Paula Schlier: Petras Aufzeichnungen. Konzept einer Jugend nach dem Diktat der Zeit. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Annette Steinsiek und Ursula A. Schneider im Auftrag des Forschungsinstituts Brenner-Archiv. Salzburg: Otto Müller 2018.

 

I. Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge von Paula Schlier

Zur Frage des Pazifismus (1923)

In: Süddeutsche Demokratische Korrespondenz Nr. 4, 5. Jg., München, 10.1.1923, 1–2
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Der antisemitische Kern des Nationalsozialismus (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Montag, 29. Januar 1923, 1–2
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Das Antisoziale des Nationalsozialismus (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 27. März 1923, 1–2 (Leitartikel)
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Vom Nationalen des Nationalsozialismus (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung).
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Walter Rathenau. Zum Jahrestage seiner Ermordung am 24. Juni 1922 (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung, Fränkische Freie Presse. Samstag, 23. Juni 1923, Ausgabe B, 1 (Leitartikel)
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Beruf und Mutterschaft (1926)

In: Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89-96.
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Zwei Träume: Der Flug ins Ungewisse (1928)Die Pilger (1928)

In: Die Literarische Welt, 6.1.1928, 
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Zur Frage des Pazifismus (1923)

In: Süddeutsche Demokratische Korrespondenz Nr. 4, 5. Jg., München 10.1.1923, 1–2

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Süddeutsche Demokratische Korrespondenz Nr. 4, 5. Jg., München 10.1.1923, 1-2.
Süddeutsche Demokratische Korrespondenz Nr. 4, 5. Jg., München 10.1.1923, 1-2.

 

 

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Zur Frage des Pazifismus.

sdk. In ganz anderem Maß wie vor dem Kriege sind wir heute gezwungen, uns mit Problemen der Politik auseinanderzusetzen. Was wir ehedem als Angelegenheiten des Staates empfanden, als Fragen, die uns nur indirekt angingen und kaum mehr als eine intellektuelle Spielerei für uns waren, bringt uns heute die Demokratie und noch mehr die furchtbare Not, in der wir uns nach jeder Seite und Tiefe hin befinden, ganz persönlich nahe. Ein Problem, das heute sozusagen in der Luft liegt, ist das der Zivilisation und ihrer Beziehung zur Religion; es umfaßt den Widerspruch der Wirklichkeit zum Geist, des historisch Gewordenen zu dem ethisch Wünschbaren, und begreift in sich die Frage nach der Stellung des Staates und seiner Staatsbürger zum Friedensgedanken.

Zur Erkenntnis der eigenen Einstellung zum Pazifismus gelangt man, wenn man Argumentation und Gegenargumentation seiner Idee untersucht. Zwei Einwände sind es vor allem, die man gegen den Pazifismus zu Felde führt.

            Der eine, allgemeinere ist der, daß er eine idealistische Utopie, praktisch zu nichts führt, real unmöglich ist, weil Gegensätze, wie stark und schwach, Krieg und Frieden, organisch und logisch bedingt sind und bleiben. Dies ergibt sich nicht nur aus einer Betrachtung der heutigen Zustände, sondern auch aus den Tatsachenerfahrungen der Geschichte, die dem historisch denkenden Menschen beweisen, daß früher fehlgeschlagene Versuche, [si]ch auch auf Gegenwart und Zukunft niemals günstig projezieren lassen. Die Einsicht in die Unmöglichkeit der Realisierung eines an und für sich vielleicht schönen und erstrebenswerten Gedankens, gebietet uns aber, wenn wir überhaupt lebenstüchtig sein wollen, daß wir auch ideell auf ihn verzichten. Dies umsomehr, als es für uns Deutsche heute wohl kaum etwas Gefährlicheres geben kann, als einer Idee nachzuhängen, die einseitig nur von uns, den Unterlegenen, nicht aber von den Machthabern natürlich-egoistischer weise gewünscht wird und deshalb unsere so sehr notwendige Widerstandskraft völlig zu lähmen im Stande ist, und die Nation, letztlich überhaupt den Staat, unbedingt untergraben muß.

            Dies ist der Einwand des nationalen Staatsbürgers, der im Grunde seines Wesens rational bestimmt ist und es auch sein muß. Seine praktische Einstellung dem Leben gegenüber, sein Denken und Fühlen in von jeher festgelegten Gesetzen, verbieten ihm jene Beweglichkeit und Freiheit, jene Unabhängigkeit vom eigenen Wohlergehen, die der Wirklichkeit spottet, und auch etwas gänzlich Neues oder Irrationales für möglich halten kann, verbieten es ihm, weil ein den Tatsachen nicht kongruentes Denken sein auf menschliche Vernunft gegründetes Leben in seinen Grundfesten erschüttern würde. Seine vielfache und oft instinktive Abneigung gegen den Pazifismus beruht auf der ganz richtigen Erkenntnis, daß alles wirkliche Leben, welches ein Kampf, ein Kräfteregen um die Erhaltung der Art ist, durch den Pazifismus auf das Äußerste gefährdet wird. –  –  –

Der andere, intellektuelle Einwand gegen den Pazifismus ist der, daß ein ewiger Friede gar nicht wünschenswert sei. Welche Täuschung, wenn wir glauben, wenn es keinen Krieg mehr gäbe, wäre Frieden! Vielmehr ist Krieg ein latenter Zustand und nur seine Form veränderlich. Auch der Friede ist Kampf, muß Kampf sein, und der äußere Krieg ist nicht einmal seine schrecklichste Form. Wenn wir ihn abschaffen, verschließen wir ein notwendiges Ventil zur Auslassung gestauter Kräfte, verlegen wir den Krieg ins Innere, Bürgerkriege werden unausbleiblich sein, der ganze Lebenskampf wird verfeinerter, raffinierter und umso grausamer. (Als praktische Parallele führt hier z.B. Ricarda Huch, die moderne Kriegsführung an, die die Tandenz des den Menschen in jeder Weise Schützen- und Schonenwillens hatte, gerade dadurch aber grausamer wurde als der frühere Nahkampf.) Auf diese zwei Einwände ist grundsätzlich folgendes zu erwidern:

            Wir müssen uns hüten von dem geschichtlich Gewesenen mit unbedingter Sicherheit auf das Werdende schließen zu wollen. Das organische Leben vollzieht sich nicht nach immer gleichbleibenden Gesetzen, und wer nach rationalen Erfahrungen das Leben regeln will, irrt sich oft. Erkenntnisse und Voraussagungen, die sich lediglich auf das Historische stützen, müssen notwendig oberflächlich sein, denn die Geschichte kann uns nur Tatsachen, Greifbares, Wirkung übermitteln, aber keine sicheren Aufschlüsse über treibende Ursachen, nicht faßbare Unterströmungen, innere Zusammenhänge geben. Wer kann mit Bestimmtheit sagen, ewiger Friede werde nie sein, weil er nie war? Der Nihilist Cuno Fiedler sagt einmal, - obwohl dieses Beispiel nicht ganz überzeugend wirkt, - mit dem gleich Recht, mit dem die Antipazifisten sagen, Krieg werde es immer geben, hätten die Südseeinsulaner, die bis vor Kurzem Kannibalen waren, behaupten können, Menschenfresserei müsse es immer geben. – –

            Und dann noch eins: Wenn wir den Pazifismus wünschen, wollen wir es doch nicht tun, lediglich in Hinblick auf den damit verbundenen Zweck, der praktischen Errichtung eines allgemeinen Friedenszustandes. Selbst wenn wir die Sicherheit seiner Unrealisierbarkeit hätten, dürften wir, als Menschen, doch nicht auf das Streben zu ihm hin verzichten. Wir orientieren unser Wollen doch deshalb ethisch, weil wir es innerlich müssen, ohne Rücksicht auf einen damit verbundenen äußeren Erfolg. Was wäre das für eine Sittlichkeit, die nicht um ihrer selbst willen da wäre, sondern erst eines Zweckes bedürfte?

            Was zuletzt zu dem zweiten Einwand, den man gegen den Pazifismus erhebt, zu sagen wäre, ist dies:

            Aus der Einsicht, daß die Abschaffung des äußeren Krieges ihn möglicherweise verfeinert, grausamer ins Innere verlegen würde, ergibt sich nicht so ohne Weiteres, daß man ihn deshalb überhaupt nicht bekämpfen soll. Wenn der Krieg mit äußeren Mitteln nur eine Form des latenten Kampfzustandes ist, so kann man daraus auch folgern, daß man ihm also nicht nur in dieser, sondern in jeder Form entgegentreten soll. Dies geschieht aber nicht dadurch, daß man sich zum Pazifismus in seiner jetzigen Form bekennt, noch weniger, daß man es dabei bewenden läßt. Der formale Pazifismus, den wir bis jetzt haben, ist in der Durchführung seiner Idee weder umfassend noch konsequent genug, wenn seine Mittel äußerlich und aggressiv sind, wenn er jeden Anderen, der kein Pazifist ist, verdammt, wenn er dadurch etwas zu erreichen glaubt, daß er Menschen zu seinen Anhängern zählt, die, was die Friedfertigkeit ihres ganz persönlichen Menschentums anbetrifft, noch lange keine Pazifisten sind. Wenn Gegner des Pazifismus darauf hinweisen, daß mit einer Abschaffung des Krieges den Menschen in nichts geholfen, im menschlichen Leben nichts zum Besseren geändert wird, so erkennen sie den inneren Konflikt des Pazifismus ganz richtig darin, daß es eine Sache an ihrem Schwanz anpacken heißt, wenn wir durch Organisationen, durch Programme, überhaupt durch Formen, irgend etwas in der Welt ändern zu können glauben, wenn wir nicht zu allererst unter uns, im Innern auf Frieden bedacht und ständig bemüht sind, jeder zuerst für sich Pazifist, Friedliebender, Mensch u. Christ zu werden.

            Die Frage der Stellungnahme zum Pazifismus ist unbedingt eine Weltanschauungsfrage des Einzelnen und eine ungeheuer schwere letzte Entscheidung. Der wesentlich religiös orientierte Mensch muß sich von der pazifistischen Idee angezogen fühlen, der vorwiegend im Nationalen wurzelnde Mensch, der Staatsbürger, wird sich zweifelnd oder ablehnend verhalten müssen. Denn unkonsequent und einseitig durchgeführter, formaler Pazifismus, ist wertlos, konsequent durchgeführter aber bedeutet den Ruin allen notwendigen Kräfteregens, die Aufhebung des Lebens selbst, und vor allen Dingen den Untergang der Nation. Vielleicht können wir aber in der radikalen Entscheidung zwischen Religion und Nation praktisch einen Mittelweg zu gehen versuchen, der kein Kompromiß, sondern tatsächlich eine Lösung sein könnte:

            Das Elend der Welt dadurch in einen Frieden lindern helfen, daß unser bewußtes Staatsgefühl, jedes Problem des Staates als ein ganz persönliches leidenschaftlich erlebend, kulturelle und sittliche Werte zu den eigentlich nationalen erhebt, nationale Fragen im engen Sinne zu Menschheitsfragen im weiteren Sinne werden läßt, damit wir in solcher Nationalität nicht nur dem Staate, sondern der ganzen Menschheit dienen.

Paula Schlier.

 

Der antisemitische Kern des Nationalsozialismus (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Montag, 29. Januar 1923, 1–2

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Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Montag, 29. Januar 1923, 1–2.
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Montag, 29. Januar 1923, 1–2.
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Montag, 29. Januar 1923, 1–2.

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Der antisemitische Kern des Nationalsozialismus.*)

*) Es erscheint wünschenswert, daß auch einmal eine Frau als Vertreterin vieler, die ähnlich denken, von ihrem weiblichen und mehr ethischen als politischen Standpunkt aus, das Wesen des Nationalsozialismus untersucht. Wir geben deshalb der vorliegenden Abhandlung, (die uns noch vor Verhängung des Ausnahmezustandes in Bayern zuging) gerne Raum in den Spalten des Nürnberger Anzeiger“. Die Schriftleitung.

Daß der Rotationsmittelpunkt allen innen- wie auch außenpolitischen Wollens des Nationalsozialismus die Bekämpfung des Judentums ist, braucht heute nicht erst bewiesen zu werden. Ein Blick in den auf kläglichstem Niveau stehenden „Völkischen Beobachter“ und andere nationalsozialistische Papiere, ein Gespräch mit einem seiner, hoffnungsfester anthropologischer, politischer und moralischer Verwirrung anheim gefallenen, Anhänger, und nicht zuletzt die Teilnahme an Versammlungen Hitlers, in der er zu betonen pflegt, „daß die beste Politik selbst Frankreich gegenüber darin bestünde, unsere Vaterlandsverräter“ der „gerechten Rache“ zu überliefern, genügt, um dies zu erkennen.

Es soll hier nicht auf die die Unwissenschaftlichkeit des Antisemitismus eingegangen werden, mit der ein Rassenproblem, das einer streng ethnologischen Untersuchung bedarf, von einigen voreingenommenen wissenschaftlichen Dilettanten einseitigst ausgenützt und der Masse mundgerecht gemacht wird. Nicht auf die Lächerlichkeit der antisemitischen Stammbaumforschungen, die zwar zu Entdeckungen von Halb- event. Viertels- und Achteljuden führen, ohne daraus die Konsequenz zu ziehen, daß wir zuguterletzt auf diese Weise Alle Juden werden. Es soll auch nicht näher auf die Ungerechtigkeit hingewiesen werden, mit der die Tatsache der Förderung deutscher Kultur auf allen Gebieten (in der Wissenschaft allein z.B. durch jüdische Ärzte), über eine Reihe glänzender Köpfe, wie Spinoza, Mendelsohn, Einstein, Rathenau hinweg, und ferner die Tatsache, daß (nach Sombart) unser gesamtes Wirtschaftsleben ohne die Juden einfach nicht mehr denkbar ist, sondern zusammenbrechen würde, skrupellos umgangen wird. Dies, warum der Antisemitismus falsch ist, soll hier nicht näher begründet werden.

