universitäten und speziell der ETH Zürich schon sehr, sehr gut ist. Vor allem in Hinblick auf die Grundfinanzierung: Jede Professorin, jeder Professor wird von Anfang an sehr gut ausgestattet und muss nicht jedes Jahr neu um Ressourcen anfragen. Natürlich können sie zusätzliche Ressourcen einwerben, da sind unsere Forschenden auch erfolgreich. Gut dotierte Professuren erlauben, Dinge zu verfolgen, die unmöglich erscheinen und dauern. An scheinbar verrückten Ansätzen über Jahre zu forschen, liefert manchmal aber auch Durchbrüche. Ich möchte aber nochmals betonen: Ich hatte an der Universität Innsbruck eine Top-Ausbildung, man sieht also, dass Top-Ausbildung nicht immer direkt mit Rankings korreliert. Es sind die Menschen.

ZUKUNFT: Die Schweiz ist nicht Teil großer EU-Programme wie Horizon Europe. Wie sehr schmerzt dieser fehlende Zugang der Schweiz zu bestimmten Zuschüssen, Finanzierungen und Forschungspartnern?

DISSERTORI: Es schmerzt aus verschiedensten Gründen. Es geht nicht nur allein um Geld, da gibt es Notlösungen – man kann etwa beim Schweizer Nationalfonds ähnliche Projekte einreichen. Dieser Wettbewerb ist allerdings ein anderer, er ist national, nicht international – den hohen Level eines ERC Grants kann man innerhalb eines Landes nicht erreichen. Es schmerzt auch wegen großer Kooperationsprojekte in Europa, unter anderem hatten ETH-Forscherinnen und -Forscher bei gewissen Projekten die Führung und mussten diese abgeben. Was das bedeutet, ist klar. Wenn man Projekte nicht mehr leitet, kann man sie nicht mehr entsprechend prägen. Es schmerzt auch, weil immer die Gefahr besteht, dass auf lange Sicht die besten Leute nicht mehr in die Schweiz kommen. Diesen Effekt spüren wir aktuell noch nicht sehr stark, man darf ihn aber nicht vernachlässigen. Die Politik unterschätzt bei Bildung und Forschung immer, wie langfristig die Wertschöpfungsketten sind  – Auswirkungen sieht man nicht in ein, zwei Jahren, sondern in zehn. Sieht man sie dann, ist es schon zu spät, denn es braucht dann wieder zehn Jahre, um zu korrigieren. Diese systematische Erosion macht uns große Sorgen.

ZUKUNFT: Gibt es Kooperationen mit europäischen Universitäten?

DISSERTORI: Auf der Forschungsebene arbeiten wir nach wie vor sehr eng mit vielen Universitäten zusammen. Es gibt zudem weiterhin institutionelle Kooperationen mit europäischen Universitäten. Die ETH Zürich ist z.B. als Mitglied einer der European University Alliances eingeladen worden und ist ENHANCE, dem Zusammenschluss von weiteren neun technischen Universitäten in Europa, beigetreten. Bezüglich der Fördermittel sind wir assoziiertes Mitglied, bezüglich der Zusammenarbeit sind wir aber vollkommen anerkannt – das ist sehr positiv. Wir sind ENHANCE auch beigetreten, um der Schweizer Politik zu zeigen, dass wir nicht am Spielfeldrand stehen, sondern mitspielen wollen. Schauen wir, wie lange uns dieses Thema noch beschäftigt.

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