Es soll vielmehr gefaßt werden, inwiefern er sittlich schlecht und politisch schädlich ist; es soll klargestellt werden, daß es nichts weiter als moralische und politische Schwäche ist, wenn ein Volk sich dadurch vom Untergang zu retten glaubt, daß es die Schuld von sich auf einen Anderen abzuwälzen versucht, daß es überhaupt nichts Anderes tut, als ständig nach einem Schuldigen suchen.

Der Antisemitismus geht von der Voraussetzung aus, daß jüdische Eigenschaften nicht nur fremdartig, sondern auch sittlich minderwertiger sind als deutsche. Auf diese Wertsetzung, auf die Behauptung nämlich, daß das Wesen des Juden ausschließlich intellektuell, materialistisch, egoistisch, und antinational bestimmt ist, baut sich der große Versuch auf, den jüdischen Charakter als Seuche unseres Volkstums, als verbrecherisch in Vergangenheit und Zukunft und alleinschuldig an unserem Zusammenbruche hinzustellen. Die gewaltige und immer weitere Kreise in ihren Strudel reißende Wirkung dieser Methode erklärt sich sofort, wenn man bedenkt, auf was sie sich stützt:

Auf die Anklage eines Anderen.

Gibt es irgend etwas, was dem Menschen angenehmer wäre, als wenn man im schwerst erträglichen Augenblick zu ihm sagt: Du selbst bist gar nicht schuld, sondern der Andere, als wenn man ihm im geeignetsten Moment die Last der Verantwortung von den eigenen schwachen Schultern nimmt und sie dem Anderen aufbürdet? Hier liegt das Geheimnis der ungeheuren suggestiven Wirkung des nationalsozialistischen Gedankens, von hier aus erklärt sich Hitlers Erfolg. Im Augenblick der heftigsten Enttäuschung macht er den primitiven Instinkten der Masse nach einer Rechtfertigung vor sich selbst, der Eitelkeit und Selbstweihräucherung, dem Wohlgefühl, das durch das Bewußtsein der eigenen Unschuld erzeugt wird, dem Bedürfnis nach Anklammerung und einer bequemen, konkreten Lösung – im Ganzen: dem Zustand der

            undemokratischen Unselbständigkeit

nicht nur Konzessionen, denn das wäre zu wenig, sondern unterschiebt ihnen auch ein dankbares Objekt für ihre Vergeltungsgelüste, indem er sie für gerecht, die Juden aber für alleinschuldig erklärt. Deshalb auch der Zulauf vor Allem aus bürgerlichen Kreisen; denn nichts ist dem Durchschnittsmenschen unerträglicher, geht ihm mehr an seinen Lebensnerv, als das Eingeständnis eigener Fehler und die freie und schöne Bereitschaft zu selbstverantwortlichem Tragen und selbstverantwortlicher Änderung irgendwelcher schlimmer Folgen.

            Aber ist es denn so, daß die Juden schuldig sind und wir nicht? Selbst gesetzt den Fall (dem nicht so ist!), daß jüdischer Geist, jüdischer Kapitalismus, jüdische Politik unsern Untergang herbeiführten, so wären nicht wir daran schuld? Wie ist denn an einem Unternehmen, an dem doch beide beteiligt waren, nur ein Teil schuldig, ist nicht vielmehr der, welcher etwas duldet, ebenso zur Verantwortung zu ziehen, wie der, welcher sich etwas erlaubt? Ist es nicht so, daß Aktivität auf der einen Seite erst durch Schwäche auf der anderen ermöglicht wird, und daß Passivität auch Schuld ist? Wer möchte im Ernste so erbärmlich sein, daß er sich jeder Verantwortung für ein gemeinsames Unglück glaubt entziehen zu dürfen? Und wer so kurzsichtig, daß er meint, unsere Passivität könne durch krampfhafte Gesten, wie sie dem Nationalsozialismus eignen, überwunden werden, eine Aktivität, die doch nicht nur aus minderwertigen Wesensqualitäten resultieren kann, sondern aus wirklichen Kräften, wie Intelligenz, Wille, Fleiß, Zielstrebigkeit es sind, könne durch äußerlichen Angriff zerstört werden? Es ist beschämend, wenn man jüdischen Einfluß dadurch zu vernichten glaubt, daß man zetert, schimpft, wütet, daß man mit Gummiknüttel und Liederabsingen, mit Sturmabteilungen und Hetzreden, mit Demagogie, glaubt, den „jüdischen Kapitalismus“ und die „jüdische Politik“, geistige Mächte also, aus der Welt schaffen zu können! Eine Bewegung, die sich so sehr wie die Hitlersche (lassen wir uns durch den Augenschein nicht täuschen!) allein auf äußerliche Gewalt stützt, beweist nur ihre Unfähigkeit zu einer geistigen Kampfart, die allein zulässig wäre bei geistigen Belangen, die hier allein in Frage stehen. Ein gewaltsames Vorgehen trifft ja niemals den Kern einer Sache, das, worauf es ankommt, es geht immer daneben wie eine unrichtige Antwort auf eine ganz anders gestellte Frage, und bleibt unwirksam wie das Rütteln von Gefangenen an Gitterstäben. Wenn jemand jüdischen Geist für schädlich hält, so soll und kann er dies nicht anders zum Ausdruck bringen, als daß er seinen Geist, seine Seele, seine ernste Arbeit auf seine Art im Vertrauen jener entgegensetzt. Nichts Anderes ist möglich. Dies allein wäre nicht nur die praktisch mögliche und allseitig fruchtbare, sondern doch auch die sittliche und christliche Kampfart. Wie, man bekämpft Juden auf Grund seines besseren Christentums? Welch ein Christentum, welch christliche Art, welche Christen!

            Es wende niemand ein, daß es keine andere politische Kampfesweise gebe. Wenn irgend etwas auf der Welt niedrig, so ist es dies, immer den Anderen anzuklagen, den Stein auf den Anderen zu werfen, ständig nach einem Schuldigen zu suchen, selbst in Verknüpfungen, in denen es überhaupt kein Schuldig und Unschuldig mehr gibt, statt bei sich, nur bei sich selbst anzufangen, zu ändern und zu bessern! Wenn es eine politische Schuld gibt, so ist es die, sich mit der Vergangenheit und ihren Schuldigen zu befassen, statt (um mit Max Weber zu reden) sich allein um das zu kümmern, was angesichts der sachlichen Interessen, die für uns alle auf dem Spiele stehen und

            angesichts der ungeheuren Verantwortung vor der Zukunft

zu tun ist. Diese sachliche Verantwortung gegenüber der Zukunft, Angelegenheit des Politikers allein, fehlt den nationalsozialistischen Führern. Was geschieht, was folgt, wenn wirklich der Versuch gemacht würde, den „Tag der Rache“ zu erfüllen? Die Bewegung würde, an einem Widerstand, an einer Reibung zerschellend, von deren Stärke sie nicht einmal etwas zu ahnen scheint, und weil ohne anderen Inhalt als einen negativen, als den Augenblickszweck der Zerstörung von etwas Bestehendem, ohne jede große Idee, die den Zweckgedanken überdauern könnte, das ganze Volk in

            ein grenzenloses Chaos reißen!

Leidenschaft allein ist für den sich verantwortlich Wissenden Politiker etwas wenig. Aber auch jene Vernunft ist verwerflich, die glaubt, daß der Zweck die Mittel heilige. Nie und nimmer darf es, zumal für den Politiker, irgendwelche Mittel geben, die nicht an und für sich schon gerechtfertigt, heilig wären.

            Adolf Hitler ist vielleicht – Antonius, aber sein Schicksal kann das des – – Brutus werden! Die Massen werden ihn verlassen in dem Augenblick, da er sie braucht und gerade, weil sie Hosianna schreien. Es ist nicht in seinem, aber im Interesse des ganzen deutschen Volkes, zu hoffen, daß es so komme.

            Paula Schlier.

 

Das Antisoziale des Nationalsozialismus (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 27. März 1923, 1–2 (Leitartikel)

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Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 27. März 1923, 1–2 (Leitartikel)
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 27. März 1923, 1–2 (Leitartikel)
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 27. März 1923, 1–2 (Leitartikel)
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 27. März 1923, 1–2 (Leitartikel)

 

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Das Antisoziale des Nationalsozialismus.

Es gibt ein Kinderspiel, daß darin besteht, auf einem Bild, welches einige Bäume und, sagen wir, einen Hund darstellt, den dazugehörigen, aber nicht ohne Weiteres sichtbaren Jäger ausfindig zu machen. Man dreht und wendet das Bildchen, sucht mit allen Schikanen, vielleicht mit einer Lupe den Jäger und findet ihn, wenn man will und Phantasie hat, abseits in einer Ecke oder in den Ästen der Bäume oder sonstwo in einer ganz unmöglichen anatomischen Zusammensetzung. – Genau so geht es uns, wenn wir den Nationalsozialismus auf sein großes Rätsel hin betrachten:

            Wo ist der Sozialismus des Nationalsozialismus?

In der Praxis der nationalsozialistischen Bewegung ist nichts von ihm zu spüren. In den Versammlungen und Presseorganen beschäftigt man sich nie positiv mit Sozialismus. Es wird niemand behaupten wollen, die Sphäre um Hitler und seine Freunde herum sei eine wahrhaft soziale. Ja, wo ist nun aber der Sozialismus des Nationalsozialismus? Mit der Lupe gelingt es uns schließlich, ihn zu entdecken, und zwar im Programm der Partei.

            Die Punkte, die Leichtgläubige sozialistische nennen, beschränken sich im Wesentlichen auf folgende:

  1. Gleiche Rechte (Erwerbs- und Bildungsmöglichkeit, Auslese nach Charakter und Fähigkeiten),
    und gleiche Pflichten (Zwang zur gemeinnützigen Arbeit) aller Staatsbürger.
  2. Verstaatlichung mit Auswahl. (Abschaffung der Zinsknechtschaft; Verstaatlichung der Trusts, der Großwarenhäuser; Ausbau der Altersversorgung; Bodenreform).
  3. Allerlei. (Kampf gegen Wucher; Mutter- und Jugendschutz; Abschaffung des römischen Rechtes).

Es gehört keine Scharfsinnigkeit dazu um zu erkennen, daß diese Forderungen grundsätzlich sehr alt und dazu sehr dürftig sind, und weiß Gott nicht auf ihre Formulierung durch den Nationalsozialismus haben warten brauchen. Es sind Forderungen, die heute für jeden loyal Denkenden diskutabel sind, Forderungen, die zum großen Teil in der Verfassung verankert sind, und Forderungen, die der Nationalsozialismus vom sozialdemokratischen Programm glatt übernommen, bzw. verflacht und in ein Surrogat verwandelt hat. Es gehört eine

      unglaubliche Naivität

dazu, aus den immerhin immanent wissenschaftlichen Gedanken des Sozialismus ein paar Brocken herauszufischen, den Inhalt zu verwässern und ihn dann noch mit einem Anspruch auf Originalität aufzustellen. Es ließe sich im Einzelnen nachweisen, von wem diese Forderungen übernommen wurden, es ließe sich ferner die wissenschaftliche und technische Oberflächlichkeit verschiedener Punkte, z.B. Brechung der Zinsknechtschaft (!), Ersatz des römischen durch ein deutsches Recht (!) usw. aufzeigen. Das kann heute aber nicht die Sache sein.

      Zunächst sei ein Einwand der Nationalsozialisten vorweggenommen: Sie könnten behaupten, Niemand erhebe einen Anspruch auf Selbständigkeit ihres sozialistischen Programmes, vielmehr bestünde die Originalität in der durchaus neuen Verknüpfung von Sozialismus und Nationalismus. Demgegenüber ist zu sagen, daß eine Sache nicht dadurch etwas wird, daß sie eine Verbindung mit einer andern eingeht, sondern daß sie dies höchstens tun kann, wenn sie erst etwas an und für sich ist. Es ist eine ernsthaftere Sache um Sozialismus, als sich der Nationalsozialismus auch nur träumen läßt. Es handelt sich um grundsätzliche Entscheidungen, die sich nicht nach Belieben anerkennen oder ignorieren lassen. Es geht nicht an, daß man starke Ideen verzerrt und verdünnt, daß man ein paar Programmpunkte aufliest, um sich ein sozialistisches

Anhängsel

zu geben. Es geht nicht an, daß man sich um das Soziale herumdrückt, wenn man Sozialist sein will. Man kann nicht „auch“ sozialistisch sein. Wer will, daß man ihn Sozialist nenne, dem muß man es anmerken, daß es ihm um Sozialismus ganz persönlich zu tun ist. Man sehe sich aber die Nationalsozialisten und ihre Freunde und Gönner auf ihr soziales Gefühl und Gebahren [sic] hin an! Man kann sich natürlich trotzdem sozialistisch nennen, o ja. Aber man ist es nicht, man ist mehr als das nicht, man ist nicht sozial.

      Und das ist vor Allem die Sache, über die heute zu sagen ist. Der Nationalsozialismus hat nicht nur Programmpunkte gefischt, um mit Anstand „auch“ sozialistisch sein zu können, sondern er hat auch – dies ist besonders in Hinsicht auf die abtuende und unflätige Weise, mit der er den Marxismus bekämpft, beachtenswert, – mit Programmpunkten das Antisoziale des Marxismus übernommen und genau dieselben Fehler, die er ihm so leidenschaftlich vorwirft. Gerade das, was er am Sozialismus auszusetzen hat, haftet ihm selber an und vielleicht in stärkerem Maße als diesem: er hat Machttendenzen, er ist materialistisch und er ist auch antinational.

      Es gibt keinen Sozialismus, der nicht schon in den Mitteln, die er zur Erreichung seines Zieles ergreift, sozial ist. Das ist im Grunde der gleiche Vorhalt, den der Nationalsozialismus dem Marxismus macht, wenn er behauptet, daß dieser unter Vortäuschung von Sozialismus – Gemeinschaftsgeist, unter der Maske Gleichheit und Brüderlichkeit, praktisch nichts anderes war, als ein

Macht- und Klassenkampf.

Wie weit das richtig ist, kann hier nicht untersucht werden. Etwas anderes ist es, daß es der Nationalsozialismus ist, der diesen Vorwurf zu machen hat! Der Nationalsozialismus wagt es, den Marxismus einen Weltbetrug zu nennen, weil er ein Machtkampf war! Derselbe Nationalsozialismus, der erklärt, daß es nur die Macht, nur die Gewalt [(]Militärdiktatur!) sind, die den Idealstaat schaffen, der glaubt, Sozialismus wie Nationalgefühl, sittliche Werte also, lassen sich einpauken und aufzwingen, und der

            diesen Demagogenwillen und diese „eiserne Diktatorenfaust“

auch auf Schritt und Tritt zu beweisen sich bemüht! Dieser selbe Nationalsozialismus lehrt doch nichts Anderes als „Kampf bis aufs Blut“ und zwar auch unter der Fahne eines Freiheits- und Gleichheitsideals! In seiner Machttendenz geht er sogar soweit, daß er eines seiner wichtigsten sozialen Ziele, die Erwerbsmöglichkeit aller Staatsbürger, dadurch zu erreichen glaubt, daß er alle sogen. „Nichtstaatsbürger“ (Juden) des Landes verweisen will (7. und 8. Programmpunkt). Die soziale Forderung soll also durch ein soziales Verbrechen ermöglicht werden. Dies bedeutet die Krönung einer antisozialen Machttendenz, die gewiß im „Klassenkampf“ des Sozialismus ein schwächeres Abbild besitzt. Dem Prinzip nach ist es ein und dasselbe, ob sich Klasse gegen Klasse, oder eine Partei gegen eine Volksgruppe wendet, denn das Endscheidende ist die beiden gemeinsame

            Gewalttendenz.

Die soziale Tendenz aber, ohne die Sozialismus nicht denkbar sein sollte, schließt den Verzicht aller Herrschaft über alle Menschen in sich ein.

            Der zweite Vorwurf, den der Nationalsozialismus gegen den Sozialismus erhebt, ist der des Materialismus. Aber auch dieser Vorwurf trifft den Nationalsozialismus selber in hohem Maße, in einem engeren und weiteren Sinn.

            Einmal wird auch der Nationalsozialismus nicht ohne „wucherischen Weltkapitalismus“, um dessen Gunst gebuhlt zu haben, die ständige Anklage gegen den Marxismus ist, auskommen können und sich von Kapitalisten – wie man wohl annehmen darf, – ebenso gern als kräftig unter die Arme greifen lassen.

            Das Wichtigste, was Hitler immer vergißt, ist das, daß auch der Marxismus, eine Staatstheorie, nicht mehr tun konnte, als ein soziales Programm aufstellen. Seine Verwirklichung ist schon nicht mehr Sache des Marxismus, sondern der Menschen, die ihn wollen. Wer bürgt dafür, daß Hitlers wirtschaftlich-soziales Programm durchgeführt wird? Das Programm nicht und Hitlers Wille nicht, ebensowenig wie Marx’s Wille. Bürgen konnte dafür nur die wahrhaft soziale Gesinnung seiner Anhänger. Er selber aber tut nichts dafür, daß die Gesinnung auch sozial werde!

            Zum Anderen besteht der Materialismus des Nationalsozialismus darin, daß auch er keinen einzigen sozialen Gedanken besitzt, der über dem wirtschaftlichen stünde. Ganz richtig, Sozialismus sollte mehr sein, als ein Wirtschaftsprogramm, mehr sein als eine Frage des Habenwollens. Der Wirtschaftsgedanke sollte nicht Selbstzweck sein. Aber wo steckt im Nationalsozialismus der soziale Gedanke, der nicht wirtschaftlich wäre? Wo ist der Staatsgedanke, der nicht rationalisiert ist? Inwiefern will man letzten Endes etwas Anderes als die materielle Besserstellung der Staatsbürger? Wo ist ausgedrückt, daß der Staat mehr ist, als eine Versicherungsanstalt für Brot und alle Sicherheiten verlangenden Bürger? Es kann ja nicht gut anders sein, nichts ist heute brennend wichtiger als Brot. Aber dann lasse man doch auch das pharisäische Gezeter über den Materialismus anderer Weltanschauungen!

            Wenn ich aber sage, der Nationalsozialismus sei in einem weiteren und stärkeren Sinne materialistisch als der Sozialismus, so meine ich damit seinen Glauben, durch bloße Gesetze, durch Züchtung eines Willens, durch Diktatur und Gewalttätigkeiten, durch eingelöffelte Gefühle und eingepaukte Meinungen,

            überhaupt durch Äußerlichkeiten,

allein etwas erreichen zu können. Solche Methoden sind ausgesprochen materialistisch und in diesem Sinne war es der Marxismus viel weniger. Er war evolutionistisch und hatte zu große Achtung vor dem Menschen, als daß er glaubte, ohne dessen eigene Änderung bessere sich ein System. Materialistisch ist der Nationalsozialismus, weil er

            Geistlosigkeit und Oberflächlichkeit züchtet,

weil er es seinen Anhängern bequem macht, so bequem und leicht, wie alles wird, wenn man sich selbst von aller Schuld freispricht und Andere als den Sündenbock hinstellt. Dies ist nicht nur schlimmer Materialismus, sondern zugleich Alles andere als sozial –

            Antisozial ist es,

wenn man so maßlos ungerecht – und nebenbei dumm – ist, daß man einen seit Jahrhunderten im Volke eingewurzelten Volksstamm nicht nur mit der Alleinschuld an unserem Elend belastet, sondern ihn auch in einer direkt kindisch anmutenden Weise dafür bestrafen will!

Materialistisch und antisozial ist es, wenn man glaubt, Neues und Gutes entstünde aus dem Prinzip der Beraubung und Zerstörung, durch einfache Vernichtung von Energien an Kapital und Bildung.

            Antisozial ist es, wenn man selber keine Schuld eingestehen will, sondern raisonniert, tobt, und Gefühle durch übertriebene Gesten verkitscht!

Antisozial ist es, wenn man durch Phrasen glücklich wird, und froh ist, nicht selbst denken und auch etwas opfern und Verantwortung tragen zu müssen.

Antisozial ist es, wenn man die Selbsterziehung sich schenkt und selber nicht neu werden will, sondern das Heil im möglichst selbstherrlichen Führer sieht.

Antisozial ist es ferner, wenn man keine Menschlichkeit und Brüderlichkeit in dem Sinne wünscht, daß einer neben dem anderen geachtet und unbeschadet bestehe.

Gewährleistet ist dieses Soziale, der eigentliche Kern alles wahren Sozialismus, heute allein in der

Demokratie.

Sie verlegt das Hauptgewicht auf das in jeder Weise Bindende und Aufbauende und nicht auf das Trennende und Zerstörende. Ihr ist am wertvollsten von allen Dingen der Mensch an und für sich. Deshalb stellt sie ihn auf sich selbst und gibt ihm Verantwortung, mag dies auch schwer und sogar nicht immer vorteilhaft für ihn sein. Die Demokratie, weiß, daß der Weg und die Umwandlung zum Sozialen hin, nur, wie Landauer – der, trotzdem er Jude war, um wahren Sozialismus sehr gut Bescheid wußte, einmal sagte, „in Arbeit, in Liebe, und in Stille kommen kann.“

            In diesem Sinne kann und muß der soziale Mensch zugleich national sein. Es gibt tatsächlich eine Verbindung von national und sozial, aber nicht wie es der Nationalsozialismus meint! National und sozial lassen sich nur vereinigen, wenn ihre Absicht eine gemeinsame und keine sich so scharf widersprechende wie beim Nationalsozialismus ist. Vom nationalen Gedanken des Nationalsozialismus aber ein ander Mal. Heute nur noch die Frage:

            Ist es wirklich national, unserem unsäglich armen und kranken Staat, ständig in den Rücken zu fallen und ihm die erdenklichsten Schwierigkeiten zu beraten? Ist es national, aus der entsetzlichen Lage des Landes Propagandamaterial für das eigene System herauszuschlagen? Wäre es nicht nationaler, statt einen den Staat schwächenden Kurs einzuschlagen, sich hinter und zu ihm zu stellen, ihm zu helfen, ihn nicht in der Not im Stiche zu lassen? Wäre dies nicht umso leichter möglich, je mehr man über wirklich starke nationale Kräfte verfügt und je aktiver und weniger oppositionell man mithilft? Sollte nicht jeder seine Tüchtigkeit gerade deshalb, weil es uns schlecht geht und gerade, weil die Republik kein Produkt des Sieges, sondern ein solches der Sorge und Mühe ist, in den Dienst der allgemeinen Sache stellen? Wäre ein solches „trotzdem“ nicht tapferer und wahrhaft nationaler?

P. Sch.

 

Vom Nationalen des Nationalsozialismus (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung)

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Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung).
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung).

 

 

Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung).
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung).
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung. Organ für Vertretung aller freiheitlichen Volks-Interessen. Dienstag, 24. April 1923, 1 (Leitartikel) und Mittwoch, 25. April 1923, 1 und 2 (Fortsetzung).

 

Volltext

Vom Nationalen des Nationalsozialismus

            Das nationale Element des Nationalsozialismus ist das Vordringlichse, das Positive und der Zweck der ganzen Bewegung. Ließe es sich beweisen, daß das nationale Empfinden der Nationalsozialisten stark und echt und wirklich national ist, so wären alle anderen Mängel, die dem Nationalsozialismus anhaften, aufgehoben und er selber irgendwie gerechtfertigt, so wichtig ist das nationale Element in ihm. Um seiner nationalen Tendenz willen hat er seine Freunde und zumal in Bayern seine vielen Anhänger, darum drückt die bayerische Regierung, Sympathie verratend, beide Augen zu. Wenn wir also die Frage nach der Echtheit und Kraft seines nationalen Gedankens stellen, so haben wir sie eindringlicher, ernsthafter und tiefer zu prüfen, als alle anderen Fragen, die man ihm stellen kann. Sie ist umso wichtiger, als man sie heute nicht aufwerfen kann, ohne zugleich selbst persönlich zum Nationalen Haltung zu nehmen. Sie geht Jeden von uns an, denn nichts ist heute für uns alle existenziell wichtiger als die Frage: Wie diene und helfe ich Deutschland am besten? Wir wissen, müssen es wissen, es geht um Leben und Tod der Nation. Über Leben und Tod zu entscheiden, haben aber letztlich wir, mehr als wir glauben, durch unsere eigene, durch unsere Volkskraft, also durch unsere nationale Kraft, die Macht.

            Warum wir uns aber gezwungen sehen, uns mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, statt, wie unser Gefühl es vielleicht will, jeder an seiner Stelle einfach national zu sein und das Nationalgefühl Anderer als dem unseren nicht adäquat einfach abzutun, ist dies: Die

            Nationalsozialisten maßen sich an, Alleinbesitzer allen nationalen Empfindens

zu sein. Das ist es, wogegen wir uns in erster Linie verwahren müssen. Was uns jedoch so empört und verletzt, ist nicht nur diese Anmaßung, sondern die Tatsache, daß es im Grunde unsere nationalen Gedanken sind, die der Nationalsozialismus zu etwas ganz anderem geformt hat; es sind im Grunde dem deutschen Wesen gemäße und keineswegs fremde Ideen (wie z.B. die Idee des Kommunismus in Deutschland), es sind unsere eigensten, besten deutschesten Gedanken, die der Nationalsozialismus mit groben Fäusten für seine Zwecke präpariert: Sozial sein und trotzdem sein Vaterland lieben können! Das war ja unser Wesen – vielleicht war es oft verschüttet, – wir strebten in glücklichsten wie schlimmsten Zeiten stets danach über enger Nationalität das Menschsein nicht zu vergessen! Das heißt aber doch nationalsozial sein. Daß dieses unser tiefstes Wesen, wodurch wir uns gerade als deutsch von den anderen Nationen unterscheiden, Gefahr läuft,

            durch den Nationalsozialismus zu einem Zerrbild zu werden,

das ist es, warum wir ihn nicht einfach ignorieren können! Denn auch wir, wir Demokraten, lieben Deutschland! Auch wir wissen es vielleicht in schwererer Gewißheit, was echtes Nationalgefühl heute für uns wert ist, auch wir wissen um den Kampf zwischen Frankreich und Deutschland, um diesen tausendjährigen, verbissenen, hoffnungslosen Kampf, der ausgetragen werden muß. Auch wir wissen, daß es letzten Endes dem Franzosen gar nicht um Rhein und Ruhr geht, nicht einmal um „20 Millionen Deutsche“, überhaupt nicht nur um Deutsche, sondern prinzipiell

            um das Deutsche,

unsere Feindschaft hat nichts Menschliches mehr, sie hat etwas Mystisches und die Schrecknisse und Kraft einer unbekannten, unbezwingbaren Naturmacht, – Germanisches steht gegen Romanisches! Es ist wichtig, dem Nationalsozialismus gegenüber zu betonen, daß gerade wir Demokraten es wissen, daß bei einem solchen Kampf, der jeden Frieden zum schlimmsten Kriege macht, letzten Endes kein europäischer Kulturwille und keine internationale Finanzierung uns helfen kann, wenn wir uns zuerst nicht selbst helfen. Bis zu dieser Erkenntnis gehen wir also mit dem Nationalsozialismus einig.

            Worin wir uns aber unterscheiden, und zwar radikaler und grundsätzlicher, wie es stärker gar nicht sein kann ist das Wie, die Art des Nationalgefühls, ist dies: Gerade, weil wir um die Tiefe und Unerbittlichkeit und um die Konsequenzen des Kampfes zwischen Frankreich und Deutschland wissen, gerade deshalb erkennen wir, daß er von uns in der Welt nur dann überstanden werden kann, wenn wir

            diejenigen nationalen Kräfte

wecken und sammeln, die uns Frankreich im Innersten überlegen machen, die uns von ihm unterscheiden, die die widerstandskräftigsten und bodenständigsten bei uns sind, die uns auferstehen und jeden Einzelnen von Grund aus neu und stark werden lassen, diejenigen Kräfte, die uns an unsere Kultur und an unsere Erde binden. Wir müssen also gerade aus Nationalbewußtsein ein Nationalgefühl ablehnen, das sich mit unwesentlicheren Dingen befaßt, als mit diesen, wir müssen eine Leidenschaft ablehnen, die nicht das ganze Volk zu einem einheitlichen Block zusammenreißt, sondern im Innersten zerstörend und entkräftigend wirkt, die sich mit dem inneren „Feind“ mehr befaßt als mit dem äußeren.

            Wir müssen ein Nationalgefühl ablehnen das in seinem Wesen und seinen Zielen, eine

            verteufelte Ähnlichkeit mit dem französischen Chauvinismus aufweist.

Wir lehnen es nicht nur aus sittlichen Gründen ab, sondern gerade aus nationalen. Ein Nationalgefühl, das keine höheren Ideale kennt, als sich in seiner Art und Stärke an dem französischen zu orientieren, müssen wir gerade aus deutschem Nationalgefühl verneinen. Wir haten es für verkehrt – wie das so oft geschieht – uns vor Augen zu halten: Seht, das ist ein nationales Volk! Wir müssen so national wie die Franzosen werden! – Nein, und abermals nein! Wir wollen dies nicht, selbst nicht um den Preis eines üppigen französischen Lebens! Wir wollen kein Nationalgefühl, das nicht nur eine Annäherung an das Tierische zeigt, nicht nur in seiner Konsequenz einer ganzen Welt schädlich ist, sondern auch zuletzt die eigene Nation in Sumpf und Asche begraben muss. Frankreichs Ende ist nahe und nicht zuletzt aus Gründen seiner Politik; es besteht ein innigerer Zusammenhang zwischen seiner Degeneration und seiner Politik als man gemeinhin annimmt.

            Einem solchen Nationalgefühl wollen wir – bewußt oder unbewußt, – nicht nacheifern. Das aber tut der Nationalsozialismus! Auch er

            veräußerlicht, verwildert, verroht

das nationale Gefühl, gestikuliert, schwätzt, schreit, kommt mit Pomp und Gewalt. Auch er stachelt die Instinkte auf, statt die nationalen Kräfte zu wecken. Auch durch ihn kommen nicht die Tugenden eines Volkes, sondern die Auswüchse und Untugenden an die Oberfläche, wie es z. B.

            Überhebung, Selbstbeweihräucherung, Maulheldentum, Gewalttaten

sind, auch er würde letztlich unseren moralischen und kulturellen und daher – denn das läßt sich nicht trennen – unseren nationalen Untergang besiegeln.

            Im Nationalsozialismus steckt keine wirkliche Kraft, er stellt sich die Erweckung des nationalen Gefühles zu äußerlich vor, er übt sich in unechter Art und äußert sich daher an falscher Stelle. Dahin läßt sich alle Kritik zusammenfassen. Daß aber keine wirkliche, dauernde Kraft in ihmsteckt, hat seine Ursache darin, daß er zwar eine nationale Erneuerung will, gleichzeitig aber auf die Vorbedingung jeder Erneuerung, nämlich auf die sittliche Selbsterneuerung grundsätzlich verzichtet. Mit diesem Vorhalt treffen wir den wundesten, faulsten Punkt im nationalsozialistischen Körper, den Kernpunkt, in dem die größte und soviel Unheil stiftende Selbsttäuschung beschlossen liegt: man glaubt, Nationalgefühl ließe sich herstellen, und man glaubt weiterhin, solches Nationalgefühl bessere die Menschen. Wie gesagt, man glaubt,

            nationales Gefühl ließe sich herstellen.

Man glaubt, es käme durch Zureden, durch Einpauken, es ließe sich aus dem Boden stampfen und von Demagogen eintrichtern. Dafür ein einziges, winziges Beispiel. Kürzlich wurde in München ein nationales Festspiel gegeben, betitelt: „Körner“. Dieses Animierstück, für das die übliche aufdringliche Reklame gemacht wurde, und das schon mit der Absicht hergestellt wurde, möglichst „national“ zu wirken, soll die schlafenden nationalen Lebensgeister unseres Volkes wecken!

            Welch eine Verblendung!

Weiß man denn nicht, daß man nicht mit Absicht deutsch und germanisch sein kann und daß, wenn man es bewußt sein will, dies ein trauriges Zeichen dafür ist, daß es bereits für immer verloren ist! Weiß man denn nicht, daß das Volk der Befreiungskriege vor hundert Jahren nur deshalb auferstehen konnte, weil es sich zuerst aus sich heraus, aus seiner gereiften physischen und psychischen Kraft verwandelt hatte. Weiß man den nicht, daß auch das Volk, damals verloren gewesen wäre, hätte es sich allein auf die Züchtung des Nationalgefühls verlegt? Hat man denn gar kein Empfinden für die damalige innere Kraft und die eigene namenlose Schäche! Hat man denn nicht einmal soviel Kraft mehr, dieser Wahrheit ins Auge zu sehen! Nein, man hat sie nicht, man glaubt, man sei schon national und voller Kraft, man hält mit einem gewissen Vergnügen Kraftmeiereien für Stärke, Äußerlichkeiten für Wesentliches, – man ist überhaupt vergnügt über sich – man sonnt sich in der berückenden Einbildung, schon national zu sein, weil man sich mit Spielereien, Mätzchen, Kleinigkeiten, –wie es z. B. die ganze Judenfrage perpektivisch gelesen, zweifellos ist – abgibt. Man taxiert die Stärke und Wahrhaftigkeit des nationalen Gefühles nach der Reklame und dem Lärmaufwand, die man damit treibt. Man weiß nicht, daß die Form, das Äußere, die Tat, das Letzte sein müssen, zu dem ein Volk gedrängt wird, und daß es für ein echtes Gefühl keineswegs genügt, wenn man eine nationale Rolle kräftig spielen kann, sondern daß es im Sinne des Vaterlandes leben heißt, alles Schlechte und Schwache, auch an sich, zuerst von Grund auf zu ändern.

            Für den Nationalsozialismus genügt es aber, um sich national zu heißen, daß man auf das Bestehende schimpfe daß man Racheschreie ausstößt; es genügt, der Wunsch nach besseren Lebensverhältnissen und das Bekenntnis zu den Nethoden des Nationalsozialismus. Es genügt, daß man zwischen sich und die Anderen einen dicken Trennungsstrich zieht und unterscheide, hier der Verbrecher dort ich der Tugendhafte, und daß man sich mit Indianergeheul ständig auf der Suche hinter dem sogenannten Schuldigen her befindet. Es spielt eine zweite oder dritte Rolle, welche persönlichen Eigenschaften es sind, die den Einen tapferer, tüchtiger, verläßlicher, das ist aber doch zugleich nationaler, als den Anderen machen. (Das heißt, wenn Jemand zufällig diese Eigenschaften haben sollte, ist er aber z. B. Jude, so ist er eben nicht national.) Für diese Tendenz des Nationalsozialismus Nationalgefühl einfach dadurch herzustellen,

daß man es anderen abspricht,

und sich rächen will, ein kleines wahllos herausgegriffenes Beispiel. In einem amtlichen Bericht hieß es: „Die Reichsregierung wird schärfsten Protest einlegen.“ Dazu bemerkt nun der „Völk. Beobachter“: „Selbstverständlich, anstatt die Cohns und Levis, die uns zum heutigen Zustand brachten, an den Strick zu hängen.“ In dieser einzigen kleinen Bemerkung stecken sämtliche Mängel der ganzen Bewegung, diese zufällige Stichprobe zeigt ganz klar die nur negative, gehässige, fruchtlose, oberflächliche politische Einstellung. Ist es möglich, daß man Äußerungen, wie diese, die eine innere Bosheit, Schwäche und Urteilslosigkeit ohnegleichen verraten, für wirklich national zu halten vermag?

(Schluß folgt.)

II.

Daß man es tatsächlich tut, ist nur durch die Verwirrtheit unserer ganzen Zeit zu erklären, einer Zeit, die Krankes vom Gesunden, Echtes vom Unechten, Starkes vom Forcierten nicht mehr unterscheiden kann. Nur in einer Zeit, in der Lärm und nichts als Lärm alles Gute und Wahre und Schöne übertost, nur in einer kranken Zeit sind

            hetzerische Demagogen als politische Führer möglich,

nur in einer Zeit des allgemeinen Theaterspielens, ist Raum für ein politisches – Kino. Nur in einer kranken Zeit, nach einem Kriege, an dem wir fast verblutet sind, ist es möglich, einen einfachen Oppositionswillen, der eine zeitgemäße Form gefunden hat, für die wiedererwachte nationale Kraft zu halten.

            Man gehe in eine Versammlung Hitlers, man sehe und schaue überall, wie die Leute „nationaler“ gemacht werden. Man höre, wie Hitler die „Anderen“ in Grund und Boden hineindonnert, und wie er dieses allen Nächstenliebenden bekanntlich angenehmste Vergnügen dadurch besonders würzt, daß er einen Witz nach dem anderen macht, was denn auch die in der Wonne der eigenen Gerechtigkeit sich badenden Spießbürger mit fortwährendem mehr oder weniger diskretem Grinsen quittieren, und man glaube dann noch, in diesem Lustspielhaus kümmere sich einer dieser Patrioten in tiefster Herzensangst wirklich um das Schicksal Deutschlands! Nein, um das Schicksal Deutschlands geht es den wenigsten dieser Zuhörer! Sie sind Nationalsozialisten aus

            Sensationsbedürfnis und aus Bequemlichkeit!

Aus Bequemlichkeit, weil es der Nationalsozialismus dem Einzelnen so leicht macht, national zu werden. Seine Zugkraft besteht darin, daß er auf Tatsachen aufmerksam macht, die einen wahren Kern haben, nämlich im Großen und Ganzen den, daß es uns heute Allen miserabel schlecht geht, was sehr leicht zu beweisen sein dürfte. Die Lösung aber, die nun für diese mißliche Lage gefunden wird, ist die leichteste, ungerechteste, die sich denken läßt. Unter Verzicht auf Untersuchung der wahren Ursachen unseres Elendes wird ein Weg gewiesen, der, ohne daß man sich mit eigener Schuld, Verantwortung und eigenem Nachdenken zu beschweren braucht, befreit, und den, weil er eben der bequemste ist, alle Schwachen und Oberflächlichen am liebsten gehen, wie denn auch die meisten Menschen in der Not den ersten besten Rettungsanker ergreifen, und sei er noch so haltlos und irreführend. Welche Methoden der Nationalsozialisten, die das Prinzip

            größtmöglicher Oberflächlichkeit und Unpädagogik

haben, hier gemeint sind, zeige folgendes – wiederum keineswegs krasse, sondern durchaus typische Beispiel. In einer der letzten Versammlungen sagte Hitler etwa:

„Früher kamen die Genien des Volkes, wie Bismarck, an die Spitze des Volkes, heute aber der Auswurf der Menschheit.“

            Man beachte nun das Washre an dieser Bemerkung, nämlich, daß wir früher zwar einen Bismarck hatten, heute aber nicht. Man beachte aber nun ferner, wie diese Tatsache durch die Umgehung jeder sachlichen und mühevollen Untersuchung der Zusammenhänge verzerrt wird und den Stempel der Persiflage erhält. Man beachte den erschreckenden Mangel an historischem Sinn und psychologischem Gefühl in dieser Bemerkung. Es ist unerhörlt, Bismarck, der doch eine Ausnahme war, zu Vergleichen heranzuziehen. Nach Bismarck kam Caprivi. Welcher Mensch aber glaubt unserem deutschen Volk wäre mit Caprivi heute besser gedient als mit Cuno? Die typische Ungerechtigkeit der oben genannten Hitlerschen Bermerkung aber besteht darin, daß man die Leute glauben machen will wenn wir geniale Führer hätten – daß man sie nicht hat, ist natürlich „Schuld der Juden“! – wäre das Paradies auf Erden, statt daß man ihnen klar macht, daß der geniale Führer nicht verhindert wird, den Platz an der Sonne einzunehmen, sondern daß wir ihn einfach nicht besitzen, und zwar deshalb nicht, weil ein Volk nur die Führer haben kann, die es verdient, das heißt, die es seiner ganzen Konstitution nach hervorbringen kann. Die typische Ungerechtigkeit ist die, daß man keine kausale Schuld, sondern nur die Einzelner, zu denen man eigene Beziehungen leugnet, anerkennen will.

            Das Nationalgefühl der Nationalsozialisten ist, davon sind wir ausgegangen, kein wirkliches und echtes, weil es hergestellt wird und will man glaubt, ein Volk könne ohne sittliche Selbsterneuerung national werden, mehr noch, weil man glaubt, wir könnten uns gestützt auf ein solches äußerliches Nationalgefühl Frankreich gegenüber durchsetzen. Es wurde eingangs schon betont daß wir in dem furchtbaren Kampfe gegen Frankreich unterliegen müssen, wenn wir nicht höhere Werte, als im französischen Nationalbewußtsein liegen, bei uns zur Entwicklung bringen können. Was wir bis jetzt vom Nationalsozialismus zu hören und zu sehen bekommen haben, zeigt niergends einen Ansatz zu dieser Entwicklung hin, zur Vertiefung und Verdeutschung des Nationalgefühles, sondern nur zu einer auf Chauvinismus hinauslaufenden

            neurasthenischen Überspannung.

Das ist für uns Deutsche gefährlicher als für Frankreich, denn es ist für uns nicht natürlich wie das Heldentum der Geste und der Mordwaffe für den Franzosen immerhin natürlich ist.

            Für uns bedeutet Nationalgefühl etwas ganz anderes. Das Vaterland lieben, heißt für uns, es mehr lieben als seine Eigenliebe, ihm helfen, beistehen, sich einordnen, und gerade dann, wenn es schwer ist und wenn es ihm schlecht geht, es unter keinen Umständen verlassen, ihm nicht in den Rücken fallen und seine mühsam errungene Einigkeit zerreißen, sondern ihm den Rücken stärken und den Wind in und nicht gegen die Fahrtrichtung blasen. Sein Vaterland lieben, heißt sogar das Schwerste opfern können, nämlich die eigene besserwissende Meinung. Man kann Deutschland heute nicht stärker lieben, als wenn jeder an seiner Stelle, und daher auch für Deutschland arbeitet, nichts als arbeitet, und wenn wir versuchen, in der Stille reif und stark zu werden, zu sein und zu schweigen, bis der Inhalt sich die Form erzwingt!

            Am meisten kann man Deutschland lieben, wenn man seine Erde liebt. Der Widerstand der Ruhrleute – das beste Beispiel für die

            tiefe Aktivität äußerlicher Passivität

– schöpft seine Kraft aus der Liebe zur Heimat. Heimatliebe ist das Wertvollste der Vaterlandsliebe, sie duldet keine Entartung des Nationalgefühles, weil sie von sich, vom Egoismus erlöst.

            Im Lager von Akkon, 1190, sang Biterolf ein Lied, das besser als all diese Worte unmittelbar empfinden läßt, was deutsche Vaterlandsliebe in ihrem tiefsten Wesen ist, und daß national sein und Mensch sein, daß Leiden und Kraft sich keineswegs ausschließen.

            „Kampfesmüd und sonnverbrannt,
            Fern an der Heiden Strand,
            Waldgrünes Thüringland,
            Denk ich an Dich.

            Feinden von allerwärts,
            Trotzt meiner Waffen Erz,
            Wider der Sehnsucht Schmerz,
            Schirmt mich kein Schild.

            Doch wie das Herz auch klagt,
            Ausharr ich unverzagt,
            Wer Gottes Fahrt gewagt,
            Trägt still sein Kreuz
.“<
                        (v. Scheffel)

            Es ist klar, wenn wir zu dieser germanischen Sehnsucht nicht mehr zurückfinden, sind wir verloren.

(P. Schlier)

 

Walter Rathenau. Zum Jahrestage seiner Ermordung am 24. Juni 1922 (1923)

In: Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung, Fränkische Freie Presse. Samstag, 23. Juni 1923, Ausgabe B, 1 (Leitartikel)

Abbildungen

 

Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung, Fränkische Freie Presse. Samstag, 23. Juni 1923, Ausgabe B, 1 (Leitartikel).
Nürnberger Anzeiger. Nürnberger Morgen-Zeitung, Fränkische Freie Presse. Samstag, 23. Juni 1923, Ausgabe B, 1 (Leitartikel).

 

Volltext

Walther Rathenau. Zum Jahrestage seiner Ermordung am 24. Juni 1922

            Wenn Hagen den Siegfried und Brutus den Cäsar meuchlings ermorden, so war das voraussehbares, unentrinnbares Schicksal. Hagen und Brutus konnten sich nur behaupten, wenn sie töteten, aber beide waren Recken und ihren Opfern gleichwertig. Der politische Mord einiger mißleiteter Knaben an Walther Rathenau jedoch, dem sie an Charakter und Fähigkeiten unendlich tief unterlegen waren und dessen Werk und Wesen sie überhaupt nicht zu begreifen imstande waren, war eine Irrsinnäußerung der Weltgeschichte, die seitdem unser Leben um einen Schatten dunkler trübte. Selten nur schien uns das Schicksal ungerechter und sinnloser zu sein, als zur Stunde, da Rathenau, der unentbehrlichste unserer Führer, sterben mußte. Auch heute, nach einem Jahre, können wir seinen Tod nur fassen als einen jener ungeheuerlichen Widersprüche des Lebens, die wir in Demut oder Empörung einfach hinnehmen müssen. Was wir an Rathenau verloren haben, wissen wir heute alle und die Tatsache, daß sofort am Tage nach seinem Tode die deutsche Reichsmark fiel und fiel, ist nur das äußerlichste Zeichen dafür, was uns sein umfassendes Wissen und seine durchgeistigte Tatkraft im letzten Jahre an Schrecknissen möglicherweise hätte ersparen können.

            Das Bild Walther Rathenaus zeigt uns einen seltsamen Menschen, wie er in jedem Menschenalter nur einmal geboren wird. Walther Rathenau war ein Mensch voll starker Widersprüche und von außerordentlich geistiger Spannweite und Vitalität. In die

            Polarität seines Wesens

eingespannt waren ebenso der Drang zur unermüdlichen Aktivität als der Hang zur theoretisierender Betrachtung. Aus dieser Gegensätzlichkeit seines Charakters heraus ist es zu verstehen und über aller bürgerlichen Begriffe von der Einheit des Menschen hinaus, unbedingt anzuerkennen, daß er sehr gut der Gründer zahlreicher Aktiengesellschaften sein konnte, gleichwohl aber der Verfasser einer Reihe wirtschaftsphilosophischer und sozialer Schriften, mit starkem lyrischen Einschlag. Er war der kühnste Idealist, der leidenschaftlichste Kämpfer für die Versittlichung, Vergeistigung und Solidarität von Staat und Gesellschaft, gleichzeitig aber unser geschicktester Realpolitiker und der organisationskräftigste unserer Wirtschaftler. Vor allem aber war er, – einer der vielseitigsten und überlegensten Köpfe der Epoche überhaupt – unser erfolgreichster, verantwortungsbewußtester und weitsichtigster Staatsmann, nicht zum wenigsten deshalb, weil er wie jeder große Politiker die innenpolitischen Gesichtspunkte stets dem größeren außenpolitischen unterzuordnen verstand.

            Seine erste große Tat nach dem Ausbruch des Krieges war die Schaffung einer Kriegs-Rohstoff-Organisation, mit deren Gründung ihn Falkenhayn im August 1914 beauftragt. Dieser Rohstoffabteilung, die den Zweck hatte, alle bis dahin dem jeweiligen Fabrikanten gehörenden Rohstoffe zu verstaatlichen und Kriegszwecken dienstbar zu machen, ist es

            allein zu verdanken,

daß die Rohstoffbeschaffung Deutschlands bis zum Ende des Krieges gesichert blieb und daß wir den Krieg nicht deshalb verlieren mußten, weil uns die Rohstoffe ausgingen. Nach dem Kriege übernahm Rathenau zunächst das schwere Amt eines Wiederaufbauministers, und traf im Zusammenhang damit am 6. Oktober 1921 das Wiesbadener Abkommen, das auf eine Lieferung von Baustoffen und Betriebseinrichtungen durch die Zwischenstelle einer deutsch-rechtlichen Organisation an französische Geschädigte abzielte. Die dreistündige ausgezeichnete Rede über Deutschlands Wirtschaftslage, die er dann am 12. Januar 1922 in Cannes hielt, hatte zur Folge, daß uns sofort ein Moratorium für die nächstfälligen Zahlungen bewilligt wurde. Außerordentlich günstig für uns war der in Genua abgeschlossene Rapallovertrag, der uns vor den Forderungen, die der Friedensvertrag Rußland zubilligte, in Zukunft sicherstellte. Die Antwort Deutschlands jedoch auf diese verheißungsvollen Bemühungen war Rathenaus Ermordung. Die

            fürchterliche Tragik dieses Todes

liegt darin, daß seine Feinde nicht begrifen konnten, was Rathenau für Deutschland leistete, während doch sein ganzes Leben und jeder seiner Gedanken nur dem Dienst an dieses Deutschland unterstellt war. Die Idee seines Wesens, zu der sich alle seine Fähigkeiten zusammenschlossen, war seine Liebe zu Deutschland. Er, der Jude,

            besaß eine geradezu verzehrende Liebe zu seinem deutschen Vaterland.

Diese Tatsache drängt sich jedem auf, der sich mit Rathenau auch nur flüchtig befaßt.

„O du Deutschland! Geliebt in deinem törichten Wahn, zehnfach geliebt in deinem gottvergessenen Irren und Laster, zehntausendfach geliebt in deinem schmachvollen Leiden“,

so schrieb er nach dem Zusammenbruch 1918. Seine Mörder aber und viele, die mit diesen gleichen Sinnes waren, glaubten ihn beseitigen zu müssen, weil er Deutschland verraten habe, weil er die Erfüllungspolitik vertrat.

            Schon lange vor 1914 sah Rathenau den scheinbar so glänzenden deutschen Himmel verdunkelt und an seinem Horizont Krieg und Untergang drohen. In seinen Schriften wandte er sich unaufhörlich gegen die Mechanisierung, Üppigkeit und Überheblichkeit der Vorkriegszeit und bangte in tiefster Herzensnot um den Verlust des besten deutschen Wesens, Einfachheit und Menschlichkeit. In den Jahren 1916 und 1917 warnte er vor demselben undeutschen Geist, der jetzt im Kriege nur eine andere Form angenommen hatte und setzte seine ganze Kraft dafür ein, um Abkehr von der Annexionspolitik und eine

            rechtzeitige Verständigung mit den Feinden

zu erreichen. „Feinde, Menschen, Brüder, höret! Es ist genug. Feinde, Brüder, es ist Zeit! Es ist sehr spät, und jede Minute tötet, und doch ist noch Zeit!“ schrieb und flehte er damals. Im Frühjahr 1917 traf er Ludendorff im Hauptquartier, – es war damals für den Unterseebootkrieg entschieden worden – bewies ihm, womit ihm ja dann später die Ereignisse nur allzurecht gaben, die Aussichtslosigkeit des Ubootkrieges u. riet dringend zum Frieden. 1918 jedoch war er es, – diese Tatsache ist wichtig, weil an ihr das Lügenhafte der Hetze gegen Rathenau besonders ersichtlich wird, der sich mit dem von der Heeresverwaltung so schleunig verlangten Waffenstillstand nicht einverstanden erklärte, sondern nationale Verteidigung, Befestigung der Rheinfestungen und

            Erhebung des Volkes

verlangte. Bei den Beratungen der Versailler Friedensbedingungen in Berlin galt ihm deren Ablehnung als Selbstverständlichkeit, denn er sah die furchtbaren Konsequenzen, wie immer, klar voraus. Als sich jedoch im Reichstag eine Mehrheit für die Unterschrift fand, von diesem Zeitpunkt an, da Deutschlands Wort verpfändet war, war es Rathenaus heiligstes Bestreben,

            Deutschlands Wort und Ehre aufrecht zu erhalten.

Eine Zentrale Einsicht in die Möglichkeiten des politisch Erreichbaren und diejenige Liebe zum Vaterland, die es nicht will, daß Deutschland wortbrüchig wird, und lieber von ihm schwerste Opfer verlangt, waren Rathenaus Beweggründe zu Erfüllungspolitik. Sie fand den Haß aller jener Leute, die, vorwiegend innerpolitisch orientiert, in ihren kleinen Gesichtskreis gebannt, der öffentlichen Meinung des Tages mit all ihren Schwankungen und Unkenntnissen unterliegend, stets die gefährlichsten Störer der Außenpolitik sind und in diesem Falle Walther Rathenaus Tod verschuldeten.

            Ein ganzes furchtbares Jahr ist seit jener Wahnsinnstat vergangen und fast ist eingetroffen, was der seherische Walther Rathenaus, der bereits 1918 den Ruin der Produktion, des Geldwertes, des Bürgertums, den äußeren und sittlichen Verfall bis ins Einzelnste voraussah, schon vor vielen Jahren wußte:

„Wer nach Jahren Deutschland betritt, das eines der blühendsten Länder der Erde war, wird niedersinken vor Scham und Trauer“.

Wir können Walther Rathenau nicht wieder lebendig machen, daß er uns aus dieser Not helfe. Wir können nur, wie er es getan, unserem Schicksal tapfer ins Auge blicken und dem Geist der Erde dienen, wie er ihm gedient hatte. Die Schuld seines Todes, an die uns seine Mörder, die nicht wußten, was sie taten, ketteten, wird erst gelöst sein, wenn wir Deutschland, dem Deutschland, das Walther Rathenau so sehr liebte, mit Einsetzung unserer ganzen Kräfte weder zum Leben und zur Freiheit verholfen haben. Vielleicht gibt uns dazu die Kraft das Wissen Rathenaus: „Wir sind nicht da, um Glück zu ernten, sondern das Gesetz zu erfüllen, das Gesetz der Wiedergeburt, der Erneuerung und Beseelung“ und sein tiefer Glaube: „Wir sind ein Geschlecht des Übergangs, ein heimgesuchtes, zum Düngen bestimmt, der Ernte nicht würdig.“

P. Sch.

 

Beruf und Mutterschaft (1926)

In: Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96

Abbildungen

 

Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96
Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96
Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96

 

Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96
Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96
Der Pflug. Hg. v. d. Wiener Urania. Wien: Krystall-Verlag 1926, 89–96

 

Volltext

Beruf und Mutterschaft

Von Paula Schlier (Innsbruck)

 Seit 1918 ist das Ziel der Emanzipationsbestrebungen der letzten Jahrhunderte erreicht, die Emanzipation geschlossen. Damit kommt die Frau von heute nicht mehr in die Lage, ihre Kraft im "Kampf zur Lösung der Fesseln", für Vorteile, für ihre Gleichberechtigung mit dem Mann, für ihre Befreiung im negativen Sinn also, zu gebrauchen, Die äußere Bewegungsfreiheit, welche die Frau der Emanzipation durch den heute schon selbstverständlichen Besitz ihrer "Rechte in Staat und Gesellschaft" zu danken hat, kann sie nun dazu nützen, die formalen Ziele der Bewegung nicht nur abzulehnen, sondern auch über sie hinauszustreben. Die Frauenbewegung, die nur äußeren Umgestaltungen dienen konnte, hört damit, obwohl sie heute noch als "organisierte Bewegung" existiert, im Grund auf zu bestehen. Alle Fragen, die sich in Zukunft aus der Lage der Frauen ergeben, werden sich den Frauenorganisationen und ihren Methoden weit deutlicher als früher entziehen. Die neue Schwierigkeit, in der sich heute die Frauen befinden, liegt in der Unsicherheit, wie sie ihre Freiheit gebrauchen sollen. Für die Frau im einzelnen jedoch könnte "Emanzipation" – in der Erkenntnis, daß es nicht genügt, wovon sie frei wird, wenn nicht deutlich wird, wozu – unter Ablehnung ihres alten Sinnes, der Vermännerung der Frau, eine besser Bedeutung erhalten: in der Besinnung der Frau auf sich selbst.

Schon heute haben die Ideale der alten Emanzipation unter der weiblichen Jugend ihre Anziehungskraft verloren. Die Frauen haben sich von der Doktrin der Gleichberechtigung abgewandt, und wenn auch zum Beispiel die Studentin ihre emanzipierte Haltung unbewußt noch nicht zu verleugnen vermag, so ist doch unter ihnen keine mehr, die es dem Manne bewußt gleichtun will. Eine große Sehnsucht, wieder Frau zu werden, hat gerade diejenige ergriffen, di sich durch ihren Beruf von ihrer Sphäre am weitesten entfernt fühlen. Sogar unter unseren Parlamentarierinnen, die im ganzen nichts an Vermännerung zu wünschen übrig lassen, und für die es ja auch zweifellos am schwersten ist, sich in ihrer Weiblichkeit zu behaupten, da ein Sitz im Parlament geradezu davon abhängig zu sein scheint, daß sich eine Frau durch nichts vom Manne unterscheide – ist dieser Wunsch zu spüren.

Die besondere Situation der Frauen von heute liegt weniger im Leben der geringen Zahl von Frauen, die durch einen ausgesprochen weiblichen Beruf oder durch ihre Ehe es leicht haben, frauenhaft zu leben, und auch nicht bei der großen, dumpfen Masse jener, die durch Gleichgültigkeit, Unselbständigkeit, Unerschlossenheit den brüchigen Tendenzen der Zeit in ihrer ganzen Lebensführung (Kleidung) verfallen sind, so daß sie, weibisch-männische Zwittergeschöpfe, gar nicht mehr den Wunsch haben, Frauen zu sein. Die Not der Frau von heute ist dort, wo sie trotz ihrer Sehnsucht zur Umkehr und Verinnerlichung nicht mehr zurück kann, weil die Entwicklung zum Manne hin ihre ganze Art in der Wirklichkeit derart gebunden und festgelegt hat, daß sie mit jedem Schritt ihres Lebens, den sie tut, anderen Mächten gehorchen muß als denen, die in ihr lebendig sind.

Der Konflikt ist dort, wo die Bestimmung der Frau und die Unmöglichkeit, dieser Bestimmung zu dienen, durch die praktische Not des Lebens am weitesten auseinandergerissen ist, liegt im Leben aller jener Frauen, die, entgegen ihrem Wunsche weder Mütter noch von mütterlicher Art sein dürfen. Die Schwierigkeit ist am Wirklichsten bei einer Frauengruppe, welche die bittersten Erfahrungen machen mußte, als es galt, mit dem Emanzipationsprogramm praktisch auszukommen, ist am unerträglichsten im Leben der Arbeiterin.

Die Arbeiterin mußte am eigenen Leibe erfahren, daß das Eindringen der Frau in das gesamte Erwerbsleben nichts von dem zur Folge hatte, was die Emanzipation von ihm erwartete, weder Erhöhung noch Stärkung der Frauenkraft, weder Gewinn für sie und die Gemeinschaft, sondern daß gerade der uneingeschränkte Besitz der Freiheit nur die Schwächung und Ausnützung der Frauenkraft zur Folge hatte. In den Spinnereifabriken Englands gab es schon Ende des 18. Jahrhunderts doppelt so viel Arbeiterinnen und Arbeiterkinder – ja auch Kinder wurden im zarten Alter zur 14ständigen Fabrikarbeit herangezogen – als Arbeiter.

Ungelernte Frauen- und Kinderarbeit fand wegen ihrer Billigkeit die meiste Verwendung; den schwächsten Geschöpfen der Erde gegenüber war man zur rücksichtslosesten Ausbeutung bereit. Die Verhältnisse in den Fabriken Englands, den französischen Industriestädten, in Berlin, Schlesien, Elsaß, im Rheinland waren geradezu grauenhaft. 16 Stunden im Tag mußten die Frauen in den Spinnfabriken halbnackt und bis zu den Knöcheln im Wasser watend, die Hände vor glühenden Öfen ins Wasser tauchen, um den Spinnfaden herauszuziehen, 16 Stunden im Tag mußten sie in dunkeln Keller sitzen, um das spinnwebartige Gewebe, das nur eine feuchtkalte Temperatur verträgt, zu verarbeiten und dies alles um einen Lohn, der die Kinder noch zum Betteln zwang (S. B. Bardenheuer über die Frauenfrage).

Augenkrankheiten, Schwindsucht, Knochenfraß der Mütter, das Siechtum der Kinder, eine ganze kranke degenerierte Nachkommenschaft waren die Folgen dieser Arbeit, der Hungerlöhne und der erdlöcherähnlichen Behausunge. Eine einzige nackte Zahl genügt, um sich dieses Grauen zu vergegenwärtigen: im Jahre 1848 starben von 21.000 Arbeiterkindern 20.700 vor dem 5. Lebensjahr! Niemand in der Welt hatte so viel zu leiden, wie die Arbeiterin, die jene Freiheit zuerst erhielt, welche der Stolz der Frauenbewegung war: die Berufsarbeit außer dem Hause. Die Führerinnen der Frauenbewegung sahen gar nicht, wie sich das Emanzipationsprogramm praktisch im Volke auswirkte. Sie verallgemeinerten Erfahrungen, die auf der einen, der bürgerlichen Stufe gemacht wurden und auf der anderen versagen mußten, und sahen, da sie selbst in der Mehrzahl der bürgerlichen Schicht entstammten, die Frage nur von ihrer günstigsten und egoistischen Seite. In der Emanzipationsbewegung war die Not der Arbeiterin gar nicht miteinbezogen, die Interessen der Arbeiterin waren nicht die eigenen, die Arbeiterin war nicht die Schwester, der man, sofern man überhaupt helfen wollte, doch in erster Linie helfen mußte, und wenn sich in diesem Verhalten auch einerseits die Einseitigkeit und Unweiblichkeit der Emanzipierten, für den anderen weder denken noch leben zu können, enthüllt, so liegt dich anderseits hierin auch eine große Schuld. (Es war ein sicher sehr häßlicher Nützlichkeitsstandpunkt, daß man bei Gründung des Bundes Deutscher Frauenvereine 1894, der seine Arbeit doch in den "Dienst des Volkswohles" zu stellen glaubte, die Arbeiterinnen von der Gründung ausschloß, nur weil man das Risiko, aus politischen Gründen verboten zu werden, nicht tragen wollte. – Alle späteren Annäherungsversuche, der bürgerlichen Frauenbewegung aber bestanden in dem hilflosen und unmenschlichen Irrtum, das Los der Arbeiterin durch literarische und ästhetische Vorträge erleichtern zu können.)

Nur einzelnen Frauen, unter ihnen Luise Otto, bemühten sich praktisch und erfolgreich um die Verbesserung der Lage der Arbeiterin. Im übrigen war sie durchaus auf die Hilfe der politischen Arbeitervereine angewiesen, und auch die Arbeiterinnenbewegung, die um 1871 entsteht – ein volles Jahrhundert hatte diese Frau ihr lichtloses Dasein stumpf ertragen – unterscheidet sich von ihnen nicht. Die Arbeiterin fühlte sich mit dem Arbeiter im Interesse gegen das kapitalistische Prinzip verbunden, wehrte sich wie er nur gegen Ausbeutung und schlechten Lohn, verlangte wie er das politische Wahlrecht, Streitrecht, und den Schutz durch die Gewerkschaften. Die bekanntesten Führerinnen der Arbeiterinnenbewegung sind Politikerinnen, deren rauhes Männlichtun darin, daß die proletarische Arbeiterinnenbewegung mit der Geschichte der Maschine verwachsen ist, durchaus verständlich erscheint. Das Jahr 1909 brachte nach langen Kämpfen endlich den zehnstündigen Arbeitstag, später dann eine Reihe von Schutzgesetzen, Sozialversicherungen, die auch den Schutz der unehelichen Mutter, der Wöchnerin und des Säuglings einschließen; es entstehen luft- und lichtreiche Arbeiterheime, die Löhne erhöhen sich, bis die Revolution 1918 durch den Normalarbeitstag und eine hinreichende Bezahlung versuchte, den Arbeiter für alle Ungerechtigkeiten der letzten Jahrhunderte zu entschädigen. Doch schon heute, kein Jahrzehnt später, ist die Lage der Arbeiterin eine gedrücktere wie vor dem Krieg, die Arbeitszeit ist erhöht, die Löhne sind bedeutend reduziert worden. Im ganzen ist zu bessern versucht worden, was durch Reformen, von außen her, überhaupt zu ändern ist; im Grunde ist es herzlich wenig, sind es "Pflästerchen". Reformen können die Wunden eines Organismus verdecken, heilen oder beseitigen können sie sie nicht, und wenn auch die Formen humaner geworden sind, das Prinzip eines grandiosen und menschentötenden Egoismus ist dasselbe geblieben.

In der äußeren Not der Arbeiterin ist ihr Leiden nur zum Teil erschöpft, und die inneren Schwierigkeiten, die ihr aus ihrem Beruf erwachsen und im Wesen der Fabrikarbeit selbst liegen, werden, unabhängig von ihrer heutigen ökonomischen relativen Besserstellung, allein durch die Tatsache demonstriert, daß von den ungefähr zehn Millionen erwerbstätigen Frauen in Deutschland sechs Millionen landwirtschaftliche und Fabrikarbeiterinnen sind, von denen ungefähr die Hälfte verheiratet ist. In Österreich zirka ein Zehntel dieser Zahlen, da auch die Einwohnerzahl ein Zehntel der deutschen ist. Die innerste Not, der empfindlichste Zwiespalt für diese Millionen Arbeiterinnen beginnt da, wo die Frauennatur in den schärfsten Gegensatz zu sich selbst durch die Maschine gebracht wird, wo ihr Leben zwei so verschiedenen Systemen angehören muß, daß es über jede Menschenkraft geht, beiden zu dienen. Ich glaube nicht, daß es irgend eine Kombination in der Welt gibt, die so unvereinbar ist wie Fabrikarbeit und Mutterschaft. Alle Arbeiten in der Fabrik sind nicht nur nach dem Quantitäsgrundmaß des Mannes eingeteilt, sondern auch der Qualität der Leistung nach kann die Frau nur nach den Maßen des Mannes, oder vielmehr nach einer Norm, welche der tote Organismus der Maschine selbst bestimmt, beschäftigt werden. Für Frauenkraft hat die Fabrik weder Sinn noch Zeit, und da, der Rentabilität wegen, meistens ungelernte Arbeiterinnen verwendet werden, bleibt die Beschäftigung, die oft nicht einmal ein Begreifen oder Fleiß erfordert, unter dem Niveau auch der Unlebendigsten. Ein Mädchen, das in der Blüte ihrer Jugend, zehn Jahre lang, an einem Hebel dreht oder Lumpen sortiert, ist unfähig zur gesunden Mutterschaft. Sie, die innerhalb ihres Berufes nicht die geringste menschliche Erhöhung erfährt und außerhalb der Arbeit keine Kraft mehr hat, zu sich zurückzufinden, ist, in der Stumpfheit und Dumpfheit, in welche sich bei solchem Leben selbst das frischeste Wesen verlieren muß, einer seelischen Verwahrlosung wie sonst kein anderer junger Mensch auf Gottes Erde preisgegeben.

Was die Arbeiterin innerlich, selbst in der verwahrlosesten Gestalt, ist, steht in einem zu krassen Gegensatz zu dem, was sie äußerlich zu tun gezwungen wird. Was dieser Kontrast bedeutet, kommt der Arbeiterin natürlich nicht zum Bewußtsein, praktisch aber spürt sie, wie sie in der unseligen Verkettung zweier Welten, die nichts miteinander zu tun haben, zerrieben wird. Sie spürt die Erschöpfung der langdauernden, fremden Arbeit und sie begreift deren Sinnlosigkeit, wie viel mehr, wenn zu Hause das Kind auf sie wartet und ohne ihre Hilfe zugrunde geht, für dessen Erhaltung sie zum Geldverdienen gezwungen ist, und das doch gerade durch dieses Geld nur in seinem dürftigsten Teil erhalten werden kann.

Der Frauenberuf aber, wie er wirklich sein soll, ist der individuellste, vielseitigste, mit allen Abstufungen feinster Hingabe an den Menschen. Selbst in die kleinsten Dinge des Hauses, die die Hände der Frau berühren, darf Liebe hineinströmen, in der Behütetheit des Hauses darf sie ihr Frauentum leben, darf sie persönlich, vielfältig, umfassend, beweglich sein und Liebe zeigen von Mensch zu Mensch. Die Ehe an und für sich ist ein Beweis für die mittelbar große Macht der Frau, die ihren Einfluß auf das Leben durch den Mann hindurch, indirekt, mit mehr Recht und Kraft zum Ausdruck bringen kann, als sie es könnte, wenn sie, nicht wie in der Ehe an einer zurückgedrängten, sondern an der exponierten Stelle des Mannes stünde. Die Ehe ist im guten und im schlimmen Sinne die ureigenste Schöpfung der Frau, und allein in ihrem und des Kindes Interesse auch entstanden. In ihr vermag die Frau dem Liebesideal zu leben, das ihrem mütterlichen Wesen am tiefsten entspricht und über alle Erotik hinausgehoben ist. Es liegt ein sehr feiner und tiefer, und gar kein philiströser Sinn darin, daß die Frau ihre Hingabe an die Dauer und Sicherheit einer unlösbaren Vereinigung bindet. Die Ehe, wenn sie auch vielen mit Recht unnatürlich scheinen mag, kann unter dem für sie wichtigsten Gesichtspunkt, daß in ihr die Erziehung des Kindes zum Menschen am glücklichsten gewährleistet ist, durch keine andere Form, weder durch die von früheren Frauenrechtlerinnen gewünschte "Zeitehe" noch durch irgend eine andere illegitime Form ersetzt werden. Die seltsame, durch das ganze Leben hindurch verbindliche Einheit zwischen der Mutter und dem Kind unter ihrem Herzen, die Liebe, die ihr Licht oder ihren Schatten schon auf das Leben des Kindes vorauswirft, bevor es noch geboren ist, kann nur von der Frau in ihrem ganzen Wunder empfunden werden, die sich, wie in der Ehe, dieser Freude hingeben kann und sich auch nach außen behütet weiß. Die Besinnung darüber sollte die Frau in ihrer neuen Haltung, die ihr Schwergewicht außerhalb des Hauses verlegen will, doch bedenklich stimmen und sie veranlassen, wo sie auch immer kann, den Beruf der Mutter dem außer dem Hause vorzuziehen.

Ihrem Sein als Mutter aber liegt ein Erlebnis zugrunde, dem sie unter allen Menschen am wirklichsten teilhaftig wird und das, wenn alle Menschen daran teil hätten, das ganze Dasein menschlicher und ehrfürchtiger gestalten würde: es ist die Erfahrung von der Gleichheit der Menschen, die durch die Frau in ihrer ganzen und sich immer gleichbleibenden Hilflosigkeit geboren werden. Diese Erfahrung kann sie in ihrem ganzen Leben dadurch zum Ausdruck bringen, daß ihr Tun ein mit dem andern gehen, mit dem andern leben wird. In der Mutterschaft liegt die Bestimmung zum Mitleiden, zur Empfängnis und zur Stille, liegt die Möglichkeit zu einer größeren und umfassenderen Liebe, als sie der Mann, seiner Bestimmung nach, verwirklichen kann – liegt, daß die Frau in die Welt gestellt ist, damit sie alle Dinge des Lebens von innen heraus überwinde. Die mütterliche Frau ist geschaffen, damit die selbstlose Liebe nie aufhöre, sie ist auch als Geliebte die Mutter, die Frau, durch die der Mann "zweimal geboren" wird. Der Mann, der, im Grunde genommen, zum Ernährer und zum Erkämpfer der Nahrung geboren wurde, ist bestimmt, daß er alle Dinge des Lebens von außen her überwinde und wenn auch in ihm die größere Menschenliebe oft wirklicher ist als in der Frau, ja selbst wenn das mütterliche Prinzip der Frau in den seltsamsten Verleugnungen und Verdunklungen, in der Wirklichkeit kaum mehr erkennbar ist, so kommt es doch darauf an, daß die Frau die Liebe als ihre stärkste Möglichkeit erkennt, und daß sie versucht, ihr durch ihr ganzes Leben näherzukommen. Die mütterliche Frau hat von vornherein die Möglichkeit, durch ihr Leben zu zeigen, daß Liebe und Tat sich nicht (wie in der rein männlichen Anschauung) widersprechen, sondern daß die Liebe selbst die größte Tat ist.

Alle Frauen haben es leichter, Mütterlichkeit in diesem Sinne zu leben, als die Arbeiterin. Einzig die Seele der Arbeiterin wird durch die Fabrik getötet und gezwungen, im tiefsten Sinne unwahr, das heißt, äußerlich anders, wie sie innerlich ist, zu sein. Weil aber nur derjenige Mensch lebt, den die Wahrheit seines Inneren auch nach außen trägt und weil, was die Arbeiterin zu leben gezwungen ist, ihr Innerstes nicht ehrt, sondern schändet, darum muß es sein, daß man ihr die Möglichkeit wiedergibt, im Hause zu bleiben, und darum ist es notwendig, daß wir anderen Frauen, wo wir können, mit aller Entschiedenheit dazu helfen, daß für den Arbeiter Mindestlöhne geschaffen werden, die es ihm ermöglichen, seine Familie zu ernähren und die Frau im Haus zu behalten. Eine andere Lösung gibt es praktisch nicht. Auf keinen Fall darf den Frauen von heute jener Vorschlag wieder nahegebracht werden, der von der Emanzipationsbewegung in einigen ihrer früheren Vertreterinnen begünstigt wurde, nämlich: das Haus und die Erziehung, unter Voraussetzung eines sozialistischen Gesellschaftswesens, der Genossenschaft zu übergeben, damit die Arbeiterin, dieses ungewollte Kind der Emanzipation, zwar ihrer Hausfrauenpflichten ledig, aber gleichzeitig in weit größerem Maß noch wie jetzt, für die Lohn- und Fronarbeit frei würde. – In allen anderen Berufen ist eine so absolute Rückkehr zur Mutterschaft wie bei der Arbeiterin nicht unbedingt zu verlangen, weil hier in dem Frauenzwiespalt, wie ein Mann im Leben stehen und doch Mutter sein zu müssen, eine Lösung doch leichter gefunden werden kann. In allen anderen Berufen ist, den Willen der Frau und ihre Wesensechtheit vorausgesetzt, eine Aussöhnung zwischen Berufung und Mutterschaft noch möglich. Zwar ist es unmöglich, den Beruf einer Kellnerin, eines Dienstboten, und weiterhin einer Telephonistin, Stenotypistin mit "weiblichen Gefühlswerten zu durchdringen", doch besteht für diese Frauen die Aussicht einer bürgerlichen Heirat, welche sie, im Gegensatz zur Arbeiterin, nur in den seltensten Fällen zwingt, den früheren Beruf wieder aufzunehmen. Die Studentin aber hat schon die Möglichkeit der Berufsauswahl nach Anlage und Neigung. Als Ärztin, Philologin, kann sie ihren verschieden prägbaren und spezialisierungsfähigen Beruf sowohl ihrem Wesen als auch in der Ehe den Arbeiten im Hause anpassen. Der Doppelberuf der verheirateten Lehrerin zum Beispiel, die Erziehung des eigenen und fremden Kindes, hat innerlich viele Berührungspunkte, und wenn sie, wie dies in letzter Zeit viel betont wurde, verschafft, so doch wesentlich in der äußeren Kraft. Selbst ein so sachlicher Beruf wie zum Beispiel der der Naturwissenschaftlerin erfordert nicht unbedingt das Opfer ihrer weiblichen Bestimmung, da die Spähre der Mutter von der der Intellektuellen getrennt und ohne tieferen Schaden zu nehmen bestehen kann. Das moderne Wirtschaftsleben vermag heute ohne die Mitarbeit der Frau gar nicht mehr zu pulsieren. Sie hat den Vorteil, ein noch frisches, unverbrauchtes Element zu bilden, eine Erfahrung, die durch die Arbeit auf den Hochschulen und besonders im Beamten- und Angestelltenwesen, dem der Krieg die letzten männlichen Energien entzogen zu haben scheint, bestätigt wir. Die Andersartigkeit der Frau bedingt eine größere Vielfalt, Beweglichkeit, Verfeinerung mancher Berufe, denn die Frau ist ein anderer Arzt, ein anderer Lehrer, ein anderer Advokat als der Mann. Im allgemeinen wird ihre Weiblichkeit innerhalb der Wissenschaft darin zum Ausdruck kommen können, daß sie sich Berufen zuwendet, die mit dem Menschen als ihrem Inhalt unmittelbar zu tun haben, wie der ärztliche, erzieherische, richterliche. So vorzügliche Leistungen sie jedoch hier im einzelnen aufzuweisen hat, es sei nur an die erste russische Mathematikerin, Sonja Kowalewska, erinnert, und so sehr vielleicht hier durch die Frau sogar ein echtes Männliches repräsentiert werden kann, so wird doch die Frau in der Wissenschaft, im Männlichen, nicht fruchtbar werden können, sondern sich mit einer indirekten Beeinflussung dieser Sphäre begnügen müssen. Ihre Unfruchtbarkeit im Abstrakten, die Unselbständigkeit ihrer Beziehung zum Gedanken und zum reflektierten, erklärenden Wort, zum Wort überhaupt, das ja allein die Schöpfung des Mannes ist (denn darin "soll er Dein Herr sein"), steht durchaus im Einklang mit ihrer Mutterschaft, deren Fruchtbarkeit an die Erde, das Sein und die Darstellung dessen gebunden ist.

Es darf behauptet werden, daß alle diejenigen Frauen, die sich von der Welt des Mannes lediglich abschließen, die nur die vier Wände des Hauses und den Wind des Lebens nicht kennen, die auf dem überkommen unlebendig beharren, in nichts wirklich weiblicher sind, als diejenigen, die sich von dem Neuen so unbedacht fortreißen ließen. Die Sache der Frau von heute ist – ein durchaus allgemeines Anliegen, da fast alle Frauen der Mittelschicht von ihm betroffen sind – zwischen beiden, dem alten Frauenideal und dem Emanzipationsideal, eine neue Haltung zu finden, durch welche die Frau sowohl der Wirklichkeit ihres Lebens gerecht, als sich selbst in ihrem eigenen Wesen immer mehr erkennbar wird. Diese "neue Emanzipation" würde nicht mehr die äußere Unabhängigkeit vom Mann, sondern die vom Zeitgeist, welcher die eigene Unfreiheit gefangen hält, anzustreben haben. Eine Welt für sich zu gestalten, hat die Frau weder die Macht noch die Idee. Sie hat aber die Macht, daß die von ihrer Kraft bewegten Lebenskreise von ihrer Frauenart nicht unbeeinflußt bleiben können und dürfen. Der einzige Sinn, den "Emanzipation", sofern sie mehr bedeuten soll als eine lächerliche Äußerlichkeit, haben kann, kann doch nur der sein, daß die Frau, obwohl inmitten der Welt des Mannes lebend und abhängig von ihr, ihre Eigenart doch so bewußt herausbildet, daß ihr Leben Grund und Bestand in sich selbst erhält, in sich selbst bewegt ist. Nur in diesem Sinne kann heute für alle Frauen ohne Unterschied die Umkehr zur Mutterschaft verstanden werden. – Mit Unvoreingenommenheit in das öffentliche Leben hineinzugehen, ist für die Frau am schwersten, aber auch am dringendsten in den Gebieten, die schon einer gewissen tödlichen Starre im Männlichen verfallen sind, wie zum Beispiel die Politik, die aber doch anderseits so sehr in das persönliche Leben jedes einzelnen eingreift, daß selbst die zurückgezogenst lebende Frau heute nichts mehr tun kann, nicht erziehen, nicht wirtschaften, ja nicht einmal einkaufen, ohne den Zusammenhang mit ihr zu spüren. Die Politikerin, die heute in der Sozial-, Kultur- und Wirtschaftspolitik nicht zu entbehren ist, könnte ihre besondere Aufgabe darin sehen, zwischen der abstrakten Politik der in Formen erstarrten Parteipolitik und dem Leben der Menschen die notwendigen Brücken zu schlagen und zu versuchen, die Politik, diesen unversöhnlichsten Verkehr zwischen den Menschen, wieder wahrhaftiger und persönlicher zu gestalten. Wenn es auch paradox erscheint, so ist es doch wahr, daß die Parlamentarierin an erster Stelle Frau zu sein hat. Die Haltung der Frau innerhalb der Politik kann nur eine unpolitische sein; darin liegt aber weiter geschlossen, daß es der politischen Frau stets gegenwärtig sei, wie fragwürdig, trotz ihrer Anstrengung Unweiblichkeiten zu vermeiden, ihr Tun ist, und zwar allein deshalb, weil alle menschlich ernsten Angelegenheiten, sowie sie an öffentlicher Stelle zur Sprache kommen (obwohl dies nicht zu umgehen ist, weil heute die verschiedensten Menschen von einer gemeinsamen Not betroffen sind, wie zum Beispiel der Arbeiter, der Kriegsbeschädigte, die Prostituierte) ihre Schamhaftigkeit und ihren Ernst verlieren, der nur zwischen Mensch und Mensch ausgetragen werden kann. Ich glaube, daß allein schon ein Gefühl für die Grenzen und Unzulänglichkeiten der Politik der Frau in diesem Beruf eine innere Aufrichtigkeit ermöglicht, welche notwendig ist, um sich ihr Persönliches bewahren und auch fremdes Persönliches vor den Übergriffen der Politik schützen zu können.

Alle menschlich großen Leistungen auch der männlichsten Frauenrechtlerinnen, es sei nur Olympe de Gouges genannt, sind stets außerhalb ihrer öffentlichen Tätigkeit und losgelöst von ihrer Eigenschaft als Emanzipierte geschehen. Nirgends besteht ein so starker Wesensgegensatz wie zwischen der barmherzigen und der emanzipierten Frau, und diese Tatsache allein demaskiert die "Frauen"bewegung in ihrer ganzen inneren Leere und Verirrung. Unabhängig von der Schärfe ihres Verstandes lagen im Wirken von Mensch zu Mensch von jeher die ursprünglichsten Kräfte der Frau, hier blieb sie sich von Anfang an echt und gleich, hier kam sie gar nicht in Versuchung, männlich zu werten, da ihr die soziale Sphäre vom Manne völlig als ihr eigentliches Gebiet eingeräumt ist. Der durchschnittliche Mann als sozialer Helfer ist schwer denkbar. Der große christliche Mensch aber scheint sich mit den Müttern des Volkes auf dem Empfängnisgrunde einer der Selbsthingabe fähigen Liebe zu berühren.

Überall, wo es der Frau versagt ist, im körperlichen Sinne Mutter zu sein, kann Mütterlichkeit in einer sozialen Arbeit am reinsten verwirklicht werden. Die ausgedehnte und tiefverzweigte öffentliche Fürsorge (Säuglings-, Tuberkulose-, Armen-, Fabrik-, usw.) und die Krankenhäuser der Großstadt verlangen heute die Frau in allen ihren Anlagen und weiblichen Möglichkeiten. Daß Mitleid allein jedoch, welches bloßer "Wohltätigkeit" entspricht, immer über die Kraft des einzelnen geht oder immer unter seiner Kraft bleibt, ist vielen jungen Frauen in diesen Berufen heute tief bewußt. Es gibt heute manche Frauen, die sich der persönlichen Not, in welcher sie ihre Arbeit durch die Erkenntnis stürzt, daß in diesem Meer von Elend von außen her, durch Wohltun, nichts geholfen werden kann, nicht anders mehr entziehen können, als daß sie mit dem Armen leben und sein Los freiwillig mit ihm teilen. Der Unterschied zwischen einer Bettina, die so mitleidend stark war, daß sie sich nicht scheute, Pestkranke zu pflegen, und einer Lillian Wald, der außerordentlichen amerikanischen Helferin, die als junges Mädchen, aus dem Bedürfnis nach einem Ventil für ihren Tatendrank, im dunkelsten Ostteil New Yorks untertauchte, hier freiwillig mit dem niedersten Volk in der schrecklichsten Verelendung lebte, und nach 20 Jahren aus einer solchen privaten Pflegetätigkeit die größte soziale Institution Amerikas geschaffen hatte, deren Ressorts, über ganz Amerika verbreitet, unzählige Krankenhäuser, Schulhäuser, hygienische Anstalten, ja ganz neue Stadtteile umfassen – zwischen dieser Frau und Bettina ist kein Unterschied in ihrer Kraft zur Menschenliebe. Wohl aber sind die Leistungen der Amerikanerin ein einsichtiges Beispiel dafür, daß nicht nur ein reines weibliches Leben abseits des Ganzen, sondern auch die Darstellung, die Gestaltung des Weiblichen in der Welt möglich ist, wenn eine Frau das naive Wissen um die Gesetze ihres Frauentums in ein volles Bewußtsein und in die Tat umzusetzen die Kraft hat, in ein Bewußtsein, das nicht ein Zeichen verlorengegangener (wie bei den Menschen der heutigen Großstadt), sondern wiedergefundener Ursprünglichkeit: ein bewußtes Sein ist.

In der Sublimierung ihres sinnlichen Seins zu einem Bewußtsein liegt für die mütterliche Frau die Möglichkeit, das dunkle Eigene ihres Wesens – das nie durch ein Wissen des Mannes von der Frau vermittelt werden und nicht in der Wahrheit des Gedankens "das ist sie, was er von ihr singt, und singt er nicht, so ist sie nicht gewesen", erschöpft sein kann, – zu reiner Erscheinung und Darstellung zu bringen.

 

Zwei Träume: Der Flug ins Ungewisse (1928) / Die Pilger (1928)

In: Die Literarische Welt, 6.1.1928, 4

Abbildungen

 

Die Literarische Welt, 6.1.1928, 4
Die Literarische Welt, 6.1.1928, 4

 

Volltext

Zwei Träume
von Paula Schlier

DER FLUG INS UNGEWISSE
Ganz folgend der inneren Stimme meines Gewissens, verließ ich eines Tages die Festung meiner Jugend, in der ich gefangen gehalten war. Sie hatte rote Mauern, und zum lebendigen Zeichen ihrer dunklen Geschichte bewachte sie feindliches Militär, die französische Armee. Oft standen die Offiziere blinden Sinnes, ein Lauern, ein Lauschen, auf den Wällen der Festung, in den Ausgucklöchern, und musterten mit Ferngläsern den leeren Horizont. Das Leben der ganzen Stadt stand unter dem Zeichen dieser Bewachung und konnte sich nicht entfalten. Kein Bürger war auf der Straße zu sehen, kein Kind spielte. Niemand weiß, was aus den Menschen dieser Stadt innerlich geworden ist. Äußerlich war ihr Leben ein einziges Verstecken vor dem Feinde, ein Ausweichen vor der Gefahr, ein Ducken vor der Knute. Die Uniform war ihre Autorität, das Gehorsamszeichen, dem sie bunt folgten. Wie in den unterirdischen Kanälen von Paris zu Zeiten der Revolution das äußere, so vollzog sich in dieser Kleinstadt das innere Leben. Ich allein glaubte, dort zu leben, und nicht leben zu können. Mein Herz war ganz allein. Ich hatte keinen Freund, nicht Führer, nicht Berater, und kannte nichts als jenes ständige, dauernde, bohrende, mich nie verlassende Gefühl der Sehnsucht, das alle Grade der Unfreiheit bis zur Empörung durchmaß. Der einsame Mensch greift zu Listen. Eines Tages beschloß ich zu fliehen. Ich vermeinte, die Bewachung dieser Stadt irrezuführen, indem ich vor ihren Augen in den Straßen promenierte, um ihnen zu beweisen, daß ich gegenwärtig sei gleich allen anderen und mich ihrem Schicksal füge. Heimlich pochte mein Herz, und der Gedanke der Flucht war wie ein feuriges Brandmal. Ich steckte meinen Paß zu mir, sonst nichts. Als zu Mittag geblasen wurde und die Wache ihre Posten verließ, stieg ich auf die Zinnen der Festungsmauern und entfloh, entflog, ich flog. Was heißt fliegen? Die Schwingen, die ich hatte, waren keine leichten, und nicht solche der Phantasie. Die Schwingen, die ich hatte, tropften von dunkler Farbe, sie hingen mir schwer herab, und größer als ihr Auftrieb, ihr natürlicher, war mein heißer Wille, sie gebrauchen zu können, ohne jemals das Fliegen erlernt zu haben. Ich flog nicht, wie ein Vogel fliegt, in Freiheit gegen den Äther, ich sah gar nicht den Himmel, sondern unter mir, ganz nahe unter mir, das große, rätselhafte, schwangere Land, mit seinen breiten Flächen, dunklen Mienen. Der Wald war schwarz und rauschend, wie vor dem Sturm, dem Zusammensturz, die Felder waren braun und unheilvoll, und durch dies ungrüne Gebiet zog sich grün, schaumig, in unendlichen Wellen die lange Donau. Zum erstenmal im Leben hatte ich die Wahl der Wege. Ich orientierte mich nur nach den großen Gesichtspunkten, in Frage stand Süden, Norden oder Osten. Ich wählte Süden, das Land südlich der Donau, Ungarn. Was war Ungarn? Das Land der dunklen Triebe, in die mich meine dunklen zogen. Ich sah nicht zurück, ich eilte dahin, unsicher wie eine zitternde Kompaßnadel, und doch sicher, gebunden wie sie. Im Rücken spürte ich die Angst, die Angst vor den Verfolgern, die Angst, sie holten mich zurück, sie setzten mich wieder gefangen, doch vor den Augen lag das neue Ziel, das keines war, das Erlebnis, das Abenteuer, das keines war, aber heller als die Augen arbeitete der Verstand, der die Abenteuer und die Möglichkeiten erwog, die Möglichkeiten der Verkleidungen, des Versteckens in der Waldhütte, des Täu-schens der Verfolger und aller Begegnenden, Fragenden; ja, ich scheute nicht, eine Frau, die nicht fliegen konnte, dagegen mich selbst im Fliegen hinderte, an meinem Gewand zupfte, zur Erde deutete, eine verfängliche Versucherin, über den Wellen der Donau ins Wasser, in den Tod zu stoßen, weil das, auch ohne mich, ihr Schicksal war, wie ich finster dachte. So dunkel wie die Landschaft war, so finster war mein Herz und seine Triebe. Ich wußte noch nicht, was ich wollte, ich wußte nur, daß ich wollte. Kein lichtes Ziel stand vor dem Auge, kein Paradies, und kein Engel davor. Mein ganzes Wesen war erfüllt von Dumpfheit, Drang und Dunkelheit, und im Herzen fühlte ich den Tod. Über all dem stand die unbegründete Sehnsucht, daß mir die Schwingen wachsen, daß ich höher fliegen könne mit der Zeit. Doch weiter und lange zog ich meine Rabenflüge.

*

DIE PILGER

Zwischen Berg und Tal schritt barhäuptig, nackten Fußes, mit zerrissener Kleidung und Pilgerstab eine Gruppe Wanderer. Sie stiegen vom Inneren des Gebirges, aus rauschenden Schluchten heraus, von den weißen Hochgebirgsfelsen herab zur grünen Talsole, die sie entlangzogen, ohne an ihr Ende zu kommen, ohne den Ausgang auch nur zu wünschen. Über ihnen wölbte sich ein vollkommen blauer Himmel, aus dem heraus es leise und weiß schneite. Die Wanderer waren weder müde noch hungrig, weder stolz noch demütig, sie schienen nichts zu wünschen, zu hoffen, nichts ändern und nichts erreichen zu wollen, sie schritten nicht gesenkten Hauptes und auch nicht erhobenen — nur manchmal suchte ein klares Auge seinen Spiegel im blauen Himmel, eine warme Wange bot sich der zergehenden Schneeflocke —, es waren Wanderer ohne Heimweh, Pilger ohne Ende, Wanderer hinter dem Tor, sie waren die ärmsten und reichsten zugleich in dieser Welt, es waren die barmherzigen Samariter. Keiner unterschied sich vom anderen, und sie sprachen wenig untereinander. Es waren die ewigen Juden, die rastlos über die Erde wanderten, doch nicht aus Ruhelosigkeit, weil sie verworfen worden waren, nicht um ihrer selbst willen, aus eigenem Leid und Schicksal, sondern aus der Unruhe der ganzen Welt heraus, die sich in sie geschlagen hatte, die zutiefst in sie eingedrungen war, so tief, daß es daher kam, daß sie weder Hunger noch Müdigkeit zu kennen schienen, obwohl sie, die ärmlichen, zerrissenen, sicherlich gleich anderen Menschen Hunger und Müdigkeit spürten. Sie trugen das Leid der Welt, und sie trugen es im wahren Sinn. Sie trugen es, ohne es zu verdeutlichen, ohne es zu zeigen, aber auch ohne unter ihm zusammenzubrechen. Sie waren die barmherzigen Samariter, die das Leid nicht überwunden hatten, nein, das nicht, nicht deshalb suchte zuweilen ein blaues Auge seinen Spiegel im Himmel, sondern, die es auf sich genommen hatten, es trugen, trugen und wanderten in Ewigkeit, still und gefaßt, ohne Zeichen einer Demut, die sich erhebt und sich auch wieder sinken läßt, ohne Zeichen einer Ergebenheit, die Stolz ist. Das Zeichen, unter dem diese Pilger zogen, das war das Elend der Welt, das so groß war, daß es die, welche es trugen, in allem auslöschte, was sie waren: Im Hohen und im Niederen, im Glauben, der sich meint, im Mitleid, das sich meint. Es waren ewige Juden, doch in sich verwandelte, ausgelöschte; das höchste Leid und das höchste Mitleid ist gleichbedeutend mit der höchsten Unpersönlichkeit.
Wo kamen sie her? Wo schritten sie hin? Am Wege trafen sie einen Wanderer, der ärmer war als sie, der erschlagen am Wege lag, neben seinem Reittier, einem Esel, der jammerte. Sie hoben ihn auf, aus einer Kopfwunde floß Blut, und zwei der letzten im Zuge gehenden Samariter nahmen sein Haupt, betteten seine Füße in ihre Hände, und so schritten sie aus, eine lebendige Bahre. Der Verwundete öffnete weit seinen Mund, ohne etwas sagen zu können. "Er ist stumm" sagten die einen Samariter, „er ist hungrig" sagten die anderen. Im selben Augenblick, da der Mann so weit seinen Mund geöffnet hatte, einen großen traurigen Mund, hörte der große, blaue, gerundete Himmel zu schneien auf. Die Pilger bemerkten es und sahen zur Höhe. Das Schneien war wie eine frohe, frucht-bare Bewegung gewesen, aus einer Fülle heraus. Der Himmel, nun plötzlich leer, sah aus, als sei er der riesige, weit offene Mund der Erde, der nun ver-stummt, verstummt war vor einem sich öffnenden hungrigen Menschenmund. „Flößen wir ihm Wasser ein oder ein wenig Kaffee!" riefen die Samariter. Sie taten es. „Er kann nicht schlucken, denn er ist ja stumm!" riefen sie aus. kamen zu einem Brunnen, und sie fütter-ten den Menschen abwechselnd mit Wasser und mit Brot wie einen hungrigen Vogel. „Er kann nicht schlucken, er hält alles in seinem Mund", riefen sie aus, als sie sahen, daß sich die Mund-höhle des Mannes mit Nahrung füllte, ohne daß er die Kraft hatte, sie zu schlucken, ohne daß sie ihm noch half. Nun hatte er Nahrung, und sie half ihn nichts mehr! Da bewegte der Mensch seine Lippen, und stockend, leise sagte er, daß er danke. Wie freuten sich da die Samariter! „Er ist nicht stumm," riefen sie aus, ,,die Stummheit ist gebrochen!" Wie seltsam waren die Samariter! Wenn ein Mensch stumm war, so hielten ihn für hungrig, und wenn er hungrig war, so glaubten sie, die Stummheit sei die Ursache seines Hungers!

 

